Eine Rekordzahl an Gewaltkonflikten verursacht wachsende Bedarfe an humanitärer Hilfe. Besonders deutlich zeigt sich dies in Fluchtkontexten. Angesichts knapper Mittel gibt es seit Jahrzehnten Versuche, Betroffene effektiver, effizienter und bedarfsgerechter zu unterstützen. Dieses Ziel verfolgt auch der Humanitarian-Development-Peace-Nexus (HDP-Nexus), der humanitäre Hilfe und Entwicklung mit Friedensförderung verzahnen soll. Für Fluchtkontexte liegt der große Mehrwert des HDP-Nexus in seinem weiter gefassten Friedensanspruch. Dieser geht über soziale Kohäsion hinaus und schafft Raum für politische Lösungen und Konflikttransformation. Letzteres ist Voraussetzung für dauerhafte Lösungen für Menschen auf der Flucht. Die Bundesregierung kann hier unter anderem durch Verbreitung und Vertiefung von Nexus-Expertise sowie verstärkte Rechenschaftslegung gegenüber Betroffenen aktiv unterstützen.
Die Zahl der Menschen auf der Flucht steigt seit Jahren. Im Oktober 2023 waren es 110 Millionen, darunter 36,4 Millionen Flüchtlinge, 62,5 Millionen Binnenvertriebene und 6,1 Millionen Asylsuchende, was wieder einen neuen Höchststand bedeutete. Anhaltende oder neue Gewaltkonflikte sowie massive Menschenrechtsverletzungen werden auch in den nächsten Monaten und Jahren Menschen in die Flucht zwingen, während für viele Fluchtsituationen keine Lösungen in Sicht sind. Mit der wachsenden Zahl an Betroffenen und der zunehmenden Dauer von Vertreibungs- und Fluchtsituationen steigen ebenfalls die humanitären und entwicklungspolitischen Bedarfe. Zwar erreichten auch die Mittel für die humanitäre Hilfe in den letzten Jahren Rekordsummen; doch zum einen werden diese Mittel den rasant steigenden Bedarfen nicht gerecht, zum anderen stehen zumindest in Deutschland 2024 Kürzungen bevor.
In der humanitären Hilfe und der Entwicklungszusammenarbeit (EZ) werden deshalb seit langem Bemühungen um Effizienzgewinne als Ausweg gesehen, um trotz knapper werdender Mittel bessere Leistungen für Betroffene zur Verfügung stellen zu können. Dies will man erreichen, indem diese beiden Bereiche, die lange Zeit weitgehend getrennt voneinander arbeiteten und unterschiedlichen Logiken folgten, von Beginn einer Krise an enger kooperieren und gut koordiniert werden.
Der sogenannte Humanitarian-Development-Peace-Nexus aus dem Jahr 2016 stellt den neuesten Versuch dieser Art dar – entwickelt auch deshalb, weil zahlreiche frühere Ansätze, die versuchten, humanitäre Hilfe und EZ besser zu verzahnen, nicht die gewünschten Erfolge brachten. Der HDP-Nexus geht noch einen Schritt weiter als bisherige Ansätze und schließt nicht nur humanitäre Hilfe und EZ ein, sondern ergänzt eine dritte Säule: die Friedensförderung. Vorangetrieben wird dieser auch von der Bundesregierung unterstützte Ansatz vor allem von den Gebern des Development Assistance Committee (DAC) der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), von Organisationen der Vereinten Nationen (VN) sowie von Nichtregierungsorganisationen (NGOs).
Der HDP-Nexus verfolgt das Ziel, durch bessere Verknüpfung der drei Bereiche Synergieeffekte zu erzeugen ― denn humanitäre Notlagen, mangelnde Entwicklung und Gewaltkonflikte bedingen sich gegenseitig. Durch die abgestimmte Bearbeitung ihrer strukturellen Ursachen hofft man, humanitäre Bedarfe auf lange Frist reduzieren und die Abhängigkeit von Betroffenen von humanitärer Hilfe vermeiden zu können. Zudem sollen Betroffene wieder in die Lage versetzt werden, eigenständig über ihr Leben zu entscheiden. Diese Errungenschaften soll die Friedensförderung absichern.
