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Die USA auf dem Weg in die Systemkrise

Warum demokratische Institutionen erodieren

SWP-Aktuell 2024/A 16, 11.03.2024, 8 Seiten

doi:10.18449/2024A16

Forschungsgebiete

Wenn sich die derzeitigen politischen Trends in den USA unverändert fortsetzen, ist eine Krise der Demokratie nur eine Frage der Zeit – und zwar unabhängig davon, wer die Präsidentschaftswahlen am 5. November 2024 gewinnt. Eine erneute Amtszeit Donald Trumps würde die Schwächung demokratischer Institutionen, die in der Leug­nung des Ergebnisses der letzten Präsidentschaftswahl gipfelte, massiv beschleunigen. Aber auch wenn Joe Biden noch einmal siegt, bleiben die Probleme des poli­tischen Systems gravierend: Das Vertrauen der Bevölkerung in die Integrität von Wahlen sinkt, die Bedeutung des Kongresses als institutionelle Instanz zur Kontrolle des Präsidenten nimmt ab und Strafverfolgung sowie Gerichtsbarkeit werden immer stärker politisiert. Vor diesem Hintergrund scheint es möglich, dass sich die Situation infolge eines knappen Wahlausgangs noch zuspitzt.

Nicht erst seit dem Sturm auf das Kapitol am 6. Januar 2021 lässt sich in den USA ein Ver­trauensverlust der Bevölkerung in demo­kratische Institutionen wahrnehmen. Die Entwicklungen, die dazu geführt haben und überdies die Effektivität der Regierung einschränken, sind bereits seit Jahren, teils Jahrzehnten, zu beobachten. Allerdings deutet die zunehmende Häufigkeit von Tabu­brüchen und Grenzüberschreitungen durch Trump und andere politische Akteure – sowie der fehlende Widerstand dagegen – darauf hin, dass sich das poli­tische System Amerikas einem gefährlichen Kipppunkt nähert. In komplexen Systemen, etwa dem globalen Klima, bezeichnet man damit einen kritischen Punkt, an dem weitere (und selbst geringfügige) Veränderungen dramatische und mög­licherweise unumkehrbare Auswirkungen haben können. Mit Bezug auf politische Systeme ist es noch schwieriger als bei Öko­systemen, solche Kipp­punkte zu identifizieren. Es ist jedoch keines­wegs auszuschließen, dass die amerikanische Demokratie nach den bevorstehenden Wahlen in eine tiefe Systemkrise gerät.

Von der Polarisierung zur Spaltung

Seit Jahren nimmt die im amerikanischen System der Gewaltenteilung unverzichtbare Bereitschaft zur überparteilichen Zusammen­arbeit und zu Kompromissen ab. Mehr noch, immer häufiger führen Versuche, der eigenen Partei einen machtpolitischen Vor­teil zu verschaffen, zu Verstößen gegen etablierte Verfahren. Die Erosion demokratischer Institutionen in den USA lässt sich nur vor dem Hintergrund verstehen, dass sich die politische Polarisierung zwischen den beiden großen Parteilagern zu einer identitätsbasierten gesellschaftlichen Spal­tung verfestigt hat. Polarisierung meint, dass sich die inhaltlichen Positionen zu zentra­len innenpolitischen und gesellschaftspolitischen Fragen in entgegengesetzte Rich­tun­gen entwickelt haben – die Demo­kra­ten werden liberaler und rücken nach links, die Republikaner werden immer konservativer und rücken weiter nach rechts. Identitäts­basierte Spaltung dagegen bedeutet, dass es in der politischen Ausein­andersetzung um weit mehr geht als um Mei­nungsdifferenzen zu bestimmten politischen Fragen. Spal­tung betrifft viel­mehr die Grundcharakteris­tika – also die Identitäten – sozialer Gruppen.

Diese Spaltung ist das Ergebnis des Zusam­menwirkens langfristiger gesell­schaftlicher Veränderungsprozesse und strategischer Ent­scheidungen von Politikerinnen und Poli­tikern beider Par­teien. Der Ausgangspunkt dieser Entwicklung war die Neusortie­rung der Parteien und ihrer Wählerklientel im Umgang mit dem Erbe der Sklaverei und mit der Diskriminierung von Afroamerika­nern. Mitte der 1960er Jahre entschied sich die Demokratische Partei im US-Kongress da­zu, die recht­liche Gleichstellung der schwar­zen Bevöl­kerung zu unterstützen. In der Folge liefen weiße, konservative Wählergruppen ins­besondere in den Südstaaten zur Repub­li­kanischen Partei über und wurden ein zent­raler Bestandteil ihrer Basis. Liberale Weiße und Nichtweiße hingegen wurden ein Grundpfeiler der demokratischen Koalition.

