Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine basiert nicht auf legitimen und nachvollziehbaren Sicherheitsinteressen, sondern ist eine Absage an die Sicherheitsordnung Europas. Dies hat Präsident Putin in seiner Fernsehansprache vom 21. Februar, die den Angriff einleitete, klargestellt. Finnland und Schweden hatten schon davor an die KSZE-Schlussakte von 1975 erinnert, auf die sich Russland als Nachfolgestaat der Sowjetunion verpflichtet hat. Demnach ist die souveräne Gleichheit der Unterzeichnerstaaten zu achten – und damit auch ihr Recht auf die eigene, freie Bündniswahl. Die militärische Aggression Moskaus drängt Helsinki und Stockholm nicht nur in einem noch nie dagewesenen Ausmaß näher an die Nato, sondern macht zudem die Einhegung russischer Macht wieder dringlich, was auch die Stabilität im hohen Norden tangieren wird.
Der russische Überfall hat Konsequenzen über die Ukraine hinaus. Bereits in den vorangegangenen Eskalationsstufen waren Auswirkungen im Ostseeraum und im hohen Norden festzustellen, und langfristig werden damit auch Implikationen in der Arktis verbunden sein. Neben dem Baltikum sind Finnland und Schweden als nordische EU-Mitgliedstaaten direkt von der verschlechterten Sicherheitslage in Europa und um die Ostsee betroffen. Noch sind beide Länder nicht Mitglied der Nato. In Helsinki ist die »Nato-Option« aber fester Bestandteil der Sicherheitspolitik, und nach einer aktuellen Umfrage spricht sich erstmals eine Mehrheit der Finnen für einen Beitritt aus. Das schwedische Parlament hat schon im Dezember 2020 mit großer Mehrheit für einen künftigen Beitritt des Landes zum Bündnis gestimmt.
Am 24. Dezember 2021 informierte die Presseabteilung des russischen Außenministeriums darüber, dass die Forderung von Präsident Wladimir Putin, auf eine künftige Erweiterung der Nato zu verzichten, auch Finnland und Schweden betreffe. Der russische Außenminister Sergei Lawrow nahm zwar später die Forderung im Hinblick auf die beiden nordischen Länder zurück und versicherte, Moskau respektiere deren Souveränität. Im selben Atemzug betonte er jedoch, dass die Neutralität Finnlands und Schwedens ein essentieller Teil der europäischen Sicherheitsordnung sei. Am 25. Februar warnte die Pressesprecherin des Kremls, Marija Sacharowa, in einem Tweet, dass ein Nato-Beitritt Finnlands »ernsthafte militärische und politische Folgen« hätte.
Spannungen im Ostseeraum
Militärische Machtdemonstrationen sind inzwischen »ein fest etabliertes Mittel russischer Zwangsdiplomatie« geworden. Daher überraschte nicht, dass Moskaus Forderungen – parallel zum Truppenaufmarsch an der ukrainischen Grenze – verstärkte russische Aktivitäten auch in der Ostsee folgten. Im Januar waren drei russische Landungsschiffe der Nordflotte aus Murmansk in den Stützpunkt der Baltischen Flotte in der russischen Exklave Kaliningrad eingelaufen. Schweden erhöhte daraufhin die Verteidigungsbereitschaft und ließ demonstrativ Panzer auf der Insel Gotland patrouillieren, die nur 330 Kilometer von Kaliningrad entfernt liegt und als primäres russisches Angriffsziel im Kriegsfall gilt. Mitte Januar verließen die Landungsschiffe der Nordflotte zwar zusammen mit drei weiteren Landungsschiffen den Stützpunkt der Baltischen Flotte in Richtung Schwarzes Meer. Gleichzeitig wurden jedoch verdächtige Flüge von Drohnen über drei schwedischen Atomkraftwerken bekannt. Am 17. Januar 2022 nahm darüber hinaus ein russisches Frachtflugzeug, das von Moskau nach Leipzig unterwegs war, einen großen Umweg über halb Finnland. Dabei überflog es zwei wichtige finnische Militärstandorte, darunter das Hauptquartier der Luftwaffe und Teile des Militärgeheimdienstes in Tikkakoski sowie den Militärflughafen von Halli in Jämsä.
