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Ankaras Wirtschaftspolitik in der Zwickmühle

Wie die EU ökonomisch und sicherheitspolitisch mit der Türkei kooperieren kann

SWP-Aktuell 2023/A 48, 18.07.2023, 8 Seiten

doi:10.18449/2023A48

Forschungsgebiete

In der neuen Regierung des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan wurde Mehmet Şimşek zum Finanzminister ernannt, während die Managerin Hafize Gaye Erkan an die Spitze der Zentralbank rückte. Beide gelten als erfahrene Experten und Vertreter einer rationalen Ökonomie. Ihre Berufung hat daher Hoffnungen geweckt, Ankara könnte künftig wieder auf eine orthodoxe Wirtschaftspolitik setzen. Doch Zweifel daran bleiben. Ohnehin wäre ein entsprechender Kurswechsel kein Freiticket aus der Wirtschaftskrise des Landes, solange er nicht durch strukturelle Reformen flankiert würde. Der Türkei drohen eine Inflationsspirale und ein Konjunktureinbruch, wodurch sie nicht nur innenpolitisch destabilisiert würde, sondern auch sicherheitspolitisch geschwächt – vor allem gegenüber Russlands Einflussstreben im regionalen Umfeld. Die Konsequenzen für die EU wären enorm. Notwendig ist daher eine wirtschafts- und sicherheitspolitische Zusammenarbeit, die das Land stabilisiert, ohne das autokratische Regime Erdoğans zu legitimieren.

Wie der neue Finanzminister Mehmet Şimşek am 4. Juni 2023 erklärte, bleibe der Türkei keine andere Wahl, als zu einer »rationalen Wirtschaftspolitik« zurückzukehren. Er kündigte eine strikte Haushaltsdisziplin an, versprach eine konsequente Inflationsbekämpfung und warb für eine nachhaltige Wirtschaftsentwicklung. Wei­ter befördert wurden Hoffnungen auf eine Kurskorrektur in Ankara, als Erdoğan die international renommierte Finanzexpertin Hafize Gaye Erkan zur neuen Zentralbankchefin berief. Sie steht für eine orthodoxe Wirtschaftspolitik und sieht in einer nach­haltigen Entwicklung den Schlüssel zu Wohlstand und ökonomischer Dynamik.

Doch ein Schwenk im Wirtschaftskurs der Regierung wäre noch kein Freiticket aus der Krisenlage der Türkei. Dazu bedürfte es einer umfassenden Strukturreform, die jen­seits von Geld- und Haushaltspolitik die institutionellen und regulatorischen Rah­menbedingungen verbessert, zur Steigerung von Produktivität, Investitionen und Be­schäftigung beiträgt und somit ein ausge­wogenes Wachstum ermöglicht. Auch meh­ren sich Anzeichen, dass Erdoğan trotz des Personalwechsels in der Wirtschaftsführung an seinem bisherigen geld- und haushaltspolitischen Ansatz festhält.

Aktuell befindet sich die Türkei ökonomisch in einem fragilen Zustand. Weiterhin ist zu befürchten, dass die Schuldenlast sprunghaft steigt, die Währung der Abwer­tungsspirale nicht entkommt und die Mit­telschicht wirtschaftlich abrutscht; eine kurzfristige Gesundung ist nicht in Sicht. Für das Land wächst damit die Gefahr, innenpolitisch destabilisiert und sicherheitspolitisch geschwächt zu werden.

Inflation, Währungsverfall und Kapitalbedarf

Die türkische Wirtschaft steht vor komplexen geld- und haushaltspolitischen Heraus­forderungen. Seit Ende 2019 ist die Infla­tionsrate zweistellig; derzeit liegt sie bei rund 40 Prozent. Die offizielle Arbeitslosen­quote beträgt 10 Prozent, die Jugendarbeitslosigkeit 20,1 Prozent; weil viele Erwerbs­lose nicht erfasst werden, dürften die fakti­schen Raten noch wesentlich höher liegen.