Der HDP-Nexus in Fluchtkontexten
VN-Organisationen und NGOs sowie Geberländer, nationale Regierungen und Zivilgesellschaft setzen den HDP-Nexus als Multi-Akteurs-Ansatz mittlerweile in 25 Ländern um: Unter anderem in Kamerun, Uganda und der Demokratischen Republik Kongo (DR Kongo) arbeiten humanitäre, entwicklungspolitische und Friedensakteure zeitgleich an zuvor gemeinsam festgelegten Zielen. In vielen dieser Nexus-Länder spielen auch Flucht und Vertreibung eine Rolle – sei es, dass das jeweilige Land Flüchtlinge aus anderen Staaten aufnimmt, dass Menschen wegen im Land bestehender Gewaltkonflikte intern vertrieben sind oder über die Landesgrenzen hinweg fliehen müssen oder dass Flüchtlinge in das Land zurückkehren.
In all diesen Kontexten ist der HDP-Nexus besonders relevant, denn nur sehr wenige Menschen auf der Flucht finden eine der drei sogenannten dauerhaften Lösungen lokale Integration, Rückkehr oder Resettlement, sodass ihre Gesamtzahl weiter stark ansteigt. Die von Flüchtlingen bzw. Binnenvertriebenen ebenso wie von Aufnahmeländern und -regionen bevorzugte Lösung ist oft eine Rückkehr an den Herkunftsort; die maßgebliche Voraussetzung dafür ist die Schaffung von Frieden und Sicherheit. Mit seinem zusätzlichen Fokus auf Friedensförderung bietet der HDP-Nexus daher neue Anknüpfungspunkte und Möglichkeiten gerade für Fluchtkontexte, trotz der großen damit verbundenen Herausforderungen. Bisher verfolgte Ansätze greifen in dieser Hinsicht zu kurz – ganz abgesehen von ausbleibenden Erfolgen.
Die Friedenskomponente in Fluchtkontexten
Bei der als »P«-Säule (für Englisch »peace«) bezeichneten Friedensdimension des Nexus wird oft zwischen »small« oder »little p« und »big P« unterschieden. Unter »small p« oder »little p« werden Maßnahmen verstanden, die darauf ausgelegt sind, Kapazitäten für Konfliktprävention und ‑bearbeitung aufzubauen sowie soziale Kohäsion und Vertrauen innerhalb der Gesellschaft zu stärken. Diese Aktivitäten setzen meist auf der lokalen Ebene an. Als »big P« gelten Aktivitäten, die direkt auf eine politische oder militärische Lösung eines gewaltsamen Konflikts abzielen. Hierunter fallen hochrangiger politischer Dialog, Mediation, Diplomatie oder auch Instrumente wie Friedensmissionen und Stabilisierungseinsätze. Für Fluchtkontexte sind beide Dimensionen bedeutsam. Insbesondere das »big P« bietet durch seinen Anspruch, auf nationaler / regionaler Ebene politische Lösungen und Konflikttransformation zu erreichen, großes Potential für die dringend benötigten dauerhaften Lösungen und stellt damit eine erhebliche Neuerung gegenüber früheren Ansätzen dar.
»Small p«-Maßnahmen
Der »kleine Frieden« ist bisherigen Ansätzen in Fluchtkontexten, die »nur« humanitäre Hilfe und EZ verknüpfen, ebenfalls nicht fremd. Dazu zählen zum Beispiel der Regionale Flüchtlings- und Resilienzplan (Regional Refugee and Resilience Plan, 3RP), der in den Nachbarländern Syriens umgesetzt wird, oder der Umfassende Rahmenplan für Flüchtlingshilfemaßnahmen (Comprehensive Refugee Response Framework, CRRF), der in zahlreichen Ländern in Afrika, Asien und Südamerika zur Anwendung kommt.