Solche Vorgänge finden in Deutschland wenig Aufmerksamkeit, weil die Ostseeregion in der Regel als wirtschaftlicher Raum wahrgenommen wird. In Nordeuropa steht die strategische Bedeutung der Region hingegen im Fokus der Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Im neuen Verteidigungsbericht Finnlands von September 2021 wird etwa festgestellt, dass sich Spannungen im internationalen Sicherheitsumfeld als gestiegene militärische Aktivitäten in der Ostseeregion widerspiegeln.
Finnlands geopolitischer Spielraum
Mit etwa 5,5 Millionen Einwohnern auf einer Fläche fast so groß wie Deutschland gehört Finnland zu den am dünnsten besiedelten Ländern Europas. Es teilt eine 1 343 Kilometer lange Grenze mit Russland und ist abhängig vom Außenhandel über See. Sein geopolitischer Spielraum wird von stabilen Beziehungen zu Moskau ebenso wie von der gesamteuropäischen Stabilität bestimmt. Finnland war deshalb maßgeblich an Übereinkommen zur europäischen Sicherheit und Zusammenarbeit beteiligt. Im August 1975 wurde die KSZE-Schlussakte in Helsinki unterschrieben.
Aufgrund seiner geopolitischen Lage in direkter Nachbarschaft Russlands hat Finnland im Gegensatz zu vielen westeuropäischen EU- und Nato-Mitgliedstaaten die allgemeine Wehrpflicht nie abgeschafft und setzt auf eine starke Landesverteidigung. Die Streitkräfte des Landes können im Kriegsfall eine Truppenstärke von 280 000 erreichen. Außerdem erhalten sie eine moderne Bewaffnung. Im Dezember 2021 beschloss die finnische Regierung, 64 Kampfflugzeuge des Typs F-35A Lightning II vom US-Hersteller Lockheed Martin zu kaufen. Die Anschaffung garantiert eine hohe Interoperabilität mit Nato-Staaten und wurde deshalb in russischen Medien als »unfreundliche Aktion gegenüber Russland« bewertet.
Außenpolitisch waren Finnlands Prioritäten bereits nach einem Strategiepapier des Außenministeriums von 2018, das für die Jahre bis 2022 gelten sollte, von der verschlechterten Sicherheitslage in Europa gekennzeichnet. Die seit 2014 erhöhte militärische Präsenz Russlands in finnischen Nachbargebieten erfordere sowohl eine entschlossene Antwort als auch die Aufrechterhaltung eines regelmäßigen Dialogs. Im neuen Verteidigungsbericht der Regierung
von September 2021 verschiebt sich der traditionell auf den Ostseeraum gerichtete Fokus zugunsten einer erweiterten räumlichen Perspektive, die die Arktis und den nördlichen Atlantik als einen sicherheitspolitischen Raum erfasst.
Die veränderten Rahmenbedingungen im Umfeld haben so zur stärkeren Zusammenarbeit zwischen den nordischen Ländern, insbesondere Finnland und Schweden, und im transatlantischen Verhältnis geführt. Schweden ist Finnlands wichtigster Partner, der dem Land im Konfliktfall strategische Tiefe verschafft. Umgekehrt ist die Verteidigungskooperation mit Helsinki für Stockholm sehr wichtig, da Schweden aufgrund seiner militärischen Abrüstung seit Anfang der 2000er Jahre selbst nicht über ausreichende Kapazitäten verfügt. Die Präsenz und die Aktivitäten der Nato im Ostseeraum haben aus finnischer Sicht eine stabilisierende Wirkung. Dementsprechend sucht Helsinki die enge Zusammenarbeit mit der Nato, speziell bei der Luftverteidigung. Dem diente im Juni 2021 das multinationale Manöver »Arctic Challenge 2021«. Dazu hatten Finnen und Schweden sieben Nato-Staaten eingeladen, darunter Deutschland.