Republikanische Politiker von Richard Nixon über Newt Gingrich bis Donald Trump haben ihre Partei seither dazu getrieben, Wahlen vor allem dadurch zu gewinnen, dass sie die eigene weiße und konservative Kernklientel mobilisieren. Demokraten haben es aufgrund ihrer viel heterogeneren »Wahlkoalition« seit jeher schwerer mit der Mobilisierung, aber auch sie haben ver­sucht, ihre Klientel an die Wahlurnen zu bringen, indem sie vornehmlich in der Migrationspolitik und bei Fragen der Diskriminierung liberale Positionen vertreten.

Um eine polarisierte Wählerschaft zu mobilisieren, haben die Parteien die Gegen­sätze immer mehr zum Thema gemacht und dadurch verschärft. Ver­stärkt wurde diese Tendenz durch einen Medienmarkt, der sich nicht zuletzt durch das Inter­net stetig weiter ausdifferenziert hat. Wäh­le­rin­nen und Wähler greifen auf Informations­quellen zurück, die sie in ihren Auffassungen be­stärken. So haben sich im Laufe der letzten 50 Jahre die parteipolitischen Präfe­renzen in den USA nicht nur mit den eth­ni­schen, sondern auch mit reli­giösen, kultu­rel­len, sexuellen und ideo­logischen Iden­ti­täten ver­bunden. Nach dem Motto: Sage mir, wer du bist, und ich sage dir, wen du wählst.

Identitäten verändern sich allenfalls lang­fristig und sind anders als politische Mei­nungs­verschiedenheiten nicht verhandelbar. Dementsprechend haben die Animositäten zwi­schen der Kernklientel der Demo­kraten und derjenigen der Republikaner in den letzten Jahren und Jahrzehnten stark zugenommen, bis hin zu gegenseitiger Verachtung oder gar offenem Hass. Ist die Spaltung der Gesellschaft so weit vorangeschritten, wird Politik als existentiell wahr­genommen und der Kon­trollverlust über politische Institutionen – seien es die Prä­si­dentschaft, die Mehrheiten im Kongress oder die Besetzung von Äm­tern in der Justiz – zu einer Bedrohung des eigenen Lebensstils. Auch wenn diese Art der identi­tätsbasierten Spaltung nicht alles in der ame­rikanischen Politik dominiert, prägt sie doch das Verhalten maßgeblicher politischer Akteure. Das betrifft grundsätzlich beide Parteien, die Republikaner allerdings in deut­lich höhe­rem Maße als die Demokraten.

Wie sehr diese existentielle Angst das poli­tische Klima in den USA beeinflusst, zeigt sich unter anderem in dem viel disku­tierten politischen Programm Project 2025, erstellt vor den diesjährigen US-Wah­len von einer Vielzahl konservativer Gruppen und Perso­nen unter Federführung der Heritage Foun­dation. Project 2025 gilt vielen als Blau­pause für ein Regierungsprogramm einer mög­lichen Trump-II-Regie­rung. Im einleitenden Kapitel ist zu lesen: »Mit jeder Stunde, in der die Linke die Bundespolitik und die Elite­institutionen lenkt, rücken unsere Sou­veränität, unsere Verfassung, unsere Fami­lien und unsere Freiheit ein Stück näher an den Rand des Abgrunds.« Donald Trump macht sich diese Angst ebenfalls zunutze. Am 6. Ja­nuar 2021 rief er seinen Anhän­gern zu: »Wenn ihr nicht kämpft wie der Teufel, werdet ihr kein Land mehr haben.«

Wenn aber die politische Auseinandersetzung zur Existenzfrage wird, ist es dann nicht auch gerechtfertigt, zur Abwendung der Katastrophe die eigene Macht selbst dann zu wahren, wenn dies im Widerspruch zu demokratischen Institutionen steht? Eine solche Institution, die in den letzten Jah­ren zunehmend unter Druck gerät, ist die Durchführung freier und fairer Wahlen – und die Anerkennung ihres Ausgangs.