Seit der Stichwahl um die Präsidentschaft am 28. Mai 2023 befindet sich die türkische Währung erneut auf Talfahrt. Binnen zwei Wochen verlor die Lira gegen­über dem US-Dollar um 18 Prozent an Wert, gegenüber dem Euro um 20 Prozent. Auch nachdem die türkische Zentralbank am 22. Juni den Leitzins nahezu verdoppelt hatte, setzte die Lira ihren Absturz fort. Der Währungsverfall wiederum lässt die Preise vieler Zwischenprodukte und der Energieträger Erdöl und Erdgas steigen, da sie aus dem Ausland importiert werden. Dies wird die Angebots- und Nachfrageinflation zu­sätzlich antreiben und signifikante Wohl­standsverluste für private Haushalte nach sich ziehen.

Ein weiteres Ungleichgewicht, das schnelles Handeln der Wirtschaftsführung erfordert, besteht darin, dass die Devisen­reserven des Landes fast aufgebraucht sind. Die gesamten Bruttoreserven der türkischen Zentralbank fielen bis zum 12. Mai um 9 Milliarden auf 105,13 Milliarden US-Dol­lar, den niedrigsten Stand seit Juli 2022. Unterdessen schrumpften die Nettowährungsreserven um etwa 4,45 Milliarden auf ein 21-Jahres-Tief von 2,33 Milliarden US-Dollar, da die Devisennachfrage vor den Wahlen stark anstieg. Um den Schwund zu stoppen, ist es notwendig, dass die Niedrig­zinsfinanzierung von Privatbanken durch die Zentralbank eingestellt wird.

Der CDS-Wert (Credit Default Swaps) der Türkei für Kreditausfallversicherungen erreichte am 7. Juli 2003 503 Basispunkte (zum Vergleich: Griechenland lag 2010 bei rund 600 Punkten). Dadurch wird eine Re­finanzierung der Schulden bzw. eine neue Staatsverschuldung immens verteuert, denn je höher der CDS-Wert eines Landes, desto geringer seine Bonität und desto wahrscheinlicher ein Zahlungsausfall. Entsprechend nach oben gehen die Versicherungsprämien für Kredite.

Laut Zentralbank belief sich das Leistungsbilanzdefizit der Türkei im Mai 2023 auf 7,9 Milliarden US-Dollar und in den zurückliegenden zwölf Monaten kumulativ auf 59,96 Milliarden US-Dollar – der höchste Stand seit Juli 2012. Das Außenhandelsdefizit lag im Mai bei 10,5 Milliarden US-Dollar; lediglich die Dienstleistungsbilanz wies ein Plus von 3,9 Milliarden US-Dollar auf, wovon 3,1 Milliarden auf Tourismus und Reiseverkehr entfielen. Bei ausländischen Direktinvestitionen herrscht im Vergleich zu 2021 und 2022 Zurückhaltung – die Nettozuflüsse belie­fen sich im Mai 2023 auf 89 Millionen US‑Dollar. Bei den Portfolioinvestitionen dage­gen gab es im Mai 2023 einen Netto­abfluss von 1,4 Milliarden US-Dollar.

Die wirtschaftliche Situation zwingt die neue türkische Regierung, sich weltweit um Investitionen, Kredite und vor allem Kapi­talzuflüsse zu bemühen. Der erste Arbeitsbesuch im Ausland, den Finanzminister Mehmet Şimşek und Vizepräsident Cevdet Yılmaz absolvierten, führte denn auch in die finanzstarken Vereinigten Arabischen Emirate. Nach Medienberichten steht ein Teilverkauf von Turkish Airlines, Türk Tele­kom und dem staatlichen Erdgasunternehmen BOTAŞ zur Diskussion.

Beschwichtigung der Finanzmärkte

Präsident Erdoğan ist Verfechter einer Nie­drigzinspolitik und bezeichnete sich selbst zuweilen als »Zinsfeind«. Entgegen der klas­sischen Volkswirtschaftslehre, nach der zur Inflationsbekämpfung die Zinsen anzuheben sind, suchte er die Wirtschaft mit billi­gem Geld anzukurbeln. In diesem Sinne hatte er ab September 2021 die Zentralbank angewiesen, die Zinssätze trotz zweistelliger Inflationsraten zu senken.