Aus finnischer Sicht verhalten sich EU, Nato und Nordische Kooperation komplementär zueinander, so dass ein Beitritt zur Allianz bislang nicht erforderlich schien. Wenn überhaupt, dann sollte er idealiter zusammen mit Schweden koordiniert erfolgen. Ein Alleingang Schwedens könnte die Nato-Option für Helsinki verwässern, weil Finnland als einziger neutraler Staat in der »Pufferzone« oder »Interessensphäre« Russlands verbliebe. Die Nato-Option ist ein wichtiger und zugleich sensibler Teil der finnischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik – in der zugespitzten Lage mehr denn je. Deshalb reagierte Finnland alarmiert, als Kanzler Olaf Scholz bei seiner Pressekonferenz mit Putin in Moskau am 15. Februar davon sprach, dass eine Nato-Osterweiterung während seiner Amtszeit nicht stattfinden werde. Scholz erklärte dabei nicht explizit, sich nur auf die Ukraine zu beziehen. Die Aussage wurde deshalb so interpretiert, dass Deutschland gegebenenfalls als Zugeständnis an Russland einen Nato-Beitritt Finnlands blockieren könnte. Wenngleich nicht so gemeint, hat Scholz’ Äußerung einen empfindlichen Nerv in Finnland getroffen.
Neutralitätspolitik als außenpolitische Tradition Schwedens
Schweden folgt einer außenpolitischen Linie, die auf einer tief im politischen Selbstverständnis verwurzelten Neutralitätspolitik basiert. Seit 1814 war Schweden nicht mehr an kriegerischen Handlungen beteiligt. Allianzfreiheit und Friedensbemühungen stehen traditionell im Zentrum des eigenen Außenhandelns. Parallel verfolgt Stockholm seit dem Ende des Kalten Krieges eine pragmatische Sicherheitspolitik, in der es so nahe wie möglich an die Nato rückt, ohne aber von Beitritt zu reden. Typisch für den schwedischen Ansatz ist, dass die genaue Truppenzusammenstellung bei einer Übung von Spezialeinheiten der schwedischen Armee mit US-Truppen im Herbst 2020 in den Schären des Landes streng geheim gehalten wurde.
Laut Verteidigungsminister Peter Hultqvist muss sich Schweden der veränderten Lage anpassen, in der Russland gewillt sei, militärische Mittel zur Erreichung politischer Ziele einzusetzen und ein bewaffneter Angriff nicht ausgeschlossen werden könne. Im Zeitraum 2021–2025 sollen daher die Rüstungsausgaben des Landes um 40 Prozent steigen, gegenüber dem Niveau von 2014 sogar um 85 Prozent. Die Personalstärke der Armee soll bis 2025 von 60 000 auf 90 000 erhöht werden, die Marine zwei weitere Schiffe und ein U-Boot erhalten. Ebenso ist vorgesehen, Armee und Luftwaffe mit neuen Waffensystemen auszustatten und die Verteidigung von Gotland zu verbessern, wo im Konfliktfall eine russische Invasion erwartet wird. Die Insel könnte zur »neuen Krim« werden, von wo aus Russland die Zugänge zum südlichen Ostseeraum kontrollieren würde. Darüber hinaus will Stockholm ein System der Zivilverteidigung reaktivieren, damit sich das Land in einem Krieg drei Monate lang halten kann, bis Hilfe eintrifft. Auch wurde die Marinebasis in Muskö reaktiviert und der Übungsbetrieb dort wiederaufgenommen. Die geheim gehaltene Übung von 2020 dürfte mit Unterstützung des U.S. Special Operations Command Europe aus Stuttgart stattgefunden haben. Noch bemerkenswerter ist die schwedische Entscheidung vom 27. Februar, Waffen an die Ukraine zu liefern. Das Signal ist klar: Selbst Schweden rückt aufgrund des russischen Vorgehens von seiner Neutralitätspolitik ab.
»Freiheit der Wahl« unter Druck
In seiner Neujahrsansprache 2022 erinnerte der finnische Präsident Niinistö an Finnlands »Freiheit der Wahl« mit Blick auf eine mögliche Nato-Mitgliedschaft. Dieser Hinweis war deutlich an die Adresse Russlands gerichtet. Ein finnisches »Modell«, die sogenannte Finnlandisierung – gewissermaßen freiwillig seine Souveränität einzuschränken –, gebe es nicht, so Niinistö, auch nicht mit Blick auf die Ukraine.
In der Bevölkerung des Landes hat Russlands Krieg gegen die Ukraine einen historischen Wandel herbeigeführt, was die Unterstützung einer finnischen Nato-Mitgliedschaft angeht. Nach einer Umfrage vom 28. Februar gibt es nun erstmals eine Mehrheit für den Beitritt zum Bündnis. 53 Prozent sprachen sich dafür aus, nur noch 28 Prozent waren dagegen, 19 Prozent zeigten sich unsicher.