Delegitimierung von Wahlen

Die Erstürmung des US-Kapitols am 6. Ja­nuar 2021 durch Trump-Anhänger war eine Zäsur. Obwohl der gewaltsame Aufstand nach dem Wahlerfolg Joe Bidens die Amts­übergabe letztlich nicht verhinderte, war damit die Tradition des friedlichen Macht­transfers in den USA gebrochen. Der noch amtierende Präsident hatte seine Niederlage nicht anerkannt und versucht, durch die Lüge von der »gestohlenen Wahl« und die Anstachelung seiner Anhänger die Macht­übergabe zu verhindern. Selbst nach der Eskalation stimmten an diesem Tag gut zwei Drittel der republikanischen Ab­ge­ord­neten im Repräsentantenhaus dagegen, das Wahlergebnis anzuerkennen: 139 Personen.

Der 6. Januar wirkte zunächst wie ein Weckruf. Die Gewalt veranlasste sogar viele Republikaner, sich von Trump zu distan­zieren. Die Kritik an Trump innerhalb der republikanischen Partei verstummte jedoch schnell wieder, die Episode selbst wird zu­neh­mend Gegenstand revisionistischer Dar­stellungen. Etwas weniger als die Hälfte der repu­bli­kanischen Wählerinnen und Wähler glaubt weiterhin, Biden sei nicht der recht­mäßige Präsident der USA. Nur eine Minder­heit der Republikaner hält die Beschreibung der Ereignisse als Auf­stand (insurrection) für zutreffend und auch der Anteil derer, die sie als Ausschreitungen (riot) be­zeichnen, sinkt. Dagegen nannten im Juni / Juli 2023 58 Prozent der Republikaner den Sturm auf das Kapitol einen legitimen Pro­test. Kon­servative Kom­men­tatoren und Kongress­mitglieder behaup­ten, die Berichte über die Gewalt seien entweder übertrieben oder die Gewalt sei Resul­tat einer Verschwö­rung seitens linker Kräfte gewe­sen. Ent­sprechend wird auch die straf­rechtliche Auf­arbeitung als poli­tisch moti­viert abgelehnt, die ver­urteilten Beteiligten wer­den von manchen politischen Amts­trägern als »poli­tische Gefangene« oder »Geiseln« betrachtet. Trump hat für den Fall seines Wahlsiegs bereits Begnadigungen in gro­ßem Umfang ange­kündigt.

Donald Trump war der erste Kandidat der jüngeren Geschichte, der das Ergebnis einer Präsidentschaftswahl nicht akzeptierte. Doch waren schon zuvor Wahlverfahren Gegenstand parteipolitischer Kontroversen: Insbesondere Republikaner und kon­serva­tive Meinungsmacher haben immer wieder vor der Gefahr durch Wahlbetrug – durch gefälschte Identitäten, mehrfaches Abstim­men in verschiedenen Bundesstaaten oder Manipulation in den Wahllokalen – ge­warnt. Die Heritage Foundation führt eine Online-Datenbank, in der für den Zeitraum von 1982 bis 2023 etwa 1.500 aus ihrer Sicht belegte Einzelfälle von Wahl­betrug doku­mentiert sind. Selbst wenn dies genau so zu­träfe, rechtfertigt diese Größenordnung (1.500 Fälle über einen Zeitraum von gut 40 Jah­ren in 50 Bundesstaaten) kaum die Be­haup­tung, Wahlbetrug sei ein systematisches Pro­blem in den USA – zumal bislang kein wahlentscheidender Fall von Betrug bekannt geworden ist.

Dennoch begründen Regierungen in republikanisch kontrollierten Bundesstaaten die Einführung neuer Hürden für die Stimmabgabe mit der Notwendigkeit, Wahl­betrug zu verhindern. Zu diesen Maßnahmen zählen unter anderem Beschränkungen der Briefwahl, das Verbot mobiler Wahl­boxen, die Verkürzung der Fristen für die vorzeitige Stimmabgabe oder schärfere Vor­gaben für die Ausweispflicht beim Wäh­len. Aus der Sicht von Kritikerinnen und Kriti­kern ist der angebliche Wahl­betrug ledig­lich ein Vorwand, um diejenigen Wählergruppen von der Stimmabgabe abzu­halten, die den Demo­kraten zugeneigt sind, vor allem Afroamerikaner und Ange­hörige anderer ethnischer Minderheiten. Die USA sind nicht zuletzt auch deshalb besonders an­fällig für die Politisierung von Wahlverfahren, weil anders als sonst in westlichen Demo­kratien üblich der Wahlprozess von politi­schen Mandatsträgern kontrolliert wird statt von einer un­parteiischen Verwaltung.