Grafik

Grafik: Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) und Außenhandel der Türkei

Befürworter von Erdoğans Kurs gingen davon aus, dass bei sinkenden Zinsen zwar die Inflation zunächst steigen und die Lira weiter an Wert verlieren würde, türkische Waren dadurch aber international güns­tiger und die Exporte entsprechend anzie­hen würden. Der Import würde dagegen schrumpfen, weil für Waren aus dem Aus­land mehr zu bezahlen wäre. Die türkische Industrie würde den Import teurer Zwi­schenprodukte aus dem Ausland einstellen und sich aus dem Binnenmarkt bedienen. Mit Hilfe dieser Importsubstitution, so die Argumentation weiter, würde die indus­trielle Erzeugung deutlich steigen.

Gleichzeitig sollte die geschwächte Lira zusätzlichen Anreiz für ausländische Inves­toren und den Fremdenverkehr schaffen. Mehr Devisen durch einen starken Zustrom von Touristen, steigende ausländische Direktinvestitionen und wachsende Exporte sollten die negative Leistungsbilanz aus­gleichen und die Lira wieder aufwerten – was die Inflation schließlich sinken ließe.

Doch diese Annahmen haben sich nicht bewahrheitet. Die Inflation ist nicht zurück­gegangen, das Leistungsbilanzdefizit hat sich vergrößert und die Lira massiv an Wert verloren. Gespannt erwarteten Experten und Wirtschaftsakteure daher die Sitzung des geldpolitischen Ausschusses der türki­schen Zentralbank am 22. Juni. Dessen Zinsentscheidung galt als Gradmesser da­für, wie ernst es Erdoğan mit einer wirt­schaftspolitischen Wende ist. Doch schon im Vorfeld erklärte der Präsident bei einem Pressegespräch, er orientiere sich weiterhin an der Theorie »niedrige Zinsen, niedrige Inflation«. Der Ausschuss beschloss dann, den Leitzins von 8,5 auf 15 Prozent anzu­heben. Damit sollte ein geldpolitischer Straffungsprozess eingeleitet werden, um Desinflation zu erreichen.

Der Schritt wurde als moderater Kurswechsel begrüßt, blieb allerdings hinter den Erwartungen zurück. Skeptiker wen­den zu Recht ein, dass die Marktteilnehmer durch die Zinserhöhung nicht stark beein­flusst werden dürften. Es werde bei der billigen Finanzierung von Privatbanken durch die Zentralbank bleiben, und mit substantiellen Änderungen bei den Zinsen für Einlagen, Kredite und Anleihen sei kaum zu rechnen.

So drängt sich der Eindruck auf, dass die Berufung von Şimşek und Erkan als kurz­fristiger Befreiungsschlag gedacht ist. Es geht wohl vor allem darum, die Erwartung zu wecken, dass die Türkei zu einem ortho­doxen Wirtschaftskurs zurückkehren werde, also einer Politik, die auf allgemein anerkannten, Marktmechanismen priorisierenden Annahmen beruht. Die Absicht da­hinter wäre, den Kapitalzufluss in das Land anzuregen.

Für Bedenken sorgte auch, dass Erdoğan auf einem Rückflug aus Aserbaidschan gegenüber Medien erneut hervorhob, sich um Finanzspritzen und Kreditaufschübe bemühen zu wollen. Die Aussage im Be­schlusstext des geldpolitischen Ausschusses, die Zentralbank werde »weiterhin strategische Investitionen unterstützen«, nährt zusätzlich den Verdacht, jenseits der geld­politischen Stabilität könnten ihr zusätz­liche Aufgaben auferlegt werden. Bis auf Erkan hatten alle Mitglieder des fünfköpfigen Gremiums die vergangenen Zinssenkungen gebilligt, während die Inflation stieg. Dass sie am 22. Juni dann einen völlig ent­gegengesetzten Beschluss fassten, dürfte das Vertrauen in den Ausschuss kaum fördern.

Sozio-politische Dilemmata

Zu bedenken gilt, worin die Folgen bestan­den hätten, wäre die Türkei abrupt zu einer orthodoxen Politik zurückgekehrt, indem sie die Zinsen viel stärker erhöht hätte. Ers­tens wären die Anleihekurse dann erheb­lich zurückgegangen, was die Wertpapiere im Besitz der Banken entwertet und Letz­tere wohl massiv unter Druck gesetzt hätte. Zweitens wären die Kosten für Kredite immens gestiegen, der Konsum hätte sich verteuert, und die Nachfrage wäre gesunken. Die Wirtschaft hätte vor einer Rezes­sion gestanden. Drittens hätte eine plötz­liche Bremse beim Zinssatz einen scharfen Ausstieg aus währungsgesicherten Einlagen bewirkt, was die bestehende Nachfrage nach Devisen – in einer ohnehin dollarisierten Wirtschaft – weiter erhöht und das Problem der Devisenliquidität verschärft hätte. Solche Einlagen erreichten bis Mitte Mai 2023 einen Gesamtumfang von 121,6 Milliarden US-Dollar. Viertens hätte ein drastischer Zinssprung die Lira stark auf­gewertet, womit weder dem türkischen Export noch dem Tourismus im Land ge­dient wäre.

Von Erdoğans Niedrigzinspolitik wiederum haben drei Gruppen profitiert. Die Bauwirtschaft kam durch günstige Kredite an lukrative Aufträge, den Exporteuren brachte die schwache Lira eine höhere Wettbewerbsfähigkeit auf internationalen Märkten, und privaten Haushalten wurde der Konsum über Kreditkarten ebenso er­leichtert wie die Automobil- und Immobi­lienfinanzierung. Der Kaufkraftverlust einkommensschwacher Haushalte wurde durch Anhebung des Mindestlohns kom­pensiert.

Erdoğans neue Regierung steckt damit wirtschaftspolitisch in der Zwickmühle. Setzt sie weiterhin auf starkes Wachstum, drohen Inflationsspirale, Währungskrise oder gar Staatspleite. Kehrt sie zurück zu hohen Zinsen, strikter Haushaltsdisziplin und rigoroser Inflationsbekämpfung – unter Inkaufnahme von Wachstumseinbußen –, muss Erdoğan damit rechnen, dass sich nicht nur seine Wählerschaft von ihm abwendet, sondern auch sein Klientelnetzwerk. Letzteres umfasst überwiegend Unter­nehmen aus dem Bau- und Tourismus­sektor sowie der Rüstungsindustrie, die er alle mit günstigen Krediten und staatlichen Aufträgen versorgt. Dabei stehen im März 2024 Kommunalwahlen an, bei denen Erdoğan insbesondere die Metropole Istan­bul und die Hauptstadt Ankara für seine Partei AKP zurückgewinnen will.

Erfordernisse zum Aufbau neuen Vertrauens

Einer Gesundung der türkischen Wirtschaft stehen auch die Schwäche von Institutionen und ein Reformstau entgegen. Umfas­sende Strukturreformen könnten das Ver­trauen in die Türkei und ihre Wirtschaft erneuern. Dies würde dazu beitragen, die Lira aufzuwerten und das Land wieder attraktiv für ausländische Investoren zu machen.

Die Türkei benötigt inklusive Institutionen, demokratische Spielregeln und ein effektives Justizsystem. Gesichert sein müss­ten wirtschaftliche Aufstiegsmöglichkeiten für jeden, ein freier und gleicher Zugang zu Ressourcen sowie deren effektive Nutzung zum Wohle aller. Vonnöten sind auch eine konsequente Korruptionsbekämpfung, wei­testgehende Transparenz bei der staatlichen Auftragsvergabe sowie eine demokratische Wende. Wichtig wäre, Qualität und Verläss­lichkeit der Wirtschaftsdaten des türkischen Statistikamtes (TURKSTAT) zu erhö­hen. Ebenso gilt es, ein modernes, inklusives und die Kreativität förderndes Bildungs­system zu schaffen, die Rechte von Frauen zu verbessern und deren Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu unterstützen. Was die letzten zwei Punkte betrifft, wäre es für die Türkei ein erster Schritt und eine positive Botschaft an die westliche Welt, zur Istanbul-Konvention zurückzukehren.

Die türkische Wirtschaft stagnierte in den letzten zehn Jahren, gemessen am Pro-Kopf-Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Dieses sank von 12.582 US-Dollar im Jahr 2013 auf 10.655 US-Dollar 2022. In den 2000er Jahren hatte die Türkei noch ein durchschnittliches Wachstum von 6 Pro­zent erzielt, wobei sich die Wirtschafts­leistung pro Kopf zwischen 2002 und 2013 verdreifachte. Dies ging einher mit umfas­senden Reformen, Demokratisierung, einer Anpassung an den EU-Acquis sowie der Ent­wicklung von integrativen Institutionen und Regulierungsinstanzen. Auch politisch ist die türkische Führung in der Zwickmühle, denn eine vergleichbare Reformagenda entspricht nicht den Zielen des Regierungsblocks und der Parteienallianz, auf die sich Erdoğan gegenwärtig stützt.

Folgen einer türkischen Wirt­schaftskrise für die EU

Für eine rasche Gesundung der türkischen Wirtschaft sind die Weichen also keineswegs gestellt. Sollte sie in dauerhafte Tur­bu­lenzen geraten, hätte dies auch Konsequenzen für Wirtschaft und Sicherheits­politik der EU.

Risiken für Export und Banken­system der EU

Der Europäische Binnenmarkt und die meisten Volkswirtschaften der EU sind eng mit der Türkei verflochten. Käme es dort zu einem Konjunktureinbruch und einem signifikanten Kaufkraftverlust, wären da­von die europäische wie auch die deutsche Exportwirtschaft betroffen. Der EU-Türkei-Handel beläuft sich auf 207,9 Milliarden US-Dollar (2022), davon entfallen 103,5 Mil­liarden US-Dollar auf Exporte der Türkei in die EU. Der deutsch-türkische Handel be­trug 2022 rund 45,17 Milliarden US-Dollar.

Ein Zusammenbruch des türkischen Bankensystems wiederum brächte den ge­samten europäischen Wirtschaftsraum in Bedrängnis. Europäische Banken, insbesondere solche aus Spanien, Frankreich und Italien, haben Forderungen gegenüber der Türkei von mehr als 100 Milliarden Euro angehäuft. Allein spanische Geldhäuser haben 80 Milliarden Euro im türkischen Bankensektor investiert.

Käme es zu einer Pleitewelle im verarbeitenden Gewerbe der Türkei, würde dies in EU-Staaten auf vielen Feldern nicht nur Konsumenten, sondern auch Hersteller tref­fen. Deutschland ist etwa das Top-Export­zielland für türkische Fahrzeuge und Auto­mobilkomponenten. Die türkische Auto­industrie hat in den ersten drei Monaten des Jahres 2023 rund 70 Prozent (6,03 Mil­liarden US-Dollar) ihrer Exporte in Länder der EU getätigt. Deutschland steht mit 1,27 Milliarden US-Dollar an erster Stelle, gefolgt von Frankreich mit 1,05 Milliarden US-Dol­lar, Italien mit 770 Millionen US-Dollar und Spanien mit 600 Millionen US‑Dollar. Hin­zu kommt, dass die türkischen Automobilzulieferer ein wesentlicher Bestandteil europäischer und deutscher Lieferketten sind.