Soziale Kohäsion und lokale Konfliktbearbeitung
Sowohl 3RP als auch CRRF beinhalten bereits Initiativen zur Förderung der sozialen Kohäsion und versuchen, konfliktsensibel zu agieren. So sollen gesellschaftliche Spannungen zwischen Flüchtlingen, Binnenvertriebenen oder Rückkehrenden einerseits und der lokalen Bevölkerung andererseits reduziert werden. Solche Spannungen können auftreten, wenn Flüchtlinge oder Rückkehrende die demographische Zusammensetzung der Gesellschaft stark verändern oder soziale, wirtschaftliche, institutionelle und natürliche Ressourcen unter Druck geraten.
Minimalstandard für konfliktsensibles Handeln ist das »Do No Harm«-Prinzip. Es geht davon aus, dass keine Intervention, ob humanitär, entwicklungsorientiert oder friedensbezogen, jemals absolut konfliktneutral sein kann, sondern immer intendierte oder nicht intendierte Wirkungen auf Machtverhältnisse entfaltet. Das Prinzip hat daher zum Ziel, unbeabsichtigte negative Wirkungen von Aktivitäten zu erkennen und zu vermeiden. Dazu erstellen die vor Ort tätigen Organisationen für den Planungsprozess Konfliktanalysen. Anschließend soll fortlaufendes Monitoring sicherstellen, dass soziale Spannungen frühzeitig bemerkt und durch eine Umgestaltung der Maßnahmen entschärft werden können.
In der Entwicklungszusammenarbeit wird das »Do No Harm«-Prinzip und konfliktsensibles Vorgehen als Selbstverständlichkeit betrachtet. Mittlerweile bekennen sich auch viele humanitäre Akteure zum »Do No Harm«-Prinzip, etwa das Inter-Agency Standing Committee (IASC) der VN, die Europäische Kommission für ihre humanitäre Hilfe und das VN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR.
Über das »Do No Harm«-Prinzip und konfliktsensible Ansätze hinaus kann die Stärkung sozialer Kohäsion indirekt zu Frieden auf lokaler Ebene beitragen. Ein größerer gesellschaftlicher Zusammenhalt erhöht nicht nur die Resilienz gegenüber der Eskalation von Spannungen, sondern hilft ebenfalls bei der Reduzierung von Gewalt und unterstützt Versöhnungsprozesse. Beispiele für entsprechende Aktivitäten sind gemeinsame Aus- und Weiterbildungsprogramme für Flüchtlinge und die Aufnahmegemeinde.
Hingegen zielt die Förderung von Konfliktbearbeitungsmechanismen etwa durch Mediationstrainings direkter auf die friedliche Beilegung lokaler Konflikte, beispielsweise in dem verbreiteten Fall von Land- und Eigentumskonflikten zwischen zurückgekehrten Flüchtlingen und Stayees (also Personen, die geblieben sind).
»Small p«-Akteure
Viele lokale wie internationale humanitäre und EZ-Organisationen wollen mit ihrer Arbeit eine Stärkung der sozialen Kohäsion erreichen. Konkrete Maßnahmen zur Konfliktbearbeitung werden dagegen üblicherweise von einer Reihe spezialisierter NGOs umgesetzt; zu nennen sind hier Swisspeace, Interpeace, International Alert oder Search for Common Ground. Der auf Konfliktbearbeitung spezialisierte Friedensförderungsfonds der VN stellt für diesen Arbeitsbereich Finanzierungen bereit. Auch zivile Komponenten von Friedensmissionen engagieren sich mit »small p«-Maßnahmen, unter anderem indem sie Spannungen zwischen Bevölkerungsgruppen beobachten und versuchen, sie durch Dialogforen mit den lokalen Konfliktparteien abzubauen. Ein solches Vorgehen kann etwa die Rückkehr von Binnenvertriebenen begünstigen, wie zum Beispiel in der Provinz Ituri in der Demokratischen Republik Kongo. Darüber hinaus betätigen sich die politischen Missionen der VN sowie Feldmissionen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) im Bereich lokaler Konfliktbearbeitung, insbesondere mit vertrauensbildenden Maßnahmen.
