Seit 1995 wird ein möglicher Nato-Beitritt Finnlands diskutiert. Nun könnte das Land schon im Mai einen Antrag auf Mitgliedschaft stellen. Finnland ist bestens darauf vorbereitet – und profitieren würden beide Seiten, meint Minna Ålander.
Der Angriff Russlands auf die Ukraine hat Finnlands sicherheitspolitisches Kalkül verändert. Nach dem Ende des Kalten Krieges war es für die finnische Außen- und Sicherheitspolitik essentiell, zwei Prinzipien aufrechtzuerhalten: gute Beziehungen zu Russland bei gleichzeitig starker Landesverteidigung. Das Land wollte mit Blick auf den östlichen Nachbarn für alle Eventualitäten vorbereitet sein. Schon seit der Krim-Annexion 2014 hat Finnland verschiedene Formate der Verteidigungskooperation zunehmend verstärkt: bilateral in immer engerer Zusammenarbeit mit Schweden und den USA, trilateral mit Norwegen und Schweden sowie durch Weiterentwicklung der nordischen Verteidigungszusammenarbeit. Finnland und Schweden sind bereits »Enhanced Opportunity Partners« der Nato, also Partner mit erweiterten Möglichkeiten der Zusammenarbeit. Beide Länder haben eine hohe Interoperabilität mit Nato-Strukturen, die bei einem Beitritt eine nahezu sofortige operationelle Bereitschaft ermöglichen würde.
Bereits seit Finnlands EU-Beitritt 1995 wird auch eine mögliche Nato-Mitgliedschaft diskutiert. Bis Februar 2022 stagnierte die Unterstützung in der Bevölkerung jedoch bei etwa 20 Prozent. Nur zwei Parteien im finnischen Parlament unterstützten eine Mitgliedschaft: die Nationale Sammlungspartei und die Schwedische Volkspartei (die Partei der schwedischsprachigen Minderheit). So blieb die für Finnland eigentümliche »Nato-Option« die offizielle Linie: Das Land sah zwar keinen Bedarf für eine volle Mitgliedschaft. Es wollte sich aber die Option offen halten, bei veränderter Sicherheitslage beizutreten. Seit Februar haben weitere vier Parteien, darunter die Regierungspartei Grünen, ihre Zustimmung zum Beitritt bekanntgegeben. Auch Umfragen verzeichnen inzwischen eine mehr als 60-prozentige Zustimmung in der Bevölkerung.
Am 20. April begann die parlamentarische Debatte über den am 13. April veröffentlichten Regierungsbericht über die veränderte Sicherheitslage – auch »Nato-Bericht« genannt. Die Zentrumspartei und die Sozialdemokratische Partei – beide aktuell in der Regierungskoalition – haben zwar weiterhin keine offizielle Parteilinie. Allerdings haben sich ihre Vertreterinnen und Vertreter in sehr deutlichen Worten für einen Nato-Beitritt ausgesprochen. Selbst das Linksbündnis, das sich am schwersten mit der Nato-Mitgliedschaft tut, ist nicht einheitlich dagegen. Allein mit den Abgeordneten, die bereits ihre Zustimmung signalisiert haben, hätte der Nato-Beitritt Finnlands eine parlamentarische Mehrheit. Als nächstes erfolgt die Beratung in den zuständigen Ausschüssen.
Weil es angesichts der dynamischen Situation kein Referendum geben wird, ist ein höchstmöglicher parlamentarischer Konsens wichtig – aber nicht ausschlaggebend. Letztendlich kann der Präsident zusammen mit der Regierung den Beitrittsprozess unabhängig vom Stand des parlamentarischen Prozesses initiieren. Premierministerin Sanna Marin sagte zu Beginn der Debatte, dass jetzt die Zeit für Entscheidungen sei. Eine Empfehlung der Regierung an den Präsidenten, den Beitrittsprozess zu initiieren, ist demnach schon im Mai zu erwarten.