Bedeutungsverlust des Kongresses als politische Kontrollinstanz

Aufgrund der voranschreitenden politischen Spaltung ist der US-Kongress zusehends weniger willens und in der Lage, die ihm von der Verfassung zugedachte Kontrollfunk­tion gegenüber der Exekutive auszufüllen. Wichtige Verfahren, die politische Ver­antwortlichkeit sicherstellen sollen, werden immer öfter und im­mer offener durch par­tei­politische Instru­mentalisierung entwertet. Dadurch werden sie ihrer (notwendigen) Funktion im System der gegenseitigen Kont­rolle der Gewalten beraubt. Ausschuss­anhörungen etwa dienen nicht mehr dazu, Sach­verhalte zu unter­suchen und Exper­tise zu­sammenzutragen, sondern nur noch dazu, sich gegenseitig Schuld zuzuweisen und mediale Aufmerksamkeit zu schaffen.

Besonders offensichtlich ist die Aushöhlung der Kontrollfunktion des Kongresses mit Blick auf das Amtsenthebungsverfahren (impeachment) als letztes Mittel, um Fehl­verhalten zu verhindern bzw. zu ahnden. Besteht ein begründeter Verdacht des Amts­missbrauchs, kann der Kongress sowohl gegen den Präsidenten oder Mit­glieder des Kabinetts als auch gegen Bun­desrichter ein solches Verfahren einleiten. Als Richard Nixon Amtsmissbrauch und zahl­reiche Ver­fehlungen nachgewiesen werden konnten, war er 1974 zum Rück­tritt gezwungen; damit kam er einer überparteilich unterstützten Amtsenthebung zuvor. Zugleich setzte der Kongress damals mit Zustimmung beider Parteien umfassende Reformen durch, um die Exe­kutive in Zu­kunft besser kontrollieren zu können. Im Gegen­satz dazu haben die jüngeren Im­peach­ment-Versuche die Gräben zwischen den Parteien nur vertieft.

Anlass für das erste Impeachment-Ver­fah­ren gegen Trump war der Vor­wurf, er habe als Präsident den ukrainischen Regie­rungschef Wolodymyr Selenskyj un­zulässig unter Druck gesetzt, um persön­liche innen­politische Ziele zu verfolgen; Trump hielt damals vom Kongress bereits bewilligte Mili­tär­hilfen für Kyjiw zurück. Obwohl zahl­reiche Beamte aus dem Regierungsapparat Trump belasteten, verhinderte die republika­nische Mehrheit im Senat eine Verurteilung. Auch der zweite Versuch einer Amts­enthe­bung, diesmal wegen Trumps Verantwortung für den Sturm auf das Kapitol, schei­terte dar­an, dass die Republikaner im Kon­gress ihre Loyalität zu Trump über ihre insti­tu­tio­nelle Kontroll­funktion stellten. Anders­denkende wie die Abgeordneten Liz Cheney und Adam Kinzinger, die als einzige Repub­likaner den anschließenden Unter­suchungs­ausschuss zum 6. Januar 2021 nicht boykot­tierten, wurden aus ihren Ämtern gedrängt.

Nach den Zwischenwahlen 2022 nutzt die republikanische Mehrheit im Repräsentantenhaus nun allerdings ihre Aufsichtskompetenzen, um Verfahren gegen die Biden-Administration anzustrengen. So wurde zum Justizausschuss ein neuer Unter­ausschuss eingerichtet, dessen Vorsitz der Trump-Verbündete Jim Jordan innehat: das »Select Subcommittee on the Weaponization of the Federal Government«. Die republikanischen Mitglieder dieses Unterausschusses behaup­ten, die Biden-Administration und Regie­rungs­beamte würden staatliche Insti­tutio­nen zum Nach­teil politischer Gegner instru­men­talisieren. Damit leisten diese Ausschussmitglieder dem von Trump verbreiteten Nar­ra­tiv eines »Deep State« Vorschub.

Ferner wurde ein Amtsenthebungsverfah­ren gegen Heimatschutzminister Ale­jandro Mayorkas eingeleitet wegen »Verletzung des öffentlichen Vertrauens« sowie »vor­sätz­licher und systematischer Weigerung, das Gesetz einzuhalten«. Die Kritik an Mayorkas basiert jedoch vor allem auf politischen Dif­ferenzen in der Migrationspolitik, es gibt keinerlei Hinweise auf Gesetzesverstöße.