Große Entwicklungsakteure wie die Weltbank spielen bei »small p«-Maßnahmen ebenfalls eine wichtige Rolle, indem sie konfliktsensible und auf dauerhafte Lösungen fokussierte Gesetzgebung zur Bedingung für Kredite und Zuschüsse machen. So setzt beispielsweise eine Finanzierung über das Window for Host Communities and Refugees (WHR) der International Development Association voraus, dass die Regierung des Landes, das Flüchtlinge aufnimmt, eine Strategie vorlegen kann. Diese muss konkrete Schritte einschließlich möglicher politischer Reformen enthalten, die langfristige Lösungen sowohl für Aufnahmegemeinden wie auch Menschen auf der Flucht anstreben.
In Deutschland berücksichtigen die vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) geförderte Übergangshilfe (ÜH) sowie die BMZ-Sonderinitiative Geflüchtete und Aufnahmeländer (SIGA) das Thema soziale Kohäsion. Mit dem Zivilen Friedensdienst (ZFD) verfügt die Bundesregierung zudem über ein von Friedens- und Entwicklungsorganisationen getragenes Instrument, das Gewaltprävention und Friedensförderung in Krisengebieten explizit zum Ziel hat. Umgesetzt wird dies durch zivile Expertinnen und Experten, die auf lokaler Ebene tätig sind.
»Big P«-Maßnahmen
Im Vergleich zu vorangegangenen Ansätzen, die humanitäre Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit verbinden, liegt der besondere Mehrwert des HDP-Nexus für Fluchtsituationen (und für dauerhafte Lösungen) in seiner Neuerung, den »großen Frieden« einzubeziehen und ihn zumindest als konzeptionellen Anspruch zu formulieren. Vorkehrungen für seine praktische Umsetzung werden durch neue Formen der Kooperation getroffen.
Bei der konkreten Umsetzung des HDP-Nexus auf Länderebene und bei den meisten fluchtrelevanten Ansätzen steht bisher das »small p« im Vordergrund. Selbst wenn solche Maßnahmen wichtig sind, um auf lokaler Ebene Spannungen zu verringern bzw. zu vermeiden und zu einem friedlichen Zusammenleben beizutragen, können sie nur in kleinem Rahmen oder lokal Verbesserungen erzielen. Nachhaltige und dauerhafte Lösungen, die echte Perspektiven und gleiche Rechte für Menschen auf der Flucht und Aufnahmegesellschaften beinhalten, lassen sich so nicht erreichen, denn: Vor allem die auch im Globalen Süden häufig bevorzugte Lösung einer sicheren und würdevollen Rückkehr an den Herkunftsort setzt voraus, dass dort Sicherheit und Frieden herrschen.
Die Förderung des »big P« geht über die lokale oder Projektebene üblicherweise weit hinaus. Die dafür notwendige tiefer gehende Friedensförderung auf nationaler / regionaler Ebene liegt außerhalb der Zuständigkeit humanitärer Hilfe und wird von der Entwicklungszusammenarbeit meist als zu anspruchsvoll oder zu politisch betrachtet. Mit dem »big P«-Anspruch des Nexus entsteht zumindest konzeptionell der Raum, diese Lücke (perspektivisch) zu füllen.
Praktische Umsetzung: Zusammenarbeit mit neuen Akteuren
Auf der praktischen Ebene liefert der Nexus einen wesentlichen Beitrag, indem er zusätzliche Friedensakteure (und Aktivitäten) einbindet, die in herkömmlichen Ansätzen, die lediglich humanitäre Hilfe und EZ zusammendenken, fehlen. So bietet der Nexus die Möglichkeit, neben Organisationen, die auf Konfliktprävention und ‑bearbeitung spezialisiert sind (siehe oben), beispielsweise diplomatische Corps und Friedensmissionen einzubeziehen, mit dem Auftrag, politische Friedensprozesse und die friedliche Bearbeitung bestehender Konflikte zu unterstützen.
Friedensmissionen
Ein elementarer Bestandteil der rein zivilen Besonderen Politischen Missionen der VN ist der hochrangige politische Dialog (»Good Offices«) der Sonderbeauftragten, zum Beispiel in Kolumbien. Auch bei VN-Friedensmissionen mit einem Auftrag zu robuster Friedenserhaltung werden militärische, polizeiliche und zivile Aktivitäten durch diese Good Offices ergänzt. Im direkten Austausch mit Staatsoberhäuptern und anderen Schlüsselakteuren wie Oppositionsführerinnen und ‑führern, bewaffneten Gruppen oder traditionellen Autoritäten versuchen die Sonderbeauftragten, auf die Entschärfung neuer und die friedliche Bearbeitung vorhandener Konflikte hinzuwirken.