Mögliche neue Flüchtlingswelle

Die Türkei ist mittlerweile ein bedeutendes Transit- und Aufnahmeland für Migranten und Geflüchtete. Mit ihrer geographischen Lage ist sie ein Dreh- und Angelpunkt von Flucht- und (irregulären) Migrationsbewegungen. Dank der europäisch-türkischen Zusammenarbeit im Rahmen der Flüchtlingserklärung von 2016 gingen die irregu­lären Einreisen in die EU über Südosteuropa deutlich zurück. Die Zahl der Einreisen über die östliche Mittelmeerroute sank von 2015 bis 2020 um fast 98 Prozent, doch 2021 und 2022 stieg sie wieder an. Das Ab­kommen mit der Türkei hat auch dazu bei­getragen, die Zahl der Todesfälle auf See zu reduzieren und gegen Schleuser vorzu­gehen.

Sollte die Türkei durch wirtschaftliche Turbulenzen in eine politische Krise gera­ten, die etwa mit Protesten oder Ausschreitungen gegen Flüchtlinge einhergeht, wäre die Regierung weder in der Lage noch wil­lens, die Migrationskontrolle gegenüber der EU oder die Integration syrischer Bürgerkriegsflüchtlinge in die eigene Gesellschaft fortzusetzen. Heute leben rund 4 Millionen syrische Geflüchtete in der Türkei, die sich dann Richtung EU aufmachen könnten. Eine erneute Migrations- und Fluchtbewegung aus der bzw. über die Türkei wäre politischer Sprengstoff für viele europäische Regierungen und Gesellschaften. Denkbar wäre auch, dass irreguläre Migrationsbewegungen die Konflikte der Türkei mit dem kurdischen Autonomiegebiet in Nordsyrien, mit Griechenland oder im östlichen Mittel­meer eskalieren lassen.

Wenn sich die politische und wirtschaftliche Lage in der Türkei weiter verschärft, dürften neben syrischen Bürgerkriegsflüchtlingen auch immer mehr Türkinnen und Türken nach Deutschland fliehen. Be­reits in den zurückliegenden Monaten wur­den an den Grenzen der Bundesrepublik immer häufiger Flüchtlinge und Schmuggler mit türkischer Staatsangehörigkeit auf­gegriffen. In den ersten neun Monaten des Jahres 2022 hat die Bundespolizei 5362 un­erlaubt eingereiste türkische Staatsangehörige an der Grenze festgenommen. Im ge­samten Jahr 2021 waren es 2531, im ersten Pandemiejahr 2020 nur 1629. Zu den Moti­ven für die zunehmende Abwanderung gehören Armut, Inflation und bedrohte Meinungsfreiheit.

Drohende sicherheitspolitische Erschöpfung

Eine anhaltende wirtschaftliche Stagnation in der Türkei träfe auch ihre sicherheits­politische Rolle als Flankenstaat der Nato sowie als Drehkreuz für Energie. Die ent­sprechende Bedeutung des Landes beruht zunächst auf seiner geographischen Lage. An der Schnittstelle von Europa, Asien und Afrika kontrolliert die Türkei den maritimen Durchgang vom Mittelmeer zum Schwarzen Meer; zugleich fungiert sie als Transportkorridor für Öl und Erdgas zwi­schen Kaukasus bzw. Nahem Osten und Europa. Als Mittelmeeranrainer liegt sie in geostrategischer Nähe zum asiatisch-euro­päischen Seetransportweg. Der Nato-Staat ist zugleich ein natürlicher Sperrschild gegenüber Russland. Als gewichtiger regio­naler Akteur kann die Türkei dazu beitra­gen, Moskaus Einflussstreben in der Schwarzmeerregion, im östlichen Mittelmeer, auf dem Balkan und im Kaukasus einzudämmen.

Sicherheitspolitisch bedeutsam ist die Türkei auch aufgrund ihrer militärischen Fähigkeiten. Sie besitzt eine sich entwickelnde Verteidigungsindustrie, starke Sicherheitskräfte und eine entsprechende Sicherheitskultur. Eine der tragenden Säu­len sind dabei die türkischen Streitkräfte – mit ihren grenzüberschreitenden Operationen in Nordirak und Nordsyrien, militärischen Auslandseinsätzen in Libyen und im Kaukasus sowie ihren überseeischen Stütz­punkten bzw. militärischen Einrichtungen in Somalia und Katar sowie der Teilnahme an multinationalen Einsätzen im Kosovo und in Afghanistan. Sollte es zu einer Kon­traktion der türkischen Volkswirtschaft kommen, würden auch die Ressourcen feh­len, derer es für ambitionierte Militäreinsätze jenseits der eigenen Grenzen bedarf.

