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Die türkische Diaspora in Westeuropa

Zwischen Ausgrenzung und Instrumentalisierung für die Politik der Türkei

SWP-Aktuell 2024/A 31, 28.06.2024, 8 Seiten

doi:10.18449/2024A31

Forschungsgebiete

Die europäischen Aufnahmeländer türkischer Migranten und Migrantinnen reagieren verstört auf die Diasporapolitik der türkischen Regierung, in einer Zeit, da Ankara in Europa ohnehin nur wenig Vertrauen genießt. Gründe für Letzteres sind die zunehmend autoritäre türkische Innenpolitik, die Durchdringung des öffentlichen Lebens mit islamischen Normen und unterschiedliche bis gegensätzliche Positionierungen der Türkei und der EU in der Außen- und Sicherheitspolitik. Hinzu kommt nun die Sorge, dass ein verstärkter Einfluss Ankaras die Loyalität der türkischen Migranten und ihres Nachwuchses zu den Aufnahmestaaten untergräbt. Angesichts einer gene­rellen Skepsis in Europa gegenüber Migration und dem Islam droht eine ungute Gleich­setzung der berechtigten Forderungen von Migranten mit den Ambitionen der tür­kischen Regierung. Dabei sind die Möglichkeiten Ankaras, die türkische Diaspora als Ganzes zu lenken, relativ begrenzt. Trotzdem tun die Regierungen der europäischen Aufnahmeländer gut daran, auch weiterhin auf die Unabhängigkeit von Moschee­gemeinden und anderer Einwandererorganisationen von der Türkei zu pochen und so das Kräftegleichgewicht in der Diaspora aufrechtzuerhalten.

Seit den 2010er Jahren nutzt die regierende Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (AKP) die Diasporapolitik dazu, ihre innen­politische Stellung zu stärken und den außenpolitischen Einfluss der Türkei auf globaler Ebene auszubauen. Sie hat ihre diesbezüglichen staatlichen und halbstaatlichen Aktivitäten intensiviert, pflegt einen identitären Diskurs und verstärkt die Pola­risierung zwischen der Dia­spora und den Gesellschaften der Aufnahmeländer. Der nur knappe Sieg der AKP und ihres Vor­sitzenden Recep Tayyip Erdo­ğan bei den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im Mai 2023 und der Erfolg der Opposition bei den Kommunalwahlen im März 2024 ist für die AKP Antrieb, die ohnehin fast un­beschränkte Macht des Prä­sidenten noch weiter auszubauen und die ideologische Formierung der Bevölkerung weiter zu treiben. Am deutlichsten wird dies in dem unablässigen Drängen der Regierung darauf, dem Land eine neue Verfassung zu geben.

Es ist deshalb damit zu rechnen, dass Ankara seine Aktivitäten in der Diaspora verstärken und die Sorge türkischer Migran­ten über eine wachsende Diskriminierung und Ablehnung des Islam aufnehmen und gegen die Gesellschaften der Aufnahme­länder richten wird. Im Zentrum dieser Strategie steht die Verankerung einer sitten­strengen, konservativen Moral und tradi­tio­neller Geschlechter­rollen. Flankiert wird diese Politik von der Behauptung, dass sich fromme türkische und säkulare europäische Identität nicht miteinander vereinbaren lassen. Zu rechnen ist auch mit einer noch engmaschigeren Verfolgung oppositioneller Kräfte in Europa, die der politi­schen, kultu­rellen und religiösen Zersetzung der Dia­spora beschuldigt wird.

Anhaltende Unterstützung der Wähler in der Diaspora für Präsident Erdoğan und die AKP

Im Unterschied zu anderen türkischen Par­teien war sich die AKP früh darüber im Klaren, dass die Stimmen aus der Diaspora die Wahlergebnisse zu ihren Gunsten be­einflussen würden. 2008 und 2012 nahmen AKP-Regierungen die immer wieder ge­äußerte Forderung der Auslandstürken auf, sich im Land ihres Aufenthalts an den tür­kischen Wahlen beteiligen zu können. Denn zuvor, ab 1987, als türkische Staats­bürger im Ausland erstmals an Wahlen teilnehmen durften, mussten sie dafür in die Türkei reisen und konnten nur an den Zollstationen wählen.