Schließlich ermitteln der legislative Kontrollausschuss und der Justizausschuss im Rahmen einer Impeachment-Unter­suchung auch gegen Präsident Biden. Grund sind die Geschäfte seines Sohnes Hunter Biden, gegen den unter anderem wegen Steuerhinterziehung ermittelt wird. Er hatte während der Vizepräsidentschaft seines Vaters lukrative Aufsichtsratsposten in ukrainischen und chinesischen Unternehmen inne. Allerdings gibt es bisher keiner­lei Hinweise darauf, dass der Präsi­dent in die Geschäfte seines Sohnes verwickelt war.

Die Ursache dafür, dass die Kontroll­instrumente des Kongresses gegenüber der Exekutive so stark politisiert – und damit entwertet – worden sind, liegt ebenfalls in der krassen Spaltung der politischen Lager. Und auch hier waren die Republikaner die treibende Kraft. So verweigerten sie nach der Wahl Barack Obamas zum Präsidenten jegliche Zusammenarbeit. Vor den Zwi­schen­wahlen 2010 gab der spätere Mehr­heits­führer im Senat Mitch McConnel zu Proto­koll, sein wichtigstes Ziel sei es, die Wieder­wahl Obamas zu verhindern. Der angehende Vorsitzende des Repräsentantenhauses John Boehner gab die Devise aus, alles dafür zu tun, Obamas Agenda zu »vernichten, auf­zuhalten und zu verzögern«. Nach ihrem deut­lichen Sieg bei diesen Zwischenwahlen verfolgten die Republikaner im Kongress eine Blockadepolitik in einem zuvor nicht gekannten Ausmaß.

Eine neue Qualität der parteipolitischen Obstruktion legte Mehrheitsführer Mitch McConnel im Senat an den Tag, in­dem er zahlreiche zustimmungspflichtige Nominie­rungsvorschläge des Präsidenten für politi­sche und juristische Ämter blockierte. Ins­besondere die Er­nen­nung von Bundesrichte­rinnen und ‑rich­tern brachte er praktisch zum Erliegen. In der Vergangenheit hatte der Senat die Präferenzen des Präsidenten in der Regel akzeptiert – auch im Falle ideologischer Diffe­renzen. Nur in Ausnahmefällen, etwa bei mangelnder Qualifika­tion oder gravierendem Fehl­verhalten, ver­weigerte er die Bestäti­gung. McConnel ver­hinderte zuletzt sogar, dass Obama einen frei gewor­denen Richter­posten im Obersten Gerichtshof nachbesetz­te. Das bedeutete eine neue Eskalationsstufe im parteipolitischen Kampf um die ideologische Ausrichtung des Obersten Gerichtshofs.

Fortschreitende Politisierung der Justiz

In den USA wird die juristische Philosophie und ideologische Ausrichtung von Rich­te­rin­nen und Richtern öffentlich thematisiert. Auf lokaler und bundesstaatlicher Ebene werden zahlreiche Posten – vom Sheriff über die Staatsanwältin bis zum Richter – durch Wahlen besetzt, denen ent­sprechend poli­tische Kampagnen vor­aus­gehen. Dennoch sollen die Gerichte gegen­über den eigent­lichen politischen Gewalten eine wichtige Kontrollfunktion einnehmen. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass sie auch von der unterlegenen Seite als im Wort­sinn »un­parteiisch« anerkannt werden.

Seit Jahren erodiert diese überparteiliche Legitimität der Gerichte jedoch. Nicht nur beim Obersten Gerichtshof bekommt die ideo­logische Ausrichtung der Rich­terinnen und Richter immer grö­ßere Bedeutung; die politische und gesell­schaft­liche Spaltung wirkt sich ebenso auf die Gerichte unterer Instanz aus. Mittler­weile ist gar vom Ein­satz der Justiz als Waffe gegen politische Geg­ner die Rede, ein klassisches Merkmal von fra­gilen Demokratien und Autokratien.

Auch in dieser Hinsicht hat Donald Trump seit Langem bestehende Trends massiv be­schleunigt. Bereits im Wahlkampf ging er bei Evangelikalen auf Stimmenfang, indem er versprach, konservative Richter zu ernen­nen. Noch entscheidender: Sein Verhalten machte ihn selbst zum Ziel der Justiz und spaltet so die Gesellschaft weiter. Trump muss sich derzeit in etlichen Gerichtsverfah­ren verantworten, darunter vier Straf­pro­zesse (zwei auf Bundesebene, einer in New York, einer in Georgia). Eine wesentliche Stra­te­gie Trumps besteht darin, diese Ver­fahren als politisch motivierte »Hexenjagd« zu dis­kreditieren. So bezeichnet er Behör­den(vertreter) von der Bundespolizei über Staatsanwälte bis hin zu Richterinnen regelmäßig als korrupt und spricht der An­klage jegliche Legitimität ab. In der Wahr­nehmung seiner Anhänger erscheint diese Selbstinszenierung als Opfer von Kräften, die es auf ihn abgesehen hätten, durchaus plausibel. Sie fügt sich nahtlos ein in Trumps Angriffe auf Medien, liberale Eliten und den »Deep State«.

