In zahlreichen Ländern kam es jüngst durch restriktivere Regelungen von Schwangerschaftsabbrüchen zu einer Schwächung der sexuellen und reproduktiven Gesundheit und Rechte (SRGR). Diese legislativen Entwicklungen auf nationaler Ebene spiegeln sich in Diskussionen in internationalen Foren wider, da sie menschenrechtliche Standards und den Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen berühren. Während Deutschland sich stets für den weitreichenden Schutz von SRGR ausspricht, fällt auf, dass sich die Bundesregierung für die inhaltliche Ausgestaltung dieses Rechtekomplexes in internationalen Foren wenig konkret engagiert. Dieser Ansatz der diplomatischen Zurückhaltung birgt die Gefahr, dass den Gegner:innen eines extensiven Verständnisses von SRGR, seien es Regierungen, Organisationen oder Einzelpersonen, ein Einfallstor für die Aushöhlung des Konzepts geboten wird. Wenn die deutsche Bundesregierung ihren internationalen Einsatz für Menschenrechte und individuelle Freiheiten auch in der globalen Gesundheit verfolgen will, ist ein aktiveres Eintreten geboten.
Das 1994 in Kairo verabschiedete Aktionsprogramm der »International Conference on Population and Development« definiert SRGR als das uneingeschränkte körperliche und seelische Wohlbefinden in Bezug auf alle Bereiche von Sexualität und Fortpflanzung. Seit der Verabschiedung des Programms gilt SRGR als anerkannter Begriff im internationalen Recht; das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) interpretiert ihn in identischer Form. SRGR ist dabei eine Sammelbezeichnung für eine Vielzahl an Themen, die sich auf Sexualität, Reproduktion und Geschlechteridentität beziehen.
Dennoch kommt es immer wieder und zuletzt vermehrt zu einem diskursiven Ringen um die Spannweite dessen, was unter SRGR zu verstehen ist. Dabei geht es um nichts Geringeres als den Versuch, internationale Normen durch eine inhaltliche Umdeutung – sogenanntes Norm-Spoiling – auszuhöhlen und die Wirksamkeit von SRGR auf den Kernbereich der Gesundheitsversorgung von Schwangeren, Müttern und Neugeborenen zu reduzieren. Ausgeklammert werden damit durch Norm-Spoiler bewusst etwa Fragen des Zugangs zu Verhütungsmitteln und sicheren Schwangerschaftsabbrüchen sowie des Schutzes vor Diskriminierung.
Die Auseinandersetzung über die Reichweite von SRGR ist dabei nicht nur aus normativer Perspektive relevant und für die Beteiligten politischen Akteure aus ideologischen Gründen bedeutsam. Vielmehr folgen aus den unterschiedlichen Lesarten reale Konsequenzen, da SRGR – unter den Befürworter:innen eines weiten Verständnisses von SRGR – als ein elementarer Teil einer allgemeinen Gesundheitsversorgung gilt. In letzter Konsequenz würde daher eine weite, Schwangerschaftsabbrüche mit einbeziehende Auslegung die Rechtfertigung eines Verbots von Abtreibungen aufgrund des nationalen kulturellen Kontexts ausschließen, da das Streben nach einer allgemeinen Gesundheitsversorgung universellen Charakter hat und keine regionalen Einschränkungen kennt.
Politisierung von SRGR
Die Kontroversen um SRGR führen zu einer stärkeren Politisierung des Themas, sprich zu einer Betrachtung aus einer primär politischen Perspektive, und zur Instrumentalisierung als Wahlkampfthema. Hierbei werden häufig einzelne Elemente der SRGR besonders betont, zum Beispiel sichere Schwangerschaftsabbrüche. Diskurse in verschiedenen europäischen Ländern, das Ende von »Roe v. Wade« in den USA und Debatten in internationalen Foren bezeugen die zahlreichen Bestrebungen konservativer, fundamentalistischer und autoritärer Kräfte, SRGR zu unterminieren. Gerade der Umgang mit Schwangerschaftsabbrüchen sticht in den kontroversen Debatten über SRGR besonders hervor und eignet sich aufgrund der speziellen Aufmerksamkeit, die dieser Frage weltweit zuteilwird, um exemplarisch den Prozess der Aushöhlung einzelner Aspekte von SRGR in internationalen Foren zu skizzieren.