Die seit der Wahl von 2014 bestehende Möglichkeit, seine Stimme im Land des Aufenthalts abzugeben, hat denn auch die früher notorisch niedrige Wahlbeteiligung der Auslandstürken von 8,37 Prozent auf 52,04 Prozent in Jahr 2023 erhöht. (Die Zahl steht für die zweite Runde der Präsidentschaftswahl, an der ersten Runde beteiligten sich 49,5 %.) Nicht zufällig war es in den letzten zehn Jahren die AKP, die sich besonders um die Mobilisierung von Wäh­lern in der Diaspora bemühte. Als Regierungspartei standen ihr dafür staatliche Ressourcen reichlich zur Verfügung. Die Konsulate der Türkei spielten bei der An­sprache der potentiellen Wähler und der Erhöhung der Wahlbeteiligung eine zen­trale Rolle.

Aus den Präsidentschaftswahlen vom 28. Mai 2023 ging Staatspräsident Erdoğan mit 52,18 Prozent als Sieger hervor. Die Wahlbeteiligung lag insgesamt bei beein­druckenden 84,15 Prozent. Auch bei dieser Wahl setzte sich in der türkischen Diaspora weltweit der seit 2014 zu beobachtende Trend fort: Bei den türkischen Wäh­lern außerhalb der Türkei konnte Erdoğan bei einer niedrigeren Wahlbeteiligung von 52,04 Prozent verhältnismäßig mehr Stim­men – nämlich 59,71 Prozent – auf sich vereinigen. In Deutschland, den Nieder­landen, Belgien, Österreich und Frankreich lag Erdoğans Erfolg noch über dem Durch­schnitt der türkischen Diaspora weltweit (Tabelle 1).

Tabelle 1

Ergebnisse der Präsidentschafts­wahlen vom 28. Mai 2021 in einzelnen europäischen Ländern

Stimmenanteil Präsident Erdoğan

Wahl-
beteiligung

Deutschland

67,22 %

50,38 %

Niederlande

70,59 %

54,90 %

Belgien

74,70 %

59,40 %

Österreich

73,85 %

58,85 %

Frankreich

66,77 %

51,87 %

Türkei*

52,18 %

84,15 %

* Inklusive Diaspora.

Zusammengestellt von den Autoren auf Basis der Angaben auf der Website der regierungsnahen Tageszeitung Yeni Safak.

Anders als in der westeuropäischen Dia­spora war der Präsidentschaftskandidat der Opposition Kemal Kılıçdaroğlu in den USA mit 82,67 Prozent der Stimmen erfolgreich. Dort prägen Studenten sowie mittlere und höhere Angestellte die Community der Auslandstürken. Auch in der Schweiz lag Kılıçdaroğlu mit 57,04 Prozent vorne und pro­fitierte offenbar von den Stimmen der dort vorherrschenden kurdischen Gemeinschaft. So geben die Wahlergebnisse auch Auskunft über die Zusammensetzung der türkischen Diaspora in verschiedenen Ländern der Welt.

Tabelle 2

Ergebnisse der Parlamentswahlen vom 28. Mai 2021 in einzelnen europäischen Ländern

AKP

MHP

CHP

HDP

Deutschland

50,50 %

12,60 %

19,20 %

8,70 %

Niederlande

53,40 %

13,00 %

18,90 %

4,60 %

Belgien

55,00 %

14,20 %

14,70 %

5,98 %

Österreich

54,80 %

14,00 %

14,40 %

7,40 %

Frankreich

48,20 %

13,90 %

12,70 %

17,90 %

Türkei
(inkl. Diaspora)

35,61 %

10,07 %

25,33 %

8,82 %

Zusammengestellt von den Autoren auf Basis der Angaben auf der Website der regierungsnahen Tageszeitung Yeni Safak.