Der Oberste Gerichtshof bleibt davon nicht unberührt. Im Zusammenhang mit Trumps Beteiligung an den Ereignissen des 6. Januar 2021 stehen gleich drei Entscheidungen dieses Gerichts aus. Die erste be­trifft die Frage, ob der Präsident für Hand­lungen im Amt überhaupt strafrechtlich be­langt werden kann oder Immunität genießt. In einem zweiten Fall muss das Gericht dar­über urteilen, ob der Straftat­bestand der Behinderung eines offiziellen Aktes im Zu­sammenhang mit dem Versuch, die Zerti­fi­zierung des Wahlergebnisses zu verhindern, zulässig ist. Das ist ein zen­traler Punkt in der Anklage des Sonder­ermittlers Jack Smith gegen Trump sowie Grundlage der Verurtei­lung zahlreicher Personen, die am Sturm auf das Kapitol beteiligt waren. Die dritte Frage ist vielleicht die heikelste: Gerichte und Wahlleiter in verschiedenen Bundesstaaten sind zu dem Ergebnis gekommen, dass Trump aufgrund einer Beteiligung an einem Aufstand (nach Abschnitt 3 des 14. Verfas­sungs­zusatzes) von einer Kandidatur für die Präsidentschaft auszuschließen ist.

Unabhängig davon, wie der Oberste Gerichtshof in diesen drei Fällen entscheidet – seine Urteile werden von der einen oder von der anderen Seite als parteiisch wahrgenommen werden. Sein Ansehen wird so oder so bei einem signifikanten An­teil der US-Öffentlichkeit Schaden nehmen.

Das Damoklesschwert der politischen Gewalt

Der Sturm auf das Kapitol hat die Gefahr politisch motivierter Gewalt in den Fokus gerückt. Aber auch jenseits dieses Ereignisses nimmt politische Gewalt in den letzten Jahren stark zu, wobei die Mehrheit der Straf­taten von Rechtsradikalen verübt wird. Neben einer Reihe von Gewaltverbrechen mit vielen Toten und rassistischem oder anti­semitischem Hintergrund werden auch Poli­ti­kerinnen und Politiker zum Ziel von Gewalt:

Im Oktober 2020 berichtete das FBI über Pläne, die Gouverneurin von Michigan, Gretchen Whitmer, zu entführen, um einen Sturz der Regierung dieses Bundesstaates herbeizuführen. Am 28. Oktober 2022 drang ein von Verschwörungserzählungen moti­vier­ter Täter in das Haus der demokratischen Abgeordneten Nancy Pelosi, um sie zu ent­füh­ren, und verletzte ihren Ehemann schwer. Falsche Behauptungen über Wahl­betrug führen dazu, dass Personen bedroht werden, die für die Organisation und Durch­führung von Wahlen verantwortlich sind. Und neuerdings wird bewusst mithilfe ano­ny­mer Anrufe fal­scher Alarm ausgelöst und die Poli­zei zu den Wohnsitzen von Repräsen­tanten, Staatsanwälten und Richte­rinnen gerufen. Diese Praxis, inzwischen bekannt als »Swatting« nach der Be­zeichnung der häufig reagierenden Spezial­einheiten (SWAT-Teams), birgt für die Betroffenen auch Ge­fah­ren für die eigene physische Sicherheit.

Wann und wodurch Gewalt tatsächlich ausbricht, lässt sich nicht voraussagen. Einige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler halten die Sorge vor der wachsenden Unterstützung für politische Gewalt in der amerikanischen Gesellschaft für über­trieben. Möglicherweise entfalten auch die vielen Urteile gegen am Sturm auf das Kapi­tol Beteiligte eine abschreckende Wirkung und tragen so zur Mäßigung bei, ebenso wie die hohen Kompensationen, die für die Verbreitung von Lügen gezahlt werden müssen. Nichtsdestotrotz ist denkbar, dass es beispielsweise im Zusammenhang mit einem umstrittenen Ausgang einer Präsi­dentschaftswahl oder eines umstrittenen Gerichtsurteils zu Gewalt kommt, sei es in Form von Massenausschreitungen wie am 6. Ja­nuar 2021 oder durch einzelne poli­tisch motivierte Tätergruppen. Die große Zahl von Schusswaffen in privater Hand macht derartige Szenarien nur umso be­droh­licher.