Fallbeispiel USA
Ein Beispiel, wie auch die Außen- und Entwicklungspolitik dem Einfluss von Regierungswechseln ausgesetzt ist, bieten die USA: Mit der 1984 angekündigten »Mexico City Policy« schränkte die damalige republikanische US-Regierung unter Ronald Reagan die Verwendung von bilateralen Entwicklungsgeldern dahingehend ein, dass die Empfänger:innen damit keine abtreibungsbezogenen Maßnahmen finanzieren durften (sogenannte »Gag Rule«). Von einer Unterstützung ausgeschlossen wurden damit alle im Ausland tätigen Nichtregierungsorganisationen, die neben den eigentlich förderfähigen Maßnahmen auch Unterstützung bei Schwangerschaftsabbrüchen anboten. Dabei genügte es, wenn die Organisation lediglich Informationen zu Abbrüchen bereitstellte. Die folgenden demokratischen US-Regierungen schafften die Mexico City Policy regelmäßig ab, während jede republikanische Administration sie wieder einführte.
Im Zuge des wachsenden Einflusses konservativer Kräfte in den USA, wie der »Heritage Foundation«, ist der von George W. Bush geschaffene President’s Emergency Plan for AIDS Relief (PEPFAR) ins Zentrum des politischen Streits um die Mexico City Policy gerückt. PEPFAR ist eines der bedeutendsten Instrumente bei der Bekämpfung von HIV/AIDS weltweit. Zuletzt sah sich das Programm dem unbelegten Vorwurf von republikanischer Seite ausgesetzt, dass es Schwangerschaftsabbrüche unterstütze. Die Weiterfinanzierung der bis dato überparteilich getragenen Initiative verzögerte sich und im März 2024 wurde die Verlängerung des Programms nicht wie bislang für fünf, sondern nur für ein Jahr beschlossen.
Gesundheitliche Konsequenzen
Die Aushöhlung von SRGR und die Erschwerung des Zugangs zu sicheren Abtreibungen haben unmittelbare Konsequenzen für die globale öffentliche Gesundheit, insbesondere von Frauen, Angehörigen der LGBTIQ+-Community und marginalisierten Gruppen. Nach WHO-Angaben enden etwa sechs von zehn ungewollten Schwangerschaften in induzierten Schwangerschaftsabbrüchen, sprich solchen, die mit der Absicht vorgenommen werden, eine Schwangerschaft zu beenden. Etwa 45 Prozent all dieser induzierten Abbrüche weltweit finden unter Umständen statt, die als unsicher klassifiziert werden. Unsicher sind diese Abbrüche aufgrund mangelnder Qualifikation der den Eingriff vornehmenden Person, unhygienischer Verhältnisse, gefährlicher Methoden oder fehlender Unterstützung. Etwa 7,9 Prozent der globalen Müttersterblichkeitsrate sind auf solche unsicheren Abtreibungen zurückzuführen, wobei restriktive Abtreibungsgesetze immer häufiger zu unsicheren Abbrüchen führen.
Norm-Spoiling bei SRGR
Im Kairoer Aktionsprogramm wurde 1994 die Bedeutung der reproduktiven Rechte erstmals anerkannt, indem die Staaten reproduktive Gesundheit und sexuelle Freiheiten zum ersten Mal in ein internationales Dokument explizit einbezogen. In Bezug auf Abtreibungen sollten Staaten das Problem unsicherer Abbrüche dadurch angehen, dass sie den Zugang zu sicheren Methoden der Abtreibung und medizinische Versorgung im Anschluss daran gewährleisten, sofern dies mit nationalem Recht vereinbar war. Ein Jahr nach der Kairoer Konferenz trug die Vierte Weltfrauenkonferenz 1995 in Beijing noch weiter dazu bei, dass sichere Abtreibung als ein Anliegen der öffentlichen Gesundheit wahrgenommen wurde. Zudem enthält die »Beijing Declaration and Platform for Action« die Aufforderung an Staaten, ihre Gesetze, sollten sie Strafmaßnahmen für illegale Abtreibungen vorsehen, zu überprüfen.
Neben diesen spezifischen Dokumenten finden SRGR Erwähnung in mehreren internationalen Vereinbarungen und Abkommen, wie der Konvention zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW) und dem Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (IPwskR). Der UN-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (CESCR) führte bereits 2000 in seiner Allgemeinen Bemerkung Nr. 14 aus, dass SRGR ein Kernelement des internationalen Rechts auf Gesundheit sei. Er bekräftigte dies zudem in der Allgemeinen Bemerkung Nr. 22 unter Verweis auf das Kairoer Aktionsprogramm. Dieses setzt damit den Rahmen für die staatlichen Verpflichtungen der Vertragsstaaten des IPwskR gegenüber ihren Einwohner:innen im Bereich der reproduktiven Gesundheit.
Durch »general comments«, »recommendations« oder »concluding observations« weisen diverse UN-Vertragsorgane immer wieder auf die Einhaltung von Standards hin. Sowohl nach der CEDAW als auch nach dem IPwskR müssen die Vertragsstaaten dem UN-Generalsekretär regelmäßig Berichte darüber vorlegen, wie sie ihre Verpflichtungen auf nationaler Ebene umsetzen. Zudem forderten verschiedene Vertragsorgane mehrfach die Entkriminalisierung von Abtreibungen unter bestimmten Umständen, etwa bei gesundheitlichen Risiken für Mütter oder in Fällen von Vergewaltigung. Wegweisend forderte der CEDAW-Ausschuss unter Rekurs auf ein konkretes Sexualdelikt (L.C. v. Peru) die Regierung von Peru explizit dazu auf, Abtreibungen im Falle von Vergewaltigung oder sexuellem Missbrauch zu entkriminalisieren.
Die Errungenschaften, die mit dem SRGR-Ansatz auf globaler Ebene erkämpft wurden, stießen von Beginn an auch auf Kritik. Auch wenn die Kontroversen um SRGR und das Thema Abtreibung daher kein neues Phänomen sind, scheinen sie zuletzt doch auf nationaler und internationaler Ebene eine neue Qualität anzunehmen, insbesondere durch das Erstarken ultrakonservativer sowie teils rechtsextremer und religiös-fundamentalistischer Stimmen. Bemerkenswert ist, dass solche Akteure SRGR wohl wegen des erreichten Grades an sprachlicher Etablierung und Kodifizierung in mehreren internationalen Verträgen meist nicht an sich ablehnen, sondern die SRGR-Normen dadurch schwächen, dass sie deren Inhalt und deren Reichweite in Frage stellen.
Die gezielte Aushöhlung von Normen wird häufig als »Norm-Spoiling« bezeichnet. Der Begriff beschreibt den Angriff auf Vereinbarungen, Normen und Rechte mit dem Ziel, diese über kurz oder lang zu schwächen oder abzuschaffen. Eine Reihe von Akteuren betreiben gezieltes Norm-Spoiling, von Individuen und Zivilorganisationen, wie C-Fam, über Staaten bis hin zu Staatengruppen. All diese Kräfte sind also durch ihre gemeinsamen Bemühungen gekennzeichnet, internationale SRGR-Normen zu unterwandern. Sie unterscheiden sich jedoch in ihrer Motivation. So überwiegen in Russland und Ungarn pronatalistische Argumente, also das Bestreben, Rahmenbedingungen für möglichst viele Geburten und Kinder zu schaffen, während Staaten wie Nicaragua ihre Positionen auf christliche Werte stützen. Wieder andere Akteure wie Polen unter PiS-Führung und Brasilien unter der Bolsonaro-Administration greifen darüber hinaus auf eine ausländerfeindliche Rhetorik zurück, um Schwangerschaftsabbrüche zu kriminalisieren. Zudem überschneiden sich die diversen Argumentationen häufig. Pronatalistische Ziele können beispielsweise auch aus religiöser Perspektive angestrebt werden; sie finden sich aber auch in der xenophoben Diktion Orbáns, wenn dieser Einschränkungen des Abtreibungsrechts fordert und gleichzeitig das Narrativ der »Great Replacement«-Theorie verbreitet.
SRGR im WHO-Exekutivrat
Das aktuelle Ringen um die Anerkennung und den Inhalt von SRGR in internationalen Foren kann mittels der Sitzungsprotokolle des WHO-Exekutivrats veranschaulicht werden. Im Exekutivrat sind 34 Mitgliedstaaten für einen Zeitraum von mindestens drei Jahren vertreten. Eine der Hauptaufgaben des Rates ist es, die Tagesordnung der Weltgesundheitsversammlung vorzubereiten. Dort dürfen nur Themen behandelt werden, die zuvor im Exekutivrat besprochen wurden. Viele der so genehmigten Agendapunkte werden zudem gar nicht diskutiert. Anders als in der Versammlung können im Exekutivrat ausführliche Debatten über die wichtigsten Aspekte der globalen Gesundheit geführt werden.
Ein umfassendes Bild vom Umgang mit SRGR im WHO-Exekutivrat kann durch die Textanalyse der einzelnen Sitzungsprotokolle gewonnen werden. Dazu wurden alle Protokolle zwischen 1995 und 2023 analysiert und einzelne Absätze auf Schlagworte im Kontext von SRGR durchsucht (siehe Replikationsmaterialien). Als Suchbegriffe wurden »Abtreibung« (»abortion«), »Familienplanung« (»family planning«), »schwanger« (»pregnan*«) und »reproduktiv« (»reproduct*«) verwendet (siehe Grafik). Der Begriff »sexuell« (»sexual«) wurde nicht genutzt, da er auch in anderen Kontexten als SRGR verwendet wird. Während SRGR-Themen, gemessen am Begriff »reproduktiv«, im Durchschnitt in 2 Prozent der Absätze vorkommen, geht es dabei nur in wenigen Fällen um Schwangerschaftsabbrüche. Beachtlich ist hierbei, dass zu Beginn der 2000er Jahre im Kontext von SRGR häufiger als noch in den 1990er Jahren Schwangerschaften, Abbrüche und Familienplanung erwähnt wurden. Seitdem ist die Frequenz der Diskussionen über diese Inhalte deutlich zurückgegangen und auf einem durchweg niedrigen Niveau.
Neben dieser quantitativen Analyse lohnt sich die Betrachtung der wenigen Fälle, in denen SRGR und vor allem Abtreibungen explizit behandelt werden. Zwar betont die Mehrheit der Staaten die Relevanz von SRGR, aber sie führen aus diplomatischen Gründen nicht aus, welche Aspekte SRGR nach eigener Auffassung beinhaltet. Allein Kanada unterstreicht stets, dass zu SRGR auch »umfassende Sexualerziehung, Empfängnisverhütung und sichere Abtreibung sowie Betreuung nach einem Schwangerschaftsabbruch« (WHO-Exekutivrat, Sitzung 152, S. 195, übersetzt aus dem Englischen) gehören. Dahingegen sprachen sich etwa Brasilien, Sambia und die USA unter der Trump-Regierung in Sitzungen explizit gegen ein solches weites Verständnis aus, indem sie hauptsächlich negativ definieren, was nicht zu SRGR gehört (WHO-Exekutivrat, Sitzungen 148 und 144). Die Diskussion über die Reichweite von SRGR wird damit maßgeblich von Befürworter:innen einer engen Auslegung der damit verknüpften Rechte dominiert, obwohl kein an den Sitzungen des Exekutivrats teilnehmender Staat, mit Ausnahme von Russland, SRGR ablehnt.
Festzustellen ist also, dass SRGR seit Mitte der 90er Jahre kontinuierlich erwähnt werden und die Bearbeitung dieses Problemkomplexes von einer Mehrheit der Staaten explizit unterstützt wird. Ungeachtet dessen ist jedoch gleichzeitig ein Rückgang der Auseinandersetzung mit den Einzelthemen von SRGR zu verzeichnen. Die in den Protokollen dokumentierten Anmerkungen hierzu beschränken sich, wie zuvor skizziert, maßgeblich auf die Gegner:innen eines weiten Verständnisses von SRGR.
Geneva Consensus Declaration
Neben den genannten Akteuren positionierten sich in der Vergangenheit eine Reihe von postsowjetischen Staaten sowie Länder mit überwiegend katholischer Bevölkerung und diverse islamisch-fundamentalistische Länder gegen bestimmte SRGR und Frauenrechte im Allgemeinen. International erhielten diese Bestrebungen Rückhalt durch die Arabische Liga, die G77 und die Afrika-Gruppe der Vereinten Nationen. Belarus, Ägypten und Katar gingen noch einen Schritt weiter und gründeten 2015 die »Group of Friends of the Family«. Die Gruppe positioniert sich gegen bestimmte Aspekte von SRGR. Sie vertritt explizit das Ziel, die »Familie« – die nach ihrem Verständnis immer aus Mann und Frau im Ehestand bestehen muss – zu stärken. Abtreibungen oder Prozesse und Politiken der UN, die auf Genderinklusivität ausgerichtet sind, lehnt sie ab. Weitere Länder wie Bangladesch, Indonesien, Malaysia, Ägypten, Nigeria, Saudi-Arabien, Iran und Russland traten in der Folge der Gruppe bei.
Die Anstrengungen dieser und anderer Norm-Spoiler kulminierten schließlich in der 2020 verabschiedeten »Geneva Consensus Declaration on Promoting Women’s Health and Strengthening the Family«. In dieser unterzeichneten, unter Führung der Trump-Administration, mehr als 30 Länder eine Stellungnahme, in der sie sich auf den Schutz des Rechtes auf Leben ab dem Moment der Empfängnis als Priorität festlegen. Die unterzeichnenden Parteien berufen sich auf Aussagen aus dem Aktionsprogramm der Kairo-Konferenz von 1994 und der Beijing-Deklaration von 1995, sowie auf weitere Menschenrechtsdokumente und Deklarationen, wie die »Convention on the Rights of the Child«. In ihrer Erklärung zitieren sie diejenigen Passagen, die sich auf den Vorrang nationaler Gesetzgebung beziehen und in denen Abtreibung als Methode der Familienplanung abgelehnt wird.
Diese Erklärungen der Abtreibungsgegner:innen haben aber nicht nur innenpolitischen Signalcharakter, sondern zielen darauf ab, eine Einordnung des Zugangs zu sicheren Schwangerschaftsabbrüchen als Teil der allgemeinen Gesundheitsversorgung zu verhindern, da sich hieraus weitere gesundheitspolitische Konsequenzen ergeben würden. Diese bestehen hauptsächlich darin, dass Staaten zu einer Entkriminalisierung angehalten werden könnten, da sie die normative und völkerrechtliche Pflicht (z.B. aus dem IPwskR) haben, die allgemeine Gesundheitsversorgung der Bevölkerung sicherzustellen.
Mit Blick auf Abtreibungen hält die Genfer Erklärung zum einen fest, dass der Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen für Frauen verbessert und sichergestellt werden soll. Eingeschlossen sind ausdrücklich Belange der sexuellen und reproduktiven Gesundheit, ausgeschlossen allerdings explizit Abtreibungen. Zum anderen wird betont, dass es kein internationales Recht auf Abtreibung gebe, sondern diesbezügliche Regelungen nur auf nationaler und lokaler Ebene erlassen und geändert werden könnten. Die Erklärung erkennt also die SRGR an, schließt Abtreibung als Teil von SRGR aber aus. Während im Aktionsprogramm der Kairo-Konferenz auch Bezug auf die medizinische Nachsorge bei illegalen Abtreibungen genommen wird, lässt die Genfer Erklärung diesen Verweis bewusst aus. Ebenso beruft sich die Erklärung zwar auf die Beijing-Deklaration, übergeht allerdings den dort enthaltenen Appell an die Staaten, zur Vermeidung der negativen Folgen unsicherer Schwangerschaftsabbrüche ihre nationalen Gesetze zu überprüfen. Drei Monate später, kurz nach ihrer Amtsübernahme, trat die Biden-Regierung von der Genfer Erklärung zurück und stellte sich gegen die Deklaration. Das führte allerdings nicht dazu, dass das Projekt zum Erliegen kam. Im Gegenteil, seither haben sich noch weitere Länder dem Dokument angeschlossen, wie Georgien und Paraguay.
Wie aus den genannten Beispielen ersichtlich wird, ist Sprache ein bedeutender Faktor im Prozess des Norm-Spoilings. Sowohl durch die Ablehnung bereits etablierter Formeln als auch durch die Einführung eines neuen Wordings und neuer Interpretationen. So scheinen Norm-Spoiler internationale SRGR selten als solche anzugreifen – auch wenn dies auf lange Sicht das Ziel sein könnte –, sondern verwenden abweichende Definitionen von SRGR oder legen die Inhalte anders aus. Die Diskussionen in internationalen Foren, wie beispielsweise im Exekutivrat der WHO oder in der Weltgesundheitsversammlung, zeigen, dass verschiedene Akteure diskursive Verschiebungen anstreben, mit bereits spürbaren Folgen für das Verständnis von internationalen Normen der SRGR und öffentlicher Gesundheit. Daten der WHO belegen beispielsweise, dass die Reduktion der Müttersterblichkeit in fast allen Regionen der Welt zuletzt stagnierte oder die Rate sogar ansteigt, was in Teilen auf die nationalen und internationalen politischen Tendenzen zurückgeführt wird.
Deutsche Position zur SRGR
Mit verschiedenen Strategien und Aktionsprogrammen positioniert sich die Bundesregierung regelmäßig zum internationalen Völkerrecht im Allgemeinen und zur Verteidigung der SRGR im Besonderen. In ihrem Konzept für eine feministische Außen- und Entwicklungspolitik (siehe dazu SWP-Studie 7/2024) verschreiben sich das Auswärtige Amt (AA) und das BMZ einer konsequenten Stärkung von SRGR weltweit und konstatieren, dass die Kriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen zu einer höheren Prävalenz der Müttersterblichkeit führt. In den Leitlinien zur feministischen Außenpolitik beschreibt das AA, wie sich durch die zunehmenden Spannungen und die »Spaltung der internationalen Gemeinschaft« Schwierigkeiten für die Aufrechterhaltung etablierter Rechte von Frauen und LGBTIQ+-Personen und spezifisch der SRGR ergeben. In diesem Zusammenhang verspricht das AA, mit Nachdruck für den Schutz dieser Rechte im internationalen System einzutreten. Während die deutsche Bundesregierung also die Versuche einiger Akteure, bestehendes Recht zu schwächen, erkennt und diese ablehnt, will sie sich darüber hinaus für die Etablierung neuer Normen einsetzen.
Ein Beispiel dafür sind Deutschlands Anstrengungen im Jahr 2019, im UN-Sicherheitsrat eine Resolution zu sexueller Gewalt im Rahmen eines bewaffneten Konflikts zu verabschieden. Manche Formulierungen innerhalb des von Deutschland vorgeschlagenen Textes führten zu heftigen Diskussionen und Protestaktionen anderer Akteure. Die USA unter der Trump-Administration drohten ein Veto an und drängten sogar auf die Streichung jedweder Nennung sexueller und reproduktiver Gesundheit und Rechte. Schließlich wurde eine Version der Resolution mit Enthaltungen von Russland und China verabschiedet, in der die SRGR keine Erwähnung fanden.
Zu ähnlich gelagerten Auseinandersetzungen kommt es auch mit verschiedenen Mitgliedstaaten der Europäischen Union, zuletzt im Rahmen der Anhörung des designierten ungarischen Gesundheitskommissars Olivér Várhelyi, der ebenfalls den Standpunkt einnahm, dass Regelungen des Zugangs zu sicheren Abtreibungen kein Teil von SRGR seien, eine rein nationale Angelegenheit darstellten und nicht in seinen Zuständigkeitsbereich als Kommissar fielen.
Die Bundesrepublik Deutschland tritt in internationalen Foren wie dem WHO-Exekutivrat oder dem UN-Sicherheitsrat aus diplomatischen Gründen zurückhaltend auf und sucht den Konsens, während die Gegner:innen ihre Position mit Maximalforderungen und Drohungen vortragen. Mittlerweile offenbaren das Scheitern einschlägiger Resolutionen, die zunehmenden Vorstöße zur Aushöhlung der SRGR und die zahlreichen nationalen Rückschritte beim Zugang zu sicheren Schwangerschaftsabbrüchen, dass der vermittelnde Ansatz der Bundesregierung aktuell wenig erfolgreich ist. Ein konfrontatives Vorgehen könnte zielführender sein. Eine solches Vorgehen könnte sich beispielsweise an der Strategie Kanadas orientieren, das den Norm-Spoiling-Versuchen regelmäßig durch explizite Gegenrede entgegentritt.
Counter-Norm-Spoiling
Ein wichtiger Faktor, den es bei jedweden Bestrebungen deutscher und europäischer Politik in Bezug auf SRGR und allgemeine Frauen- und Menschenrechte künftig verstärkt zu bedenken gilt, ist die potentielle Fragilität geltender Normen. Norm-Spoiler könnten künftig noch deutlicher auf die sprachliche Umdeutung internationaler Normen hinwirken. Die liberal-demokratische Interpretation dieser Normen ist kein Automatismus und vulnerabel gegenüber einer moralisch ultrakonservativen Rhetorik, die derzeit auf internationaler Ebene stärker wird. Ein geschärftes Bewusstsein für die Taktik und die Möglichkeiten dieser Akteure ist Voraussetzung dafür, dass effektive und nachhaltige Antworten auf deren Vorgehen gefunden werden. Als eine Variante der Reaktion auf die Diskursverlagerung würde sich empfehlen, ebenso explizit zu werden und den Diskurs nicht Norm-Spoilern zu überlassen. Die Fokussierung der Verteidiger reproduktiver Gesundheit und Rechte allein auf Fragen des Abtreibungsrechts birgt indes die Gefahr, dass andere Aspekte des Themenkomplexes wie Verhütung, Vermeidung oder Bekämpfung sexuell übertragbarer Krankheiten oder Aufklärungsmaßnahmen ins Abseits geraten. Gleichwohl stehen eben Fragen des Abtreibungsrechts im Zentrum der internationalen Debatten und deshalb sollte in dieser Sache eine klare Sprache angeschlagen werden, wenn eine menschenrechtsbasierte Politik angestrebt wird.
Ein Beispiel, wie Vorhaben und Maßnahmen im Bereich der sexuellen und reproduktiven Gesundheit Einzug in außenpolitische Strategien erhalten können, bietet unter anderem Frankreichs internationale Politik zum Thema SRGR für den Zeitraum 2023–2027. Frankreich bezieht in seinen außenpolitischen Handlungsleitlinien im Hinblick auf den Zugang zu sicheren Schwangerschaftsabbrüchen explizit Stellung. Konkret fördert Frankreich finanziell den Zugang zu Leistungen der SRGR aus dem Muskoka-Fonds. Der Fonds wurde im Anschluss an den G8-Gipfel 2010 in Muskoka, Kanada, ins Leben gerufen und finanziert seither Maßnahmen verschiedener UN-Organe, die dem Erreichen der SDGs im Bereich der SRGR und der Reduktion der Mütter- und Kindersterblichkeitsraten in zehn frankophonen Ländern Afrikas dienen.
