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Zwischenwahlen in den USA – keine Rückkehr zur Politik vor Trump

SWP-Aktuell 2022/A 67, 31.10.2022, 8 Seiten

doi:10.18449/2022A67

Forschungsgebiete

Zwischenwahlen in den USA sind nicht nur Stimmungsbarometer für den Erfolg einer Präsidentschaft. Die Machtverhältnisse im Kongress entscheiden über den Handlungs­spielraum des Präsidenten: Ein divided government – in dem mindestens eine Kammer des Kongresses nicht von der eigenen Partei kontrolliert wird – schränkt dessen Fähig­keit ein, Gesetzesvorhaben zu realisieren. Zwar sind die Aussichten für die Republika­ner im Hinblick auf die Wahlen am 8. November besser, doch für verlässliche Pro­gno­sen ist deren Ausgang zu ungewiss. Die sogenannten Midterms sind noch aus einem anderen Grund bedeutsam: In den Bundesstaaten werden die Weichen für nationale Wahlen bis hin zur Präsidentschaftswahl gestellt. Da die Legitimität von Wahlverfahren zunehmend selbst zum Gegenstand parteipolitischer Auseinandersetzung wird, ist wichtig, wer solche Verfahren beaufsichtigt. Vor diesem Hintergrund ist es pro­blema­tisch, dass eine klare Mehrheit in der Republikanischen Partei dem Mythos anhängt, die Niederlage von Präsident Trump sei das Resultat einer »gestohlenen Wahl« ge­wesen, und versucht, ihren Erfolg an der Urne mit zweifelhaften Methoden zu sichern.

Seit den 1990er Jahren ist es nahezu der Regelfall, dass die Partei des Präsidenten in den Zwