Bis vor kurzem war Zentralasien ein weißer Fleck auf den digitalen Landkarten der Verbreitung von Covid-19. Inzwischen ist das Virus auch dort nachgewiesen, und die Länder der Region haben die gängigen Schutzmaßnahmen ergriffen. Tadschikistan verfolgt eine andere Strategie, wie Andrea Schmitz beobachtet hat.
Dass Covid-19 noch Mitte März in Zentralasien nicht nachgewiesen war, schien paradox. Die Gesellschaften der zentralasiatischen Länder sind überaus mobil, und die Region grenzt geographisch unmittelbar an China, zu dem intensive bilaterale Beziehungen bestehen. Schon Ende Januar hatte Kasachstan einige seiner Grenzübergänge zu China geschlossen, darunter auch den Handelsumschlagplatz Khorgos, einen Knotenpunkt der Ost-West-Achse der chinesischen Seidenstraßeninitiative. Auch Reisebeschränkungen wurden erlassen und Quarantäne für Reisende aus China, später auch aus anderen Ländern angeordnet. Kirgistan zog bald nach, und auch Tadschikistan und Usbekistan verschärften in den folgenden Wochen die Einreisebestimmungen, verhängten Quarantäne für Reisende aus Risikoländern bzw. schlossen wie Turkmenistan die Grenzen ganz.
Gerüchte über Infizierte, die sich in den sozialen Medien schon im Februar verbreiteten, wurden von den Behörden jedoch dementiert. Am 10. März dann stimmte als erstes Kasachstan seine Bevölkerung darauf ein, dass man mit Virusinfektionen rechnen müsse, und drei Tage später wurde der erste Fall einer Covid-19-Infektion bestätigt. Kurz darauf meldeten auch Usbekistan und Kirgistan die ersten Erkrankten. Überall war das Virus den offiziellen Angaben zufolge nicht aus China, sondern von Reisenden aus Europa, den USA oder Saudi-Arabien eingeschleppt worden.
Seither steigen die Zahlen in diesen drei Ländern – bisher auf einem relativ niedrigen zweistelligen Niveau. Alle drei Länder haben den Notstand ausgerufen, vor allem in Kasachstan und Usbekistan hat man dem Virus den Kampf angesagt. Kasachstan hat die beiden großen Städte des Landes, Nur-Sultan und Almaty, in Quarantäne geschickt, und auch in Usbekistan demonstriert man entschlossenes Vorgehen: Die Regierung hat einen Anti-Krisen-Fonds von einer Milliarde US$ eingerichtet, um den Auswirkungen von Corona zu begegnen, und baut Krankenhäuser. Eine Website stellt die relevanten Informationen für die Bevölkerung bereit und fordert sie auf, zu Hause zu bleiben. Kindergärten, Schulen und Universitäten wurden geschlossen, das öffentliche Transportwesen in der Hauptstadt ist eingestellt.
Doch vor Tadschikistan hat das Virus bisher Halt gemacht – so will es jedenfalls das offizielle Narrativ. Die Moscheen wurden Anfang März gesperrt, sind aber inzwischen wieder geöffnet. Auch sonst läuft der Betrieb wie immer. Zwar wurde von Hamsterkäufen und von einem starken Preisanstieg bei den Grundnahrungsmitteln Mehl, Speiseöl und Zucker berichtet, doch die Regierung verbreitet Zuversicht. So hat das Ministerium für Gesundheit und Sozialschutz die Bevölkerung aufgerufen, Gerüchten über die Epidemie nicht zu glauben, und der Präsident selbst mahnte, nicht in Panik zu verfallen wegen der »verschiedenen Infektionen«, die weltweit kursierten. In Schulen und Universitäten ist Corona kein Thema, obwohl ganze Schulklassen husten, wie man aus Kommentaren im Netz erfährt. Auch das persische Neujahrsfest Nawruz am 20./21. März, das in allen Nachbarländern abgesagt wurde, feierte Tadschikistan wie sonst auch, mit Massenveranstaltungen und Straßenfesten – Tausende kamen zusammen.
Unterdessen werden – prophylaktisch, wie es heißt – Hospitäler geräumt, um Platz für mögliche Corona-Kranke zu schaffen. Ein hochrangig besetztes staatliches Gremium soll sich anti-epidemiologische Maßnahmen überlegen, hat aber dazu bisher nichts verlauten lassen. Mehrere Staaten, darunter auch die Bundesrepublik, kümmern sich um die Beschaffung von Notfallausrüstung, vor allem Schutzkleidung für medizinisches Personal in Tadschikistan. Inzwischen müsste einiges an Geld und Gerätschaften zusammengekommen sein. Aber werden die Mittel auch sinnvoll eingesetzt werden?
Aus medizinischer Sicht ist Tadschikistan für eine Epidemie denkbar schlecht gerüstet. Der Zustand des Gesundheitswesens ist desaströs, und die Verhältnisse in den Quarantäneeinrichtungen dürften die Verbreitung des Virus eher begünstigen als sie zu unterbinden. Auch wird ein Teil der gespendeten Schutzausrüstung sein Ziel nicht erreichen, sondern an Apotheken weiterverkauft werden, die diese dann zu überhöhten Preisen abgeben. Doch mindestens ebenso entscheidend wie die Frage der Ausstattung mit den grundlegenden Hilfsmitteln ist die Haltung gegenüber dem Virus.
Dass die Politik die möglichen Gefahren einer Epidemie ausblenden kann, liegt auch daran, dass gesellschaftliche Dispositionen dies begünstigen. Die Gründe sind demographischer ebenso wie kultureller Natur. Tadschikistan ist ein junges Land mit einer rasch wachsenden Bevölkerung. Der Anteil der über 55-Jährigen an der Gesamtbevölkerung beträgt nur neun Prozent, chronische Krankheiten, vor allem Herz-Kreislauf- und Stoffwechselerkrankungen, sind in dieser Gruppe weit verbreitet, und die Haltung gegenüber dem Tod ist eine fatalistische – wie überall dort, wo lebensverlängernde Maßnahmen denen vorbehalten sind, die sie sich leisten können. In Tadschikistan ist das nur ein verschwindend kleiner Teil der Gesellschaft. Darüber hinaus ist die Einstellung gegenüber Krankheit und Gesundheit in Tadschikistan stark von volksmedizinischen und religiösen Vorstellungen geprägt. In sozialen Netzwerken, wo »Corona« sehr präsent ist, fehlt es nicht an entsprechenden Empfehlungen zur Virusbekämpfung. Der Rauch der Steppenraute (peganum harmala), der als Hausmittel breite Anwendung findet, spielt dabei eine ebenso prominente Rolle wie die Rezitation der Sure Ya Sin. Diese Empfehlungen werden, davon darf ausgegangen werden, von vielen Tadschiken umgesetzt, also ernst genommen.
Vor diesem Hintergrund ist zu erwarten, dass sich Covid-19 auch in Tadschikistan ausbreiten wird. Wahrscheinlich werden bald ein paar Fälle gemeldet werden – allein aus Gründen der Glaubwürdigkeit. Doch werden sich die gemeldeten Zahlen auf einem niedrigen Niveau einpendeln. Wer sollte sie auch überprüfen? In Anbetracht fehlender Handlungskapazitäten ist eine soziale Immunisierung durch die Mobilisierung kultureller Ressourcen eine naheliegende Option.
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doi:10.18449/2019A06
Akteure, Diskurse, Konflikte