Die variierenden Muster türkischer Migration und die damit eng verknüpfte unterschiedliche Komposition der jeweiligen türkischen Diaspora und ihrer poli­tischen Orientierung treten auch in den Ergebnissen der jüngsten Parlamentswahlen hervor. So erreichte die Republikanische Volkspartei (CHP) als Oppositionsführerin in den USA einen Anteil von 60,2 Prozent der Stimmen, während sich die AKP dort mit einem Anteil von 13,1 Prozent zu­friedengeben musste. In der Schweiz kam die AKP nur auf 25,1 Prozent. Zweiter wurde dort die kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP), die – eines dro­henden Parteiverbots wegen – unter dem Banner Grüne-Links-Partei antreten musste. Ganz anders ist das Bild in den traditionellen Auf­nahmeländern türkischer Arbeitsmigration in Westeuropa. Hier erhielt die AKP deutlich mehr Stimmen als die rest­lichen Parteien (Tabelle 2).

Die Bedeutung der Stimmen aus der Diaspora für die macht­politische Konsolidierung der AKP

Bei den vorangegangenen Urnengängen hatte die Unterstützung der Diaspora in bemerkenswertem Maße dazu beigetragen, dass Erdoğan seine Macht konsolidieren konnte. So machten beim Verfassungs­referendum über die Einführung eines Prä­si­dialsystems 2017 die 256.000 Ja-Stimmen der Diaspora 19 Prozent der 1,37 Millionen Stimmen aus, die den Ausschlag für die An­nahme der Verfassungsänderung im Sinne Erdoğans gaben.

Bei den Präsidentschaftswahlen von 2018 kam Erdoğan in der Türkei auf 50,8 Prozent der Stimmen. Nur die 894.585 Stimmen aus der türkischen Diaspora ermöglichten es ihm damals, mit 52,59 Prozent einen klaren Sieg zu erringen.

Konservative Moral und traditio­nelle Geschlechterrollen: die Betonung der Differenz zur Mehrheitsgesellschaft

Jahre der Mobilisierung durch die AKP haben zur Entstehung eines harten Kerns begeisterter Parteigänger in der Diaspora geführt. Nach dem Sieg Erdoğans in der Stichwahl für das Staatspräsidentenamt 2023 kam es in einigen deutschen Städten zu raumgreifenden Demonstrationen seiner Anhänger. Die Vorfälle zeigten – nach Ansicht kri­tischer Stim­men aus der Mehr­heitsgesellschaft – dass sich ein großer Teil der türkischen Einwanderer und ihres Nach­wuchses eher einem fremden Staat als Deutschland zugehörig fühle. Angesichts der türkischen Diasporapolitik der letzten zwei Jahrzehnte, die immer wieder eine ganz eigene Iden­tität der Türken betont und eine polarisierende und oft auch reiße­rische Rhetorik verwendet, ist diese Sorge zumindest teilweise verständlich. Schließlich hat Erdoğan 2008 in Köln Assimilation als »Menschheitsverbrechen» bezeichnet und seine Landsleute und ihre im Ausland geborenen Kinder aufgerufen, an ihrer Reli­gion und Sprache festzuhalten, als Zeichen ihrer Zugehörigkeit zum türkischen Heimat­land.

Teil dieses Narrativs ist die Behauptung, dass sich die Türken (und Muslime) der Diaspora mit ihren Werten, ihrer Moral, ihrer Identität, ihrer Kultur und damit ihrem Wesen nach in unüberbrückbarer Weise von der Mehrheitsgesellschaft unter­scheiden. Im Einklang damit stellt die AKP sich selbst und ihren Vorsitzenden als die Repräsentanten und Beschützer eines »post-kolonialen neuen (politischen) Subjekts« dar, das seinerseits durch die Schaffung einer »neuen Türkei« hervorgebracht wor­den ist. Letzteren Begriff hat Erdoğan im Vorfeld der Präsidentschaftswahl von 2014 selbst geprägt. Es geht um die Formierung einer neuen Nation, die ihre Stärke aus authentischen Werten und eigenen, un­verfälschten Überzeugungen bezieht, nach Unabhängigkeit (vom Westen) strebt und selbstbewusst in die Zukunft blickt. Symbo­lisiert wird die Geburt der neue Tür­kei durch die Aufhebung des früher geltenden Kopf­tuch-Verbots durch die AKP. Die Re­form steht modellhaft für die politische Ermächtigung der konservativen Frau und der ehemals politisch an den Rand gedräng­ten frommen Bevölkerung.