Der Stimmungsumschwung hat ebenso die politischen Parteien erfasst. Von den fünf Regierungsparteien waren bisher die Finnische Zentrumspartei und das Linksbündnis gegen einen Beitritt, während die Schwedische Volkspartei (die Partei der schwedischsprachigen Minderheit) eine Mitgliedschaft bis 2025 anstrebte. Die Grünen waren intern gespalten, wobei sich der Fraktionsvorsitzende der Partei im finnischen Parlament, Atte Harjanne, schon vor Russlands Invasion in der Ukraine für eine Mitgliedschaft aussprach. Die Sozialdemokratische Partei vertrat traditionell eine ähnliche Linie wie Präsident Niinistö. Demnach blieb die Nato-Option ein wichtiger Pfeiler der finnischen Sicherheitspolitik, während einstweilen kein Bedarf gesehen wurde, die Allianzfreiheit zu verlassen.
Der Krieg in der Ukraine hat das sicherheitspolitische Kalkül in Finnland jedoch fundamental verändert. Seit dem russischen Überfall haben immer mehr Politikerinnen und Politiker in allen Parteien einen Meinungswechsel bekundet und sich für den sofortigen Nato-Beitritt Finnlands ausgesprochen. Eine nationale Bürgerinitiative für ein richtungsweisendes Referendum zu dieser Frage sammelte innerhalb von fünf Tagen die notwendigen 50 000 Stimmen, die eine parlamentarische Befassung erforderlich machen.
In Schweden gab es erstmals im Dezember 2020 eine parlamentarische Mehrheit dafür, eine Nato-Beitrittsoption vorzubereiten. Ein Jahr später sorgte die von Russland geforderte Absage an jede Nato-Erweiterung nahe seiner Grenze auch in Schweden für Aufruhr. »In Schweden entscheiden wir selbst, mit wem wir kooperieren«, erklärte die seit November 2021 amtierende Premierministerin Magdalena Andersson und kündigte eine »Vertiefung der Partnerschaft zwischen Schweden und der Nato« an. In der schwedischen Bevölkerung haben sich laut einer Umfrage von Januar 2022 die Anteile von Unterstützung und Ablehnung einer Nato-Mitgliedschaft nahezu angeglichen: 35 Prozent sind dafür, 33 Prozent dagegen, 31 Prozent unentschieden. Moskaus harte Forderung nach mehr Rücksichtnahme auf eigene Sicherheitsinteressen hat bei seinen Nachbarn in Helsinki und Stockholm damit das genaue Gegenteil des Beabsichtigten erreicht. Russlands Druck hat den paradoxen Effekt, Finnland und Schweden näher an die Nato heranzurücken.
Als mögliches Zugeständnis an Russland kursierte vor Kriegsbeginn als Verhandlungsoption westlicher Staats- und Regierungschefs, die Ukraine für eine wie auch immer festgelegte Zeit nicht der Nato beitreten zu lassen. Aus der Sicht Finnlands, dessen historische Erfahrung mit der Sowjetunion den Begriff »Finnlandisierung« entstehen ließ, ist diese Idee sehr kritisch zu bewerten. Da die Ukraine aufgrund ihrer fehlenden territorialen Integrität bis zum Kriegsbeginn ohnehin keine realistische Chance auf Beitritt hatte, war die Überlegung eines Aufnahmemoratoriums wenig zielführend. Denn der Ausschluss der Ukraine aus einer Nato-Mitgliedschaftsperspektive, selbst wenn nur bedingt in Form eines zeitlich begrenzten Moratoriums, könnte auch einen Ausschluss Finnlands bedeuten. Obwohl die beiden Fälle nicht völlig vergleichbar sind, allein schon wegen der EU-Mitgliedschaft Finnlands, wäre als Worst-Case-Szenario denkbar, dass Russland in Zukunft ähnliche Forderungen und Eskalationsmittel gegenüber Helsinki einsetzt. Wären die Mitgliedstaaten der Allianz dann bereit, auch Finnland die »Nato-Tür« zu verschließen? Schließlich könnte die Einigung über eine neue Sicherheitsarchitektur für Europa – als selbstauferlegte Voraussetzung für die Aufnahme weiterer Nato-Mitglieder – noch viele Jahre auf sich warten lassen.
Auswirkungen auf die Sicherheit der Ostseeregion
Finnland ist aufgrund der Reservestärke seiner Streitkräfte und deren moderner Ausrüstung ein attraktiver verteidigungspolitischer Partner für die Nato im hohen Norden. Seit 2014 ist die strategische Bedeutung der Ostseeregion gestiegen, was gleichzeitig die Rolle Finnlands aufgewertet hat. Im Fall eines Angriffs durch Russland würde Finnland eine wichtige Aufgabe für die Verteidigung des Ostseeraums zukommen. So wurde in Estland der finnische Beschluss, F-35-Kampfflugzeuge zu erwerben, als sehr vorteilhaft für die Verteidigungskapazität der gesamten Region bewertet.
Die intensivierte Verteidigungszusammenarbeit des Nato-Mitglieds Norwegen mit Finnland und Schweden trägt ebenfalls dazu bei, die regionale Sicherheit im gesamten Großraum Ostsee-Arktis-Nordatlantik zu stärken. Obwohl Schweden mit Blick auf die Schlagkraft der Streitkräfte weit hinter Finnland zurückfällt, ist die enge sicherheits- und verteidigungspolitische Kooperation der zwei Länder für beide Seiten komplementär. Sollten sie der Nato beitreten, würde dies eine nahezu sofortige operationelle Bereitschaft im Rahmen des Bündnisses ermöglichen. So wäre der Beitritt der beiden nordischen Staaten durchaus vorteilhaft für die kollektive Sicherheit der Nato-Nordflanke.
De facto haben Finnland und Schweden ihre Verteidigungspolitik bereits so weitgehend an die Nato angepasst, dass der Status der beiden Länder nicht mehr einer Neutralität im engeren Sinne entspricht. Unter normalen Umständen wäre ihr Beitritt zur Allianz also fast nur eine Formalisierungssache. Wie Russland darauf reagieren würde, ist aber in der aktuell weiter eskalierenden Situation schwer absehbar. Putin hat schon oft betont, dass Russland eine Mitgliedschaft Schwedens oder Finnlands im westlichen Bündnis nicht ohne weiteres hinnehmen würde. So hat er 2017 einen Nato-Beitritt Schwedens als Bedrohung für Russland bezeichnet und bereits 2016 angekündigt, als Antwort auf einen Beitritt Finnlands russische Truppen an die gemeinsame Grenze zu verlegen. Angesichts der Entscheidung Russlands, gegen die Ukraine einen Angriffskrieg zu führen, ist es nicht von der Hand zu weisen, dass Putin diesen Kurs tatsächlich verfolgen könnte.
Langfristige Folgen für den hohen Norden und die Arktis
Die russische Kriegführung hat eine Zeitenwende in der europäischen Sicherheitsordnung eingeleitet. Länder wie Finnland, Schweden und Deutschland, die sich mit Rüstungsexporten in Konfliktgebiete traditionell zurückhalten, haben binnen einer Woche beschlossen, Waffen an die Ukraine zu liefern. Die EU hat erstmals in ihrer Geschichte gemeinschaftlich den Beschluss gefasst, ein angegriffenes Land mit Waffen zu versorgen, und will die Ukraine militärisch mit Lieferungen im Wert von 500 Millionen Euro unterstützen. Selbst die neutrale Schweiz hat sich den weitreichenden EU-Sanktionen gegen Russland angeschlossen.
Die Auswirkungen dieser Umbrüche sind in ihrer Gesamtheit noch nicht absehbar, doch schon jetzt steht fest, dass Moskaus Krieg wie Sprengstoff für die Balance im hohen Norden wirkt. Dort haben europäische Staaten bislang Ausgleich und Kooperation mit Russland gesucht, während auch Russland selbst zugunsten seiner Sicherheits- und Wirtschaftsinteressen um Stabilität bemüht war. Finnland hat 1989 in Rovaniemi die Arctic Environmental Protection Strategy (AEPS) initiiert sowie 1991 die Rovaniemi-Deklaration unterzeichnet, die zur Gründung des Arktischen Rates führte. Umweltschutz und friedliche Nutzung der natürlichen Ressourcen in der Arktis boten damals einen gemeinsamen Nenner, um alle arktischen Staaten an den Verhandlungstisch zu bekommen.