Szenarien und mögliche Kipp­punkte

Während der Amtszeit Joe Bidens haben sich problematische Entwicklungen der US-Demokratie fortgesetzt: die tiefe politische und gesellschaftliche Spaltung, das un­verantwortliche Handeln von Kongress­abgeordneten, das Misstrauen der Öffentlich­keit gegenüber dem Staat, eine zuneh­mende Bereitschaft zu Gewalt bei Teilen der An­hängerschaft insbesondere der Republikani­schen Partei. Die USA könnten sich einer Situation nähern, in der, vergleichbar mit den Kipppunkten bei der Erderwärmung, eine für sich genommen überschaubare Ent­wicklung bzw. ein einzelnes Ereignis mas­sive und möglicherweise unumkehr­bare Auswirkun­gen auf die ame­rikanische Demo­kratie haben könnte. Ein solches Ereig­nis könnte etwa das Urteil eines ein­zel­nen Gerichts oder ein äußerst knap­pes Ergeb­nis in einem »Swing State« bei den Präsidentschaftswahlen sein.

Vor dem Hintergrund der Erfahrungen aus dem Wahljahr 2020 scheint es durch­aus vorstellbar, dass vor allem bei einem knappen Abstimmungsergebnis eine der beiden Seiten das Resultat nicht anerkennt.

Acht Monate vor dem Wahltermin deutet alles auf eine Wiederholung der Kon­stella­tion von vor vier Jahren hin: Joe Biden gegen Donald Trump. Dabei ist es sinnvoll, zwischen drei Szenarien zu unterscheiden.

Szenario 1: Trump wird vor den Wahlen verurteilt

Die laufenden Gerichtsverfahren gegen Trump sind in vielerlei Hinsicht präzedenzlos und bedeuten große Unwägbarkeiten für den weiteren politischen Prozess. Die meisten Beobachterinnen und Beobachter halten es mittlerweile für unwahrscheinlich, dass Trump tatsächlich noch vor der Präsidentschaftswahl in einem der gewich­tigeren Strafverfahren verurteilt wird, zu­mindest nicht letztinstanzlich. Sollte es wider Erwar­ten doch dazu kommen, wür­den seine Anhänger das zweifelsohne als illegitime Einflussnahme werten.

Szenario 2: Biden gewinnt

Donald Trump hat bereits einmal seine Wahl­niederlage nicht akzeptiert und den friedlichen Machtwechsel zu verhindern versucht. Dieses Mal ist sein Anreiz dafür noch größer, da womöglich seine eigene Straffreiheit vom Wahlausgang abhängt. Am 6. Januar 2021 haben die meisten Republikaner im Repräsentantenhaus sich nicht nur geweigert, das Wahlergebnis in zwei Bundesstaaten (Arizona und Penn­sylvania) anzuerkennen. Trump hatte zu­dem versucht, seinen Vizepräsidenten dazu zu bewegen, die Zertifizierung der Wahl­ergeb­nisse im Kongress zu verhindern.

Theoretisch wäre es in Zukunft denkbar, dass Mehrheiten in beiden Kongresskammern das Ergebnis der Präsidentschafts­wahlen in ein oder zwei wahlentscheidenden Bundesstaaten infrage stellen. Unter dem Eindruck der Ereignisse des 6. Januar hat der Kongress Gesetzesänderungen be­schlossen, die so ein Vorgehen unwahr­schein­licher machen. Dennoch kann es pas­sieren, dass eine breite Mehrheit der Repub­likaner im Kongress alle politischen und medialen Hebel in Gang setzt, um Biden als illegitimen Präsidenten darzustellen.

Szenario 3: Trump gewinnt

Sollte Trump die Wahl im November gewin­nen, während die Strafprozesse gegen ihn noch andauern, könnte er das Justizministerium anweisen, die auf Bundes­ebene gegen ihn laufenden Verfahren einzustellen. Als Präsident könnte er außerdem ver­suchen, sich selbst zu begnadigen. So eine »Selbstbegnadigung« wäre ein bisher ein­maliger Vorgang und die Zulässigkeit ist in der Rechtsprechung un­geklärt. Ebenfalls ungewiss ist, ob er als Präsident in einem Bundesstaat verurteilt werden kann.