Dies lässt sich auch für Fluchtsituationen noch stärker nutzen, wie die Action Agenda on Internal Displacement deutlich macht, die seit 2022 in 15 Pilotländern angewendet wird: Sie betrachtet den hochrangigen politischen Dialog bereits explizit als Teil der Arbeit des Sonderberaters des VN-Generalsekretärs für Lösungen im Bereich Binnenvertreibung. Zusätzlich sind die Sonderbeauftragten von politischen und Friedensmissionen der VN in den Pilotländern der Action Agenda vom VN-Hauptquartier in New York dazu angehalten, die Suche nach Lösungen für Binnenvertriebene in ihren hochrangigen politischen Dialog aufzunehmen. Eine Rückkehr an den Herkunftsort setzt Sicherheit und Frieden voraus, wodurch Friedensbildung und die Beteiligung bzw. Berücksichtigung von Binnenvertriebenen in Friedensprozessen notwendig werden. Da viele von Binnenvertreibung betroffene Länder auch Herkunftsländer von Flüchtlingen sind, etwa Südsudan, Irak oder Somalia, können sich derartige Friedensbemühungen positiv auf eine mögliche Rückkehr von Flüchtlingen auswirken – immer vorausgesetzt, dies wird in den Verhandlungen mitbedacht.
Diplomatie
Diplomatische Corps und Geberforen generell nutzen den hochrangigen politischen Dialog, um Friedensförderung als Voraussetzung für dauerhafte Lösungen zu unterstützen. Gemeinsame Stellungnahmen verschiedener Geberländer für die DR Kongo zum Beispiel verurteilten Gewalt gegen die Zivilbevölkerung und humanitäre Akteure durch bewaffnete Gruppen und drückten ihre Unterstützung für die Regierung im Kampf gegen diese Gruppen aus. Solche Stellungnahmen finden größeres Gehör bei den Adressaten, wenn sie mit anderen Akteursgruppen wie VN-Organisationen, Entwicklungsbanken und der Zivilgesellschaft abgestimmt sind und durch konkrete Aktivitäten flankiert werden, etwa den hochrangigen politischen Dialog oder die Finanzierung neuer Projekte.
Bei Konflikten mit regionaler oder internationaler Dimension sind diplomatische Corps, Geberforen auf regionaler und internationaler Ebene sowie regionale Organisationen wie die Afrikanische Union (AU) besonders wichtig, um alle relevanten Akteure an einen Tisch zu bringen. 2022 spielte die AU eine Schlüsselrolle bei der Beendigung des Tigray-Konflikts in Äthiopien. Die Befriedung von Konflikten dieser Art gestaltet sich in vielen Fällen noch komplexer als diejenige rein interner Konflikte. Eine Herausforderung dabei ist, dass die Mandate der zuständigen politischen oder Friedensmissionen meist auf ein Land beschränkt sind. Hinzu kommen unterschiedliche Mandate der relevanten VN-Organisationen wie auch eine geographische Distanz zwischen den unterschiedlichen Akteuren. Dies erschwert nicht nur den Informationsaustausch, sondern gleichermaßen ein abgestimmtes Vorgehen bei Friedensbemühungen. Regionale Foren und Organisationen sowie regionale Sonderbeauftragte der VN oder der Europäischen Union (EU) könnten hier weiteren Mehrwert schaffen, indem sie verschiedene Akteursgruppen und die drei Säulen des Nexus auf regionaler Ebene zusammenbringen. Dadurch könnten sie koordiniert auf Konfliktlösung in einem bestimmten Kontext hinarbeiten und damit ebenso auf eine mögliche Rückkehr von Flüchtlingen und Binnenvertriebenen.