Vertreter der türkischen Regierung ver­gleichen gern die von ihnen behauptete Widerstandskraft eines aufrechten und in­tegren muslimischen Volkes mit der »west­lichen Schwäche«, die Produkt eines weit verbreiteten Nihilismus sei. Die tatsächliche politische Stabilität und der wirtschaftliche Wohlstand des Wes­ten bleiben dabei außen vor. Beispielhaft für eine solche Einschätzung sind die Ausführungen des heutigen Geheimdienstchefs und früheren Sprechers des Präsidentenamts Ibrahim Kalın auf dem World Forum 2018, einer vom türkischen Staatsfernsehen organisierten Diskussions­veranstaltung. Kalın unterstellte den west­lichen Gesellschaften eine tief verwurzelte Zukunftsangst, die sie langfristig weniger resilient mache.

Ein wichtiges Element der AKP-Ideologie ist die Gleichsetzung der eigenen Partei mit der türkischen Nation. In der Diaspora­politik schlägt sich diese Gleichsetzung darin nieder, dass die Auslandstürken um­stands­los als fromme Muslime angesprochen und behandelt werden. So wird von den Frauen in der türkischen Diaspora generell erwar­tet, Hüterin von Frömmigkeit zu sein.

Die darin zum Ausdruck kommende kon­servative Moral mit der Familie als Kern der Gesellschaft und den dazugehörigen traditionellen Geschlechterrollen gilt als Antidot gegen die vermeintliche Unter­grabung der türkischen Identität durch den europäischen Lebensstil. In dieses Horn bläst auch die Diyanet, das staatliche Präsi­dium für Religiöse Angelegenheiten. Doch nicht nur sie. In den letzten zwei Jahrzehnten hat die AKP-Führung ein Patronagenetz­werk errichtet, in dem alte und neu ge­grün­dete Diasporaorganisationen ihren Platz haben. Das Handeln dieser Institutionen ist darauf gerichtet, die türkeistämmigen Ge­meinschaften im Ausland nach dem politi­schen und kulturellen Selbstbild der Regie­rungspartei zu formen, den Zu­griff der Partei auf die Stimmen der Dia­spora zu sichern und auf diese Weise dazu beizutragen, die politische Hegemonie der AKP in der Türkei zu sichern.

Eine politisch aktive türkische Diaspora steht im Einklang mit der Weltanschauung der AKP

Doch das Interesse der AKP an der türkischen Diaspora geht weit über deren Rolle für die eigene Machterhaltung hinaus. Die Partei ermuntert die Auslandstürken, sich in ihren Aufenthaltsländern politisch zu betätigen und eigene Parteien zu gründen, die fortan (und anstelle der etablierten Parteien) die Vertretung der Türken und (anderen) Muslime in den nationalen Parla­menten und im Europaparlament übernehmen sollen. Diese neuen Parteien sollen sich insbesondere den Forderungen und Belangen der (konservativen) Türken und Muslime annehmen.