Seit die Nato im Juni 2022 unter dem Eindruck der Ukraine-Invasion ihr neues Strategisches Konzept verabschiedet hat, betrachtet sie Russland ausdrücklich als größte Bedrohung der euroatlantischen Sicherheit. In diesem Zusammenhang ist der Schwarzmeerraum von herausragender Bedeutung. Die türkische Strategie gegen­über Russland deckt sich dabei weitgehend mit dem Ansatz, den die Nato ursprünglich im Umgang mit Moskau verfolgte, setzt also auf eine Kombination aus Abschreckung und Dialog.

Nach der Krim-Annexion 2014 hatte sich Ankara zwar den westlichen Sanktionen gegen Russland nicht angeschlossen, die Annexion jedoch ebenfalls nicht anerkannt und darüber hinaus eine militärische Zu­­sammenarbeit mit der Ukraine angebahnt. Ziel der Türkei war dabei nicht nur, Lücken in den eigenen Produktionskapazitäten zu schließen, sondern auch, die militärischen Fähigkeiten der Ukraine zu erhöhen. Dass sie am Konzept von Abschreckung und Dia­log gegenüber Russland festhält, erlaubt der Türkei eine Vermittlerrolle zwischen Mos­kau und Kiew – womit sie zum russisch-ukrainischen Getreideabkommen beitrug. Ungeachtet der türkischen Wirtschafts- und Energieabhängigkeit von Russland (so bei Erdgas und Tourismus) hat die türkische Flotte Russland im Schwarzen Meer Paroli geboten. In Syrien und Libyen wurde der Einfluss Moskaus durch die türkischen Streitkräfte ausbalanciert.

Die Türkei hat Russland zudem an vielen Fronten herausgefordert – zuletzt im Kau­kasus. Dort musste es Moskau nach dem Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan 2020 hinnehmen, die Waffenruhe gemeinsam mit Ankara zu überwachen. Mit dem Zangezur-Korridor, der die Türkei mit Aserbaidschan und Zentralasien verbindet, entsteht eine alternative Route für Erdgas aus dem Kaspischen Meer nach Europa, die nicht durch Russland führt. Die EU kann sich ein Stück weit aus der Rohstoffabhängigkeit von Russland befreien, indem sie die Türkei dabei unterstützt, sich als Energiekorridor zu etablieren.

Ausblick und Empfehlungen

In der Türkei droht eine Wirtschaftskrise, die die Abschreckungskapazität und Ein­dämmungspolitik des Landes gegenüber Russland schwächen würde. Vor diesem Hintergrund ist eine enge Zusammenarbeit zwischen Brüssel und Ankara geboten. Das Verhältnis der EU zur Türkei hat sich wäh­rend der letzten Jahre unter anderem wegen innenpolitischer Entwicklungen in dem Land verkompliziert. Ungeachtet des­sen ist der Nato-Staat für die Sicherheit der EU wichtiger denn je. Als deren Nachbarland und als Regionalmacht im Schwarzmeer- und Nahostraum spielt die Türkei eine wichtige Rolle bei der Steuerung von Migrations- und Fluchtbewegungen, bei der Terrorismusbekämpfung, der Sicherung maritimer Transportrouten und der Ein­dämmung russischen Einflussstrebens.