Positiver Frieden als Ziel des Nexus
Zusätzlich hilfreich für dauerhafte Lösungen ist der mit dem HDP-Nexus einhergehende Perspektivwechsel: Er begreift Frieden über die Abwesenheit von politischer Gewalt hinaus als »positiven Frieden« (nach Galtung) und rückt die humanitären und entwicklungspolitischen Bedarfe der Betroffenen in den Mittelpunkt – und damit die für positiven Frieden zentrale soziale Gerechtigkeit. Dazu gehört auch, marginalisierte und mehrfach diskriminierte Gruppen, zu denen Frauen, Binnenvertriebene, Flüchtlinge und junge Menschen häufig gehören, an Friedensprozessen zu beteiligen.
Der Fokus liegt hier auf einem Frieden, der den Bedarf an humanitärer Hilfe mindert und den Ausbau von Entwicklungschancen einschließt und so größere Dauerhaftigkeit verspricht. Diese an den Betroffenen und ihren Bedarfen orientierte Perspektive geht damit auch über Stabilisierungsansätze hinaus, die in erster Linie die Abwesenheit von politischer Gewalt anstreben. Selbst wenn umfassender, nachhaltiger, positiver Frieden in vielen Fällen unerreichbar bleibt, ist es dennoch wichtig, ihn für die humanitären, entwicklungspolitischen und friedensfördernden Akteure als Ziel zu formulieren, damit sie ihre Aktivitäten daran ausrichten und zumindest einen Beitrag dazu leisten können.
Empfehlungen
Grundsätzlich sind sowohl die Unterstützung nationaler Friedensprozesse als auch lokale Konfliktbearbeitung und soziale Kohäsion für Fluchtsituationen hochrelevant, und zwar für Binnenvertreibung ebenso wie für grenzüberschreitende Flucht. Bestandteile des »small p« wie Konfliktsensibilität und flankierende friedensfördernde Maßnahmen bleiben in diesen politisch heiklen und meist fragilen Situationen unabdingbar. Gleiches gilt für das »big P«.
Der Anspruch des Nexus, zu umfassender Friedensförderung beizutragen, ist für Fluchtsituationen von essentieller Bedeutung ― auch wenn dies in der Praxis, insbesondere in Fällen grenzüberschreitender Flucht, schwierig umzusetzen bleiben dürfte. (Positiver) Frieden reduziert Konflikt- und damit Fluchtursachen und ist ein Schritt hin zu dauerhaften Lösungen für Menschen auf der Flucht, sei es am Herkunfts-, am Aufnahme- oder an einem dritten Ort.
Um den Mehrwert, den der HDP-Nexus bietet, voll auszuschöpfen, liegen einige Empfehlungen für die deutsche Politik nahe.
Unterstützung des Sonderberaters des VN-Generalsekretärs für Lösungen im Bereich Binnenvertreibung
Obwohl die Laufzeit für das Mandat des Sonderberaters nur zwei Jahre beträgt, birgt die Action Agenda on Internal Displacement großes Potential und Deutschland sollte die Arbeit des Sonderberaters aktiv unterstützen. Wünschenswert wäre, dass deutsche Botschaften und relevante Ressorts sich in hochrangigen politischen Dialogen stark machen für friedliche Konfliktbearbeitung und dauerhafte Lösungen für Binnenvertriebene. Wann immer möglich, sollte Deutschland dafür werben, in diesen Prozessen auch die Rückkehr von Binnenvertriebenen und Flüchtlingen mitzudenken. Gleichzeitig sollte es sich dafür einsetzen, dass die Suche nach dauerhaften Lösungen und anderen HDP-Nexus-relevanten Zielen systematisch integriert wird in die Mandate von Friedensmissionen der VN, der EU, der OSZE und anderen regionalen Organisationen.
Wenn die Laufzeit des Mandats des Sonderberaters im Jahr 2024 endet, wäre es in Deutschlands Sinne, in einer Evaluierung genau zu analysieren, welche Lehren sich aus dem Einbezug von hochrangigem politischem Dialog und einer Zusammenarbeit mit Friedensmissionen ziehen lassen. Diese könnte man dann sowohl für Fluchtkontexte, die nicht Teil der Pilotländer der Action Agenda sind, als auch für die Umsetzung des HDP-Nexus generell nutzen.