Ein sprechendes Beispiel ist die Partei DENK (auf Türkisch: »gleich« oder »aus­geglichen«) in den Niederlanden. Gegründet haben die Partei zwei türkeistämmige Ab­geord­nete des niederländischen Par­laments (Zweite Kammer), die vorher von der Partij van de Arbeid (PvdA) ausgeschlossen wor­den waren. In ihrem Parteiprogramm setzt sich DENK für eine tolerante Gesellschaft und für globale Gerechtigkeit ein, die durch die Reform internationaler Institutionen erreicht werden soll. Die Partei fordert die Einrichtung einer Dokumentationsstelle für rassistische Vorfälle, die Einführung von Islamunterricht im Rahmen des regulären Schulbesuchs, eine Imam-Ausbildung ohne Mit­sprache der niederländischen Regierung und die Beschäftigung von Imamen in Kranken­häusern, Gefängnissen und beim Militär. Zurzeit ist DENK mit drei Abgeordneten im niederländischen Parlament ver­treten. 2019 gelang es ihr nicht, einen Kandidaten ins Europaparlament zu ent­senden. An den EP-Wahlen von 2024 nahm die Partei nicht teil.

Ein weiteres Beispiel ist DAVA (Demokratische Allianz für Vielfalt und Aufbruch). Die von vier türkeistämmigen Bundes­bürgern vollzogene Parteigründung erregte großes Aufsehen. Dazu beigetragen hat ihr Name, steht arabisch »Da’wa« doch für die Einladung von Nichtmuslimen zum Islam und wird der Begriff doch auch in der isla­mistischen Bewegung der Türkei häufig verwendet.

Einer der Parteigründer war bis 2011 Mit­glied der SPD, zwei andere waren in der Union Internationaler Demokraten (UID) aktiv, eine Lobby-Organisation der AKP zur Wahlmobilisierung türkischer Migranten. Ganz ähnlich wie für DENK hat auch für DAVA der Kampf gegen Islamophobie Prio­rität, und die Partei fordert die Anerkennung muslimischer Verbände als Körperschaften des Öffentlichen Rechts. Die Festigung traditioneller Geschlechterrollen ist ein weiteres zentrales Anliegen.

Ausweitung des Einflusses der Türkei auf internationaler Ebene

Das Diaspora-Engagement der AKP-Regie­rung ist auch Teil ihrer Außenpolitik. So wie sich die Türkei heute in Europa als Anwältin der frommen Türken präsentiert, so stellt sie sich im globalen Rahmen als Unterstützerin der Muslime und darüber hinaus als Schutzpatronin der Entrechteten und Machtlosen dieser Welt dar.

Für die leitenden Kader der AKP gilt, dass die Ermächtigung des konservativen Teils der türkischen Bevölkerung und ihrer from­men Gemeinschaften unter Führung Erdo­ğans nur das Vorspiel für die Bemühungen der Türkei zur Befreiung und Ermächtigung der Entrechteten auf internationaler Ebene ist. Unvermeidbar nehmen auch in diesem Narrativ Muslime und der Islam einen pro­mi­nenten Platz ein. In den letzten zehn Jahren pflegte Ankara einen Diskurs, der die Türkei in vier zentralen Punkten auf glo­baler Ebene als Vorkämpferin für die Rechte der Unterdrückten darstellt. So ist die Türkei eine, wenn nicht die Speerspitze

  1. bei der Verteidigung von Palästina und der Rechte der Palästinenser;

  2. beim Kampf gegen Islamophobie (nahe­zu ausschließlich) in den USA und in Europa;

  3. bei der Kritik der kolonialen Vergangenheit des Westens. (Hier macht die türkische Regierung sich postkoloniale Narrative zu eigen und stärkt ehemaligen Kolonien bei ihren Beschwerden gegen westliche Staa­ten den Rücken);

  4. bei den Forderungen nach einer Reform des internationalen politischen Systems. Hier präsentiert sich die Türkei als ein Akteur, der für mehr Inklusivität und Gleichheit streitet.

All diese Punkte finden Anklang bei tür­kischen und muslimischen Gemeinschaften in Europa, nehmen sie doch das weit ver­breitete Unbehagen dieser Gruppen über Ausgrenzung und Diskriminierung auf. Die Migranten sehen sich in den letzten Jahren in den Aufnahmegesellschaften einer zu­nehmend stärkeren Betonung einer beson­deren europäischen oder jeweils nationalen Zivilisation gegenüber, die es vor Einwanderung zu schützen gelte. Dieser Diskurs schafft einen perfekten Resonanzraum für das identitäre Narrativ der AKP. Einerseits sind die Programme von Parteien wie DENK und DAVA Spiegelbilder der Ideologie der AKP. Doch adressieren sie andererseits reale Ängste der Diaspora vor Diskriminierung und Islamfeindlichkeit. So wirkt die AKP-Rhetorik zumindest auf Teile der Migranten über­zeugend. Doch nicht für alle.