Der wichtigste Grund für den finnischen Wunsch, die »Nato-Option« gerade jetzt einzulösen, liegt auf der Hand: Auf Russland als Nachbarn ist kein Verlass mehr. Somit entfällt ein zentrales Argument, das Finnland bisher von einer Nato-Mitgliedschaft abgehalten hat: Rücksicht auf gute Beziehungen zu Russland. Ein weiterer Aspekt, der die Mitgliedschaft in Finnland unbeliebt machte, war Anfang der 2000er Jahre die Beteiligung der Nato bzw. Nato-Länder an umstrittenen Kriegen in Afghanistan und im Irak. Angesichts der Bedrohung der europäischen Sicherheitsordnung durch Russland kehrt die Nato aber zurück zu ihrer ursprünglichen Funktion als Verteidigungsbündnis, was durchaus im finnischen Interesse ist. Finnland ist sich außerdem bewusst, dass es die Sicherheitsgarantie durch den als Bündnisfall bekannten Artikel 5 nur als Mitglied hat. Es ist aus finnischer Sicht sinnvoll, die bereits bestehende enge Partnerschaft zu einer vollen Mitgliedschaft aufzuwerten, und so Einfluss auf die eigene nationale Sicherheit betreffenden Entscheidungen haben zu können. Zudem wird der Nato-Beitritt als Vervollständigung der Westintegration Finnlands gesehen.
Obwohl Finnland nur 5,5 Millionen Einwohner hat, sind seine Streitkräfte im europäischen Vergleich überdurchschnittlich. Diese erreichen im Kriegsfall eine Truppenstärke von 280 000 und die gesamte Reservestärke beträgt bis zu 870 000. Denn Finnland hat im Gegensatz zu vielen EU- und Nato-Ländern die Wehrpflicht nie abgeschafft. Zudem werden die finnischen Streitkräfte modern ausgerüstet: Zuletzt beschloss die Regierung im Dezember 2021, 64 US-amerikanische F-35-Kampfflugzeuge zu kaufen, die auch in Deutschland eingeführt werden sollen. Zur Landesverteidigung gehört zudem das »Comprehensive Security«-Konzept, ein Kooperationsmodell zur Gefahrenabwehr, das auch die Zivilbevölkerung und die Wirtschaft umfasst. Finnland erfüllte bereits vor Russlands Angriffskrieg nahezu das Zwei-Prozent-Verteidigungsausgabenziel der Nato und hat seither weitere substanzielle Erhöhungen des Verteidigungsetats angekündigt.
Finnland ist also bestens darauf vorbereitet, die 1343 km lange Grenze zu Russland zu verteidigen und die nach dem Nato-Beitrittsantrag mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwartenden vor allem hybriden russischen Angriffe abzuwehren. Als Nato-Mitglied würde Finnland die regionale Verteidigung der Nordflanke wesentlich stärken und eine zentrale Rolle in der Verteidigung des gesamten Ostseeraums inklusive des Baltikums einnehmen. Im Optimalfall stellen Finnland und Schweden gemeinsam den Beitrittsantrag. Die nationalen Entscheidungen werden jedoch unabhängig voneinander getroffen. Durch die Nato-Mitgliedschaft Finnlands und Schwedens gewinnen beide Seiten: Die neuen Mitgliedstaaten erhalten die zusätzliche Versicherung der Nato-Sicherheitsgarantie und die Nato erhebliche zusätzliche Kapazität in der nördlichen Dimension der Allianz.
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Angesichts der russischen Kriegspolitik rücken Finnland und Schweden näher an die Nato
doi:10.18449/2022A19
Moskau fordert Rücksicht auf seine Sicherheitsinteressen, aber Helsinki und Stockholm erinnern an ihre freie Bündniswahl. Die Drohpolitik ist kontraproduktiv. Der Westen sollte das Momentum für neue Initiativen nutzen, meint Michael Paul.