Auch Norwegen wahrte als Nato-Staat stets eine Balance zwischen Abschreckung durch Mitgliedschaft in der Allianz und Rückversicherung für Russland. Einerseits fanden Übungen mit Nato-Verbündeten statt, andererseits beschränkte sich Oslo und ließ keine dauerhafte Präsenz von Nato-Einheiten im eigenen Land zu. Solche Akte selbstauferlegter Beschränkungen verlieren jedoch ihre Legitimation, wenn Russland immer aggressiver auftritt und die Souveränität seiner Nachbarstaaten militärisch angreift. Damit verabschiedet sich Moskau von den Prinzipien des Völkerrechts und der KSZE-Schlussakte – dazu gehören der Verzicht auf Androhung oder Anwendung von Gewalt, die sich gegen die territoriale Integrität oder politische Unabhängigkeit eines Staates richtet. Infolgedessen hat Norwegen bereits die Kooperation mit den USA erheblich ausgeweitet.
Die veränderte sicherheitspolitische Betrachtung der arktischen Region wird in den jüngsten Strategiedokumenten Finnlands und Schwedens berücksichtigt. So hat der finnische Militärgeheimdienst 2021 erstmals einen Bericht veröffentlicht, in dem er mit Blick auf Russland nüchtern konstatiert, dass Staaten in der Arktis auch mit militärischen Mitteln ihre Interessen durchzusetzen suchten. Zudem wird im neuesten Verteidigungsbericht des Landes festgehalten, dass die Signifikanz der Großmächterivalität im hohen Norden gestiegen sei, wo Seewege aufgrund des hier deutlich schneller voranschreitenden Klimawandels besser zugänglich werden und so neue Möglichkeiten entstehen, Ressourcen auszubeuten. Die Arktis ist aufgrund der wachsenden Großmächtekonkurrenz und der dort platzierten Militärkapazitäten Russlands besonders anfällig für Spillover-Effekte aus anderen Regionen. Dass Moskau hier aufrüstet, schafft ein hohes Eskalationspotential. Auch in Finnlands neuer Arktisstrategie von Juni 2021 wird betont, wie stark die arktische Sicherheitslage mit (negativen) Entwicklungen in anderen Weltregionen verwoben ist. Sicherheitspolitische Entwicklungen in der Arktis beeinflussen demnach die gesamte nationale Sicherheit Finnlands und sind eng mit dem Ostseeraum und dem restlichen Europa verknüpft.
In Schwedens neuer Arktisstrategie von Oktober 2020 hat die Sicherheitspolitik ebenfalls einen erhöhten Stellenwert. In der vorausgegangenen Strategie von 2011 hieß es noch, die sicherheitspolitischen Herausforderungen der Region hätten keinen militärischen Charakter. Im neuen Strategiepapier wird dagegen nicht nur die Notwendigkeit von Frieden und Stabilität betont, sondern auch eine »neue militärische Dynamik in der Arktis« konstatiert. Außenministerin Ann Linde hob in einem Kommentar die wachsende strategische und ökonomische Bedeutung der Arktis hervor. Schweden müsse sich dem dort stattfindenden Wandel anpassen. Im Dokument selbst wird erklärt, dass die Arktis lange als ein Gebiet niedriger Spannungen gegolten habe, mit günstigen Bedingungen für internationale Kooperation. Doch brächten der Klimawandel und die veränderte geopolitische Lage neue Herausforderungen mit sich.
(Wieder-)Einhegung russischer Macht
Sicherheitspolitisch ist allen nordischen Staaten die Anlehnung an die Nato gemeinsam. Ergänzend dazu vereinbarten nordeuropäische Verteidigungsminister im November 2018 in Oslo, sich stärker in der Nordischen Verteidigungskooperation (NORDEFCO) zu engagieren und die Interoperabilität zu verbessern.
Bei den sicherheitspolitischen Interessen der nordischen Staaten lässt sich im letzten Jahrzehnt eine Angleichungstendenz beobachten, was zum großen Teil Russland geschuldet ist. Seit der Krim-Annexion 2014 finden die nordischen Regierungen auf diesem Feld immer öfter einen gemeinsamen Nenner – trotz ihrer unterschiedlichen euroatlantischen Bezüge, die eine sicherheitspolitische Zusammenarbeit in der Vergangenheit zu einem gewissen Grad erschwert haben. So sind Dänemark, Finnland und Schweden Mitglieder der EU, Norwegen und Dänemark wiederum Nato-Staaten. Dänemark allerdings nimmt aufgrund seiner Opt-outs in der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU nicht an der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit (PESCO) teil, während sich Norwegen aufgrund seiner Opt-ins am selben Politikbereich beteiligt. Finnland und Schweden haben bereits eine hohe Interoperabilität mit Nato-Strukturen, obwohl beide Länder noch keine Mitglieder im Bündnis sind.