Polarisierung innerhalb der türkischen Diaspora

Denn für die AKP und ihre Führungskader gehören nicht alle Teile der Diaspora in gleichem Maße zur türkischen Nation, wie man sie sich in Ankara vorstellt. Konser­vative Frömmigkeit ist ein Kriterium. Genau­so wichtig ist jedoch Loya­lität zu Erdoğan und zu seiner Partei.

So wie ihre Bevölkerung war auch die Einwanderung aus der Türkei stets viel­fältig: sprachlich, religiös, ethnisch und auch politisch und deshalb nie frei von in­ternen Konflikten. Neu sind die Hegemonie der AKP und der stärkere Impetus der staat­lichen Diasporapolitik, welche die Spannungen in den türkeistämmigen Gemeinschaften im Ausland erhöhen. Heute ist selbst das konservative Lager der Diaspora geteilt zwischen Befürwortern und Gegnern Erdo­ğans. Zu den Letzteren zählen Anhän­ger der rechtsnationalen Guten Partei (İyiP) und Sympathisanten der liberal-konserva­tiven Parteien Gelecek und DEVA, beides Ab­spaltungen von der AKP. Im Mai 2023 kam es während der Doppelwahlen zum Parlament und zum Präsidentenamt in der Türkei in Belgien, in den Niederlanden und in Frankreich vereinzelt erstmals zu gewalt­samen Aus­einandersetzungen.

Ein weiter Grund für Spannungen in der türkischen Diaspora ist das Verbot des Fethullah-Gülen-Netzwerks in der Türkei nach dem fehlgeschlagenen Putschversuch von 2016 und der Versuch der türkischen Regierung, das Netzwerk auch im Ausland zu zerschlagen.

Grenzüberschreitende Verfolgung

Tatsächlich hat die AKP-Regierung, beson­ders seitdem sie zu einem offenen Kampf gegen die Gülenisten übergegangen ist, ihre Aktivitäten zur Unter­drückung von poli­tischer Opposition auch außerhalb der Tür­kei verstärkt. So wurde 2017 bekannt, dass deutsche Behörden Ermittlungen gegen Imame und andere Angehörige der »Tür­kisch-Islamischen Union der Diyanet« (DITIB), den deutschen Ableger der türki­schen Religionsbehörde, aufgenommen hatten. Die Funktionäre wurden beschuldigt, geheimdienstlich relevante Informa­tionen über türkische Staatsangehörige in Deutschland gesammelt und wei­tergeleitet zu haben, von denen in Ankara angenommen wurde, dass sie Verbindungen zum Gülen-Netzwerk haben. Presseberichten zufolge waren in den Niederlanden, Öster­reich, der Schweiz und Belgien auch die Religionsattachés von türkischen diplo­ma­tischen Vertretungen in dieser Richtung tätig. Im Rahmen ihrer globalen Verfolgung von Gülenisten hat Ankara, so Freedom House in einem ausführlichen Bericht, neben Verhaftungen und der Überwachung von Reisetätigkeit auch Auslieferungen von türkischen Staatsbürgern durchgesetzt, die das jeweilige nationale Recht verletzten (illegal rendition).