Ihr Aufstieg zu einer Regionalmacht, die sich mit Russland arrangiert, es zugleich herausfordert und die Ukraine dabei auch militärisch unterstützt, macht die Türkei für die EU und Deutschland sicherheitspolitisch weniger entbehrlich denn je. Daher ist es erforderlich, das Land enger an die Sicherheitsarchitektur der EU anzubinden, wobei die Nato eine wichtige Rolle spielen kann. Kooperieren ließe sich auch bei der Bekämpfung von irregulärer Migration und Menschenhandel, was im Rahmen der euro­päischen Grenzschutzagentur Frontex so­wie des maritimen Einsatzverbands Stan­ding Nato Maritime Group 2 geschehen könnte. Überdies ist eine Zusammenarbeit im Rahmen der EU-Verteidigungsinitiative PESCO denkbar, die eine Beteiligung von Drittländern nicht ausschließt und an der Ankara Interesse bekundet hat.

Für Brüssel und Berlin ist es unter diesen Umständen ratsam, der Türkei gegenüber eine kritisch-pragmatische Politik zu verfol­gen, die der veränderten strategischen Lage sowie Ankaras Wirtschafts- und Sicherheitsinteressen Rechnung trägt. Ein wichtiger Schritt wäre eine Modernisierung der Zoll­union zwischen EU und Türkei. Für beide Seiten hätte es starke Wohlfahrtseffekte, würde das entsprechende Abkommen auf Dienstleistungen und unverarbeitete land­wirtschaftliche Güter ausgeweitet und würde es gelingen, die Transportbedingungen für türkische Fahrzeuge im Transitverkehr zu und durch die EU-Staaten zu ver­bessern. Die Türkei ist auch an einer Mit­sprache beim Abschluss von Zollabkommen mit Drittstaaten interessiert. Verhandlungen zur Aktualisierung der Zollunion wür­den dazu beitragen, die Unsicherheit euro­päischer Wirtschaftsakteure über die künf­tige Anbindung des Landes an die EU zu überwinden.

Für eine wirtschaftliche Zusammenarbeit kämen auch die Europäische Investitionsbank (EIB) und die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBWE) in Frage. Sie könnten Finanzmittel für den Wiederaufbau der vom Erdbeben im Feb­ruar 2023 betroffenen Gebiete bereitstellen – geknüpft an die Bedingung einer effekti­ven Bekämpfung von Korruption etwa im Bausektor und einer transparenten Über­prüfung der Vergabeverfahren. Mit einer solchen Konditionalität wäre auch der türkei-kritischen Stimmung in der EU Rech­nung getragen.

Im Falle Deutschlands gibt es auf staatlicher wie zivilgesellschaftlicher Ebene zahl­reiche Plattformen der bilateralen Zusammenarbeit. Um drei davon herauszugreifen:

  • Die Deutsch-Türkische Industrie- und Handelskammer zählt mittlerweile rund eintausend Mitglieder. Sie könnte eine wichtige Rolle spielen, wenn es darum geht, die Zusammenarbeit gerade in den Sektoren Automobile und Zulieferung, Energie, Maschinenbau und Rüstung zu vertiefen.

  • Die Joint Economic and Trade Commission (JETCO) wurde 2013 gegründet. Als branchenübergreifende Plattform zielt sie darauf, die bilaterale Zusammen­arbeit vor allem in den Bereichen Handel, industrielle Kooperation, Tourismus und Infrastruktur zu verbessern und konkrete Projekte zu entwickeln. Im Rahmen des Formats findet jährlich eine Sitzung unter Leitung beider Wirtschafts­minister statt.

  • Zu nennen ist zudem die Türkisch-Deut­sche Energiepartnerschaft. Sie entstand 2012 durch eine Vereinbarung zwischen dem türkischen Ministerium für Energie und natürliche Ressourcen und dem Bundeswirtschaftsministerium.

Diese drei Plattformen können dazu bei­tra­gen, den Dialog zwischen Politik und Wirt­schaft beider Länder zu forcieren, bilaterale Differenzen zu bearbeiten und weitere Kooperationsmöglichkeiten auszu­loten.

Dr. Yaşar Aydın ist Wissenschaftler am Centrum für angewandte Türkeistudien (CATS).

Das Centrum für angewandte Türkeistudien (CATS) wird gefördert durch die Stiftung Mercator und das Auswärtige Amt.

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