Als Reaktion auf den schon damals erfolgten Anstieg militärischer Aktivitäten auf russischer Seite unterzeichneten die Verteidigungsminister von Finnland, Norwegen und Schweden im September 2020 eine Absichtserklärung. Demnach wollen die drei Länder künftig gemeinsam Operationen in Krisen- und Konfliktsituationen durchführen (wobei Norwegen plant, im Krisen- und Kriegsfall das Kommando der Nato zu übertragen), dazu eine strategische Planungsgruppe aufbauen und nationale Operationspläne koordinieren. Zur Interoperabilität mit US-Streitkräften trägt bei, dass Dänemark, Finnland und Norwegen F‑35-Kampfflugzeuge einführen.
Über die regionale Kooperation hinaus bleibt Großbritannien trotz seines EU-Austritts für die nordischen Staaten der wichtigste europäische Partner in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Obwohl Deutschland in vielen Bereichen als gleichgesinnter Partner gilt, wird es in den nordischen Staaten bisher nicht als ein zentraler sicherheitspolitischer Akteur wahrgenommen. Nach der Ankündigung von Kanzler Scholz, 100 Milliarden Euro Sondervermögen für die Bundeswehr bereitzustellen, könnte sich dies allerdings ändern. Für die Bundesrepublik als Ostsee-Anrainer ist es geboten, den Norden stärker strategisch (und rüstungspolitisch) zu berücksichtigen und den arktisch-nordatlantischen Raum – ähnlich wie Finnland, aber auch Russland – als eine sicherheitspolitisch zusammenhängende Sphäre zu verstehen. Die Verteidigungszusammenarbeit im Norden entwickelt sich aktuell sehr dynamisch, und eine engere Anbindung Deutschlands wäre aufgrund seiner geographischen Lage an der Ostsee von Vorteil. Die Bundeswehr hat bereits erste Schritte in diese Richtung unternommen. So führte die deutsche Marine Mitte Februar 2022 gemeinsame Übungen mit der finnischen und der estnischen Marine durch, um Bündnissolidarität an der Nato-Nordflanke zu zeigen.
Moskaus Kriegskurs verleiht der Verteidigungskooperation im Norden neuen Schub und wird absehbar dazu führen, dass NORDEFCO ausgebaut und die Zusammenarbeit mit den USA intensiviert wird. Der Kreml führt das Szenario, das er seit Jahrzehnten als Menetekel beschwört, mit seinem Krieg in der Ukraine überhaupt erst herbei: Es ist wieder notwendig geworden, die russische Macht einzuhegen. Ob die von Putin behauptete Bedrohung der russischen Sicherheit der Realität entspricht, ist insofern irrelevant, als er ohnehin seit 2007 seinem Narrativ entsprechend handelt und reale Konsequenzen für ganz Europa schafft. Das stellt den Westen vor ein Dilemma: Es ist nicht möglich, exzessive russische Sicherheitsbedürfnisse zu erfüllen, ohne die eigenen Werte, Prinzipien und Interessen zu kompromittieren.
Russland hat eigentlich ein starkes Eigeninteresse an der Stabilität im arktisch-nordatlantischen Raum, weil seine Sicherheit und sein Wirtschaftsmodell von dieser Region abhängen. So ist Moskaus Aggression nicht nur deshalb kontraproduktiv, weil sie den Westen enger zusammenrücken lässt und in der Ukraine den Willen stärkt, die Souveränität des eigenen Staates zu verteidigen. Sie ist es auch im Hinblick auf Frieden und Stabilität im hohen Norden, auf die Russland angewiesen bleibt. Wirtschaftliche Überlegungen scheinen jedoch in Moskaus Kalkül keine übergeordnete Rolle mehr zu spielen; im Zweifelsfall rangiert nationale Sicherheit – bzw. Regimesicherheit – vor ökonomischen Fragen. Deshalb ist nicht auszuschließen, dass eine ähnliche Eskalation im hohen Norden folgen könnte, solange im Kreml das Regime Putin herrscht.
Dr. Michael Paul ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik.
Minna Ålander ist Forschungsassistentin der Forschungsgruppe EU / Europa.
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doi: 10.18449/2022A19