Doch Gülenisten sind keineswegs die Ein­zigen, die sich im Fadenkreuz Ankaras befinden. Seit 2016 richtet die AKP-Regie­rung die genannten Methoden auch gegen andere Gruppen. So hat sie gegenüber Schweden die Auslieferung von Personen, die sie als Gülenisten oder als Unterstützer der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und der syrisch-kurdischen PYD ansieht, zur Bedin­gung für ihr »Ja« zum Nato-Beitritt des skan­dinavischen Landes gemacht. Die PKK ist in der EU und den USA als Terrororganisation gelistet, nicht jedoch die mit ihr affiliierten Kurden in Nordsyrien. In seiner Rede vom 16. Januar 2014 hat Außenminister Hakan Fidan, der früher den Nationalen Geheimdienst geleitet hat, bekannt gegeben, dass die Türkei Maßnahmen ergriffen habe, um die Finanzquellen der PKK auszutrocknen, die der Organisation von »Anti-Türkei-Kreisen« gewährt würden. Ende März 2024 ist es in Belgien nach langer Zeit wieder zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Türken und Kurden gekommen.

Ausblick

In Anbetracht der politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse in der Türkei ist es sehr wahrscheinlich, dass Ankara in den kommenden Jahren damit fort­fahren wird,

  1. die Sorgen und Nöte besonders von mus­limischen Migranten und ihren Nachkommen für seine Politik auszunutzen,

  2. gegebene Unterschiede zwischen der Diaspora und der Mehrheitsgesellschaft als unüberbrückbar darzustellen,

  3. die Polarisierung innerhalb der türkischen Diaspora voranzutreiben und

  4. der türkischen Opposition auch außer­halb der Türkei nachzustellen.

Die Selbstinszenierung der türkischen Regierung als stete Verteidigerin der Muslime und des Islam steht im Einklang mit der von der AKP betriebenen Politik einer umfassenden Islamisierung des All­tagslebens, was sich besonders in der Fami­lien- und Bildungspolitik niederschlägt. Die Bruchlinien innerhalb der türkischen Dia­spora werden ebenfalls nicht verschwinden. Dagegen spricht schon die anhaltende Zu­wanderung aus der Türkei. Schließlich war 2023 das Jahr mit der bislang höchsten Zahl von Asylanträgen türkischer Staatsbürger in der EU.

Doch einiges deutet darauf hin, dass die Zustimmung zur AKP und ihrer Führung innerhalb der türkeistämmigen Gemeinschaften einen Scheitelpunkt erreicht hat. So ist zwar seit 2014 die Wahlbeteiligung in der Diaspora stetig gestiegen, doch die Zu­wachsraten flachen ab. Die jüngste Steige­rung von 50,1 Prozent im Jahr 2018 auf 52,04 Prozent im Jahr 2023 ist wohl größ­tenteils auf die stärkere Mobilisierung der Opposition zurückzuführen. Zum Zweiten arbeiten die Regierungen der europäischen Aufnahmeländer daran, den Einfluss Ankaras auf die Diaspora zu mini­mieren. Seit 2018 besteht für türkische Par­teien ein Verbot, in EU-Mitgliedstaaten Wahlkampf zu betreiben. Zwar haben tür­kische Poli­tiker über Moscheegemeinden und andere Migrantenorganisationen noch immer Zu­gang zu potentiellen Wählern in der Dia­spora, doch die Reichweite dieser Kanäle ist begrenzt.

Gleichzeitig bemühen sich die europäischen Regierungen, der Auslandsfinanzierung von Moscheegemeinden einen Riegel vorzuschieben. So hat es Österreich 2020 im Rahmen seiner Anti-Terror-Gesetz­gebung Religionsgemeinschaften untersagt, vom Ausland Gelder anzunehmen. Und auch andere Länder sehen mittlerweile bei der Ausbildung von Imamen genauer hin. In Deutschland hat das Innenministerium 2023 angekündigt, die Zulassung von Ima­men aus der Türkei – eine jahrzehntelang geübte Praxis – schrittweise zu beenden. Ende 2023 wurden in Frankreich ähnliche Schritte unternommen. Bereits 2020 verbot Paris die »Grauen Wölfe«, eine rechtsextreme Jugendorganisation, die eng mit der ihrerseits ganz am rechten Rand zu verorten­den »Partei der nationalistischen Bewegung« (MHP) verbunden ist. Die MHP macht seit 2018 mit der AKP in der so­genannten »Volks­allianz« gemeinsam Wahl­kampf. Bereits 2019 wurde das Kenn­zeichen der »Grauen Wölfe« in Österreich als Symbol einer extremen Organisation verboten. Auch die Parlamente Deutschlands und der Niederlande haben bereits über ein Verbot der »Grauen Wölfe« beraten, und in Deutschland hat die Organisation einen festen Platz in den Verfassungsschutz­berichten des Bundes und der Länder. All diese Maßnahmen bezeugen das Bemühen der Aufnahmeländer, den ausländischen Einfluss auf die politischen Dynamiken in der Diaspora zu minimieren.