Im Jahr 2018 schloss sich auch Dänemark der Finanzierung des Fonds an. Damit würde Frankreich sicherlich einen geeigneten Partner darstellen, sollte es sich Deutschland zum Ziel setzen, ähnliche Maßnahmen zu fördern und so zum »Counter-Norm-Spoiling« auf internationaler Ebene beizutragen. Anstelle auf neue Normen unter dem Dach der SRGR hinzuwirken, wie es Deutschland zum Beispiel mit der UN-Sicherheitsratsresolution vorhatte, könnte sich die Bundesregierung in internationalen Foren gemeinsam mit diesen Partnern primär auf die Verteidigung bereits bestehender Normen und auf deren Umsetzung, auch durch außen- und entwicklungspolitische Strategien, konzentrieren. Auf dieser Grundlage lassen sich die folgenden konkreten Empfehlungen für die deutsche und europäische Politik aussprechen:
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Wenn es das Ziel deutscher Politik ist, die SRGR diskursiv zu stärken, sollten sich ihre Vertreter:innen in internationalen Foren auch durch entschiedenes Auftreten und unzweideutige Formulierungen nachdrücklicher für die Beibehaltung der bereits getroffenen Normen einsetzen. Das würde dazu beitragen, dass Norm-Spoiler mit ihren Bemühungen, die Definitionsmacht über SRGR-Konzepte zu erlangen, erfolglos bleiben.
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Zudem sollte Deutschland in der Diskussion über die Spann- und Tragweite von SRGR klar artikulieren, was es unter einschlägigen Rechten wie dem Zugang zu sicheren Abtreibungen versteht. Hierbei ist keineswegs die uneingeschränkte Legalisierung gemeint, wie es Gegner:innen oft behaupten, sondern eine Entkriminalisierung von Abbrüchen mit zeitlichen Begrenzungen oder unter bestimmten Indikationen, wie bei Vergewaltigungen oder gesundheitlichen Risiken durch die Schwangerschaft.
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Mit Blick auf die EU empfiehlt es sich, zunächst eine Entscheidung darüber zu treffen, ob angesichts der häufig abweichenden Positionen zu SRGR in verschiedenen Mitgliedstaaten eine gemeinsame Position in internationalen Foren vertreten werden kann. Wenn sich keine gemeinsame Position auf EU-Ebene finden lässt, sollte sich die Bundesregierung für die Debatten in internationalen Foren geeignete, ähnlich gesinnte Partner, wie etwa Frankreich, suchen, auch auf die Gefahr hin, dann nicht mehr mit einer gemeinsamen EU-Stimme zu sprechen.
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Zur Stärkung von SRGR auf globaler Ebene bedarf es stabiler Strukturen, auf die sich Partner ungeachtet der Veränderung politischer Ausrichtungen von Regierungen verlassen können. Ein Weg hierzu wäre die Bereitstellung mehrjähriger und flexibler Budgets, etwa im entwicklungspolitischen Kontext, für neue, aber auch für bereits etablierte Programme und insbesondere für zivilgesellschaftliche Organisationen, die unabhängig von Regierungen arbeiten und in die Lage versetzt werden müssen, Counter-Norm-Spoiling zu betreiben.
Franziska Schwebel ist Forschungsassistentin in der Forschungsgruppe EU / Europa. Dr. Michael Bayerlein ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe EU / Europa. Dr. Pedro A. Villarreal ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Globale Fragen. Die Autor:innen arbeiten im Projekt »Die globale und Europäische Gesundheitsgovernance in der Krise«, das vom Bundesministerium für Gesundheit (BMG) gefördert wird.
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DOI: 10.18449/2024A61