Dezentralisierung von Entscheidungsprozessen
Um institutionelle Grenzen unter anderem zwischen Ressorts in Geber- wie Entwicklungsländern oder zwischen VN-Agenturen zu überwinden, sollte Deutschland für eine Dezentralisierung eintreten, damit Entscheidungen über Nexus-Aktivitäten verstärkt auf regionaler, Länder- oder lokaler Ebene gefällt werden. Dazu müssten zum einen Botschaften und Delegationen vor Ort personell und finanziell besser ausgestattet und ihnen mehr Entscheidungsbefugnisse übertragen werden. Dies steht im Einklang mit der sogenannten Flagship Initiative des VN-Nothilfekoordinators, also seinen Bemühungen um eine betroffenenzentrierte Reform der humanitären Hilfe. Diese soll Entscheidungsbefugnisse der humanitären Akteure auf nationaler Ebene erweitern und von strengen globalen Vorgaben lösen. Damit will man erreichen, dass Aktivitäten mehr an den tatsächlichen Bedarfen der betroffenen Bevölkerung und dem jeweiligen Kontext ausgerichtet werden.
Für Deutschland bedeutet dies konkret, die Aufgaben von Referentinnen und Referenten für wirtschaftliche Zusammenarbeit, für humanitäre Hilfe bzw. für Stabilisierung und diejenigen von Referenten und Referentinnen für Flucht und Migration in den Auslandsvertretungen näher aneinander heranzuführen und die Aufgaben von Letzteren entwicklungsorientierter anzulegen. Auch bestehende Koordinierungsinstrumente zwischen dem Auswärtigen Amt (AA) und dem BMZ wie die gemeinsame Analyse und abgestimmte Planung (GAAP) sollten systematisch angewendet werden und sämtliche Instrumente umfassen, einschließlich der Übergangshilfe und der SIGA.
Zum anderen muss die Umsetzung der Nexus-Maßnahmen noch stärker über lokale Organisationen erfolgen – wie im Grand Bargain bereits für humanitäre Hilfe vorgesehen und in der Flagship Initiative gefordert. Lokale Organisationen orientieren sich häufig vornehmlich an den Bedarfen und trennen nicht zwischen den Aufgabenbereichen Humanitäres, Entwicklung und Frieden, im Gegensatz zu vielen internationalen Organisationen und Gebern. Und nicht zuletzt sollten betroffene Regierungen dazu ermuntert werden, eine Koordinationsrolle zu übernehmen.
Einsatz von »dreisprachigen« Expertinnen und Experten
Deutschland sollte verstärkt Expertinnen und Experten mit Kenntnissen in allen drei Säulen des HDP-Nexus einsetzen bzw. Personal entsprechend aus- und weiterbilden. Dies gilt vor allem auf Ebene der Botschaften und EU-Delegationen sowie eingeschränkt auch für die Hauptstadtebene der Geber. Mehr Verständnis für die Arbeitsweise, die komparativen Vorteile und die Lücken der anderen Arbeitsbereiche ist eine Voraussetzung für gegenseitiges Verständnis, vertiefte Zusammenarbeit und verbesserte Ressortkoordination.
Die vom BMZ mitfinanzierte Nexus Academy, die auf eine gemeinsame Initiative von OECD und VN zurückgeht, ist ein wichtiger Schritt in diese Richtung. Sie sollte so ausgebaut werden, dass noch mehr Menschen daran teilnehmen können. In Deutschland arbeitet das dem AA nachgeordnete Zentrum für Internationale Friedenseinsätze (ZIF) am Kapazitätsaufbau und bietet Fachkräften für Friedenseinsätze und solchen für humanitäre Einsätze Weiterbildungen zum HDP-Nexus an. Um diese Ressourcen noch gezielter zu nutzen, empfiehlt es sich besonders für Fluchtkontexte, HDP-Nexus-Beraterinnen und ‑Berater organisatorisch auch mit der Verantwortung für die Suche nach dauerhaften Lösungen zu betrauen und etwa im Resident Coordinator Office der VN anzusiedeln. Die Kooperation von humanitären und Entwicklungsakteuren mit zivilen Komponenten von Friedensmissionen dürfte ebenfalls leichterfallen, wenn vielseitig ausgebildetes Personal über Friedensmissionen Bescheid weiß und zwischen ihren Komponenten differenzieren kann.
Überwindung von Fehlanreizen
Die Tabuisierung von wirtschaftlichen Interessen der Hilfsorganisationen am Status quo sowie Fehlanreize, die die Verzahnung der drei Bereiche sowohl für Geber als auch für umsetzende Organisationen häufig unattraktiv machen, müssen überwunden werden. Ein zentraler Mechanismus dafür könnte die Rechenschaftslegung gegenüber Betroffenen bzw. deren Beurteilung der Maßnahmen sein. Die Bundesregierung sollte daher dafür sorgen, dass bestehende Monitoringinstrumente stärker auf die Rückmeldung von Nutzerinnen und Nutzern zugeschnitten werden und deren Einbeziehung bei Planung und Evaluierung verpflichtend vorgegeben wird. Bisher ist dies zu selten und nicht systematisch genug der Fall. Die Anreizstruktur würde sich verändern, wenn Feedback von Betroffenen eine größere Rolle als etwa Sichtbarkeit und Reputationsgewinn spielen würde. Dann hätten diejenigen Organisationen einen Vorteil, die ihre Maßnahmen an den tatsächlichen Bedarfen ausrichten und sich dazu mit anderen Akteuren abstimmen. In Reformbemühungen wie der oben erwähnten Flagship Initiative stellt die Rechenschaftslegung gegenüber Betroffenen bereits ein wesentliches Element dar.
Weitere konkrete Maßnahmen, die dazu beitragen können, ungünstige Anreizstrukturen zu verändern, sind geographische (regional- oder länderspezifische) Korbfinanzierungen, die alle drei Säulen umfassen. Darüber hinaus ist denkbar, dass Geber ihre Implementierungspartner verpflichten, mit Akteuren aus den anderen Säulen enger zusammenzuarbeiten, zum Beispiel über die Verankerung in Ausschreibungen, und dies belohnen. In die richtige Richtung weisen überdies die gemeinsame Beauftragung von Organisationen der verschiedenen Säulen wie in Joint Programmes der VN, das vom BMZ beauftragte Projekt SUN (»Unterstützung von UNHCR bei der Umsetzung des Globalen Flüchtlingspaktes im Nexus humanitäre Hilfe, Entwicklung, Frieden«) der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) und des UNHCR sowie die gemeinsame Beauftragung von NGOs durch das AA und das BMZ über den Nexus-Chapeau-Ansatz. Allerdings wäre zu wünschen, dass die »big P«-Dimension der Friedenssäule bei all diesen Ansätzen noch ausgebaut würde.
Für sich allein genommen wird keine dieser Maßnahmen den entscheidenden Unterschied machen können. Wichtig bleibt deshalb, nicht nur darauf zu setzen, dass die beteiligten Akteure aufgrund der größeren Effizienz und Wirksamkeit des Nexus ihre Arbeitsweise ändern. Vielmehr muss außerdem sichergestellt werden, dass eine kontinuierliche Überprüfung und Evaluierung stattfindet. Ausschlaggebend hierbei müssen greifbare Verbesserungen für betroffene Menschen sein. Dann bietet sich tatsächlich die Chance, dass humanitäre, entwicklungspolitische und friedensfördernde Akteure gemeinsam einen Beitrag zur Konfliktbewältigung leisten und für Menschen auf der Flucht Perspektiven schaffen.
Nadine Biehler und Dr. Amrei Meier sind Wissenschaftlerinnen in der Forschungsgruppe Globale Fragen. Barbara Kobler ist Consultant / freiberuflich unter anderem für das Zentrum für Internationale Friedenseinsätze (ZIF).
Das Aktuell wurde verfasst im Rahmen des vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung geförderten Projekts »Strategische Flucht und Migrationspolitik« (SWP) und des vom Auswärtigen Amt geförderten Projekts »Stärkung des Standby Partnership Mechanismus« (ZIF).
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ISSN (Online) 2747-5018
DOI: 10.18449/2023A59