Abschließend muss man sich vor Augen halten, dass weder die türkischen Migranten noch ihr Nachwuchs den Aktivitäten Ankaras nur passiv gegenüberstehen. Ein Beispiel dafür war 2018 der Rücktritt des gesamten Vorstands von DITIB-Nieder­sachsen als Reaktion auf die Intervention der Kölner DITIB-Zentrale und ihres Reli­gionsattachés in die Arbeit der Organisa­tion. Auch ist, wenn im Sinne der AKP ge­handelt wird, nicht immer Ideologie im Spiel. Oft geben Pragmatismus und Nütz­lichkeitserwägungen den Ausschlag. Und eine ganz andere Frage ist, wie überzeugend die von der AKP propagierte konservative Sittlichkeit für Angehörige der jungen Generation ist.

Empfehlungen

Die Regierungen der europäischen Auf­nahmeländer türkischer Migration aber auch die politischen Parteien und zivil­gesellschaftliche Akteure in Europa sollten

  • die Politik der AKP-Regierung nicht mit den Sorgen und Nöten und mit den da­raus resultierenden Forderungen der türkischen und muslimischen Diaspora gleichsetzen. Dem Erstarken rechts­extremer Stimmen und Bewegungen zum Trotz bleibt es unverändert wichtig, den Einwanderern durch Wort und Tat zu signalisieren, dass sie in den Gesellschaften ihrer Aufenthalts­länder gleichberechtigt und gleichwertig sind. Nur eine solche Politik begrenzt die Möglichkeiten Ankaras, aus dem Ressentiment, das sich in der Diaspora gegen die Mehrheitsgesellschaft zu bilden droht, politisches Kapital zu schlagen;

  • in ihrer Kritik an der derzeitigen tür­kischen Diasporapolitik klar zwischen der türkischen Regierung und den sie tragenden Parteien auf der einen Seite und »der Türkei« und »den Türken« auf der anderen Seite differenzieren;

  • neue und effektive Wege für die poli­tische Partizipation von Migranten und ihren Nachkommen etablieren;

  • unter Berücksichtigung der jeweiligen nationalen gesetzlichen und institutionellen Gegebenheiten den Islam als legitimen Bestandteil ihrer Gesellschaften akzeptieren, religiösen Organisationen der Muslime einen vergleichbaren Status wie christlichen und jüdischen religiösen Organisationen gewähren, ihnen dieselben Rechte zusprechen und von ihnen die Übernahme derselben Pflichten fordern;

  • jedwede administrative Befehlskette zwischen staatlichen religiösen Institu­tionen anderer Länder und religiösen Orga­nisationen der Diaspora auflösen;

  • auf diese Weise auf die Unabhängigkeit und Selbständigkeit der Diasporagemein­den von der Türkei hinarbeiten und da­durch auch zu mehr Inklusivität innerhalb der Diaspora beitragen.

Dr. Sinem Adar und Dr. Yaşar Aydın sind Wissenschaftler im Centrum für angewandte Türkeistudien (CATS) in der SWP, Dr. Cengiz Günay ist Direktor des Österreichischen Instituts für Internationale Politik (OIIP) und lehrt in den Abteilungen Politische Wissenschaften, Nahost-Studien und Internationale Entwicklungen der Universität Wien, Dr. Günter Seufert war Gründungsdirektor des CATS.

Das Centrum für angewandte Türkeistudien (CATS) wird gefördert durch die Stiftung Mercator und das Auswärtige Amt.

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