Nicht zuletzt ist unklar, ob die Demo­kraten bei einem engen und juristisch umstrittenen Ergebnis den Wiedereinzug Trumps ins Weiße Haus akzeptieren wür­den. Schließlich haben auch demokratische Kongressmitglieder bei vergangenen Präsi­dentschaftswahlen Zweifel am Ergebnis geäußert, wenn ein Republikaner vorn lag. Die Wahl im Jahr 2000 zwischen George W. Bush und Al Gore war so knapp, dass Bushs Wahlsieg am Ende von ein paar Hundert Stimmen in Florida abhing. Inmitten der Neuauszählung intervenierte der Oberste Gerichtshof, stoppte den Prozess und machte so George W. Bush zum Präsidenten. Eine Verfassungskrise wurde damals abgewendet, weil Al Gore das Urteil akzep­tierte.

Sicher ist, dass Trumps Gegner ihn, sollte er gewinnen, aufgrund der Strafverfahren gegen ihn als ille­gitimen Präsidenten an­sehen würden und womöglich Wider­stand gegen seinen Amtsantritt leisteten – be­stärkt von der Sorge, dass eine autoritäre Präsidentschaft den politi­schen Institutionen des Landes irreversiblen Schaden zu­fügen könnte.

Angesichts der tiefen Spaltung in den USA könnten diese Szenarien zu monatelangen Kompetenzstreitigkeiten zwischen den Gewalten führen. Eine weitere Folge wäre, dass bei großen Teilen der Bevölkerung das Vertrauen in die Unabhängigkeit und Glaub­würdigkeit der Strafverfolgungsbehörden und der Justiz weiter sinkt. Dar­über hinaus ist unklar, wer Urteile des Obersten Gerichts durchsetzen würde, wenn die unterlegene Seite sie nicht akzeptiert. Wäre Trump zum Beispiel bereits Präsident, könnte er ihm unliebsame Urteile der Ge­richte schlicht ignorieren. Auch kann nicht ausgeschlossen werden, dass es wie beim Sturm auf das Kapitol erneut zu Gewalt kommt, sollte eine Wählergruppe zu der Auffassung gelangen, ihrer »demokratischen Rechte« beraubt worden zu sein.

Von der Demokratiekrise zur Staatskrise?

Insbesondere falls Trump nach den dies­jährigen Wahlen ins Weiße Haus einzieht, ist mit einem neuerlichen Autokratisierungs­schub zu rechnen, sei es in Form einer wei­te­ren Politisierung der Justiz (z. B. durch die Begnadigung vieler Gewalttäter vom 6. Ja­nuar) oder der Anmaßung exekutiver Macht gegenüber dem Kongress. Letzterer ist, be­dingt durch die tiefe politische Spaltung, in seiner Kon­trollfunktion schon heute stark geschwächt. Sowohl Freedom House als auch das in Göteborg ansässige V-Dem Ins­ti­tute weisen auf Autokratisierungstendenzen in den USA hin, selbst wenn sie das Land weiterhin als liberale Demokratie einordnen. Das amerikanische Gerichtswesen genießt womöglich nicht mehr den nötigen Res­pekt, um diesem Trend entgegenzuwirken.

Die bereits schwelende Demokratiekrise, in der die Legitimität der Institutionen zunehmend infrage steht, könnte sich zu einer Verfassungskrise entwickeln, wenn verschiedene Verfassungsorgane zu unter­schiedlichen Schlussfolgerungen kommen, wie eine rechtlich umstrittene Situation aufzulösen ist. Im Extremfall wird dar­aus sogar eine Staatskrise, in der die Hand­lungs­fähigkeit und das Gewaltmonopol des Staa­tes selbst zur Disposition stehen.

Es ist keineswegs ausgemacht, dass solch bedrohliche Szenarien bereits bei diesen Wahlen Realität werden. Setzen sich jedoch die derzeit zu beobachtenden krisenhaften Tendenzen fort, ohne dass eine Kurskorrektur erfolgt, ist es nur eine Frage der Zeit, bis das politische System an seine Grenzen stößt. Sollte es dann tatsächlich einen Kipppunkt überschreiten, dann würden die USA nicht nur als handlungsfähige Demokratie, son­dern auch als außen- und sicherheitspolitischer Partner ausfallen. Aufgrund der fort­bestehenden Abhängigkeiten würde dies Deutschland und Europa vor massive Heraus­forderungen stellen.

Dr. Marco Overhaus ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Amerika.
Dr. Johannes Thimm ist Stellvertretender Leiter der Forschungsgruppe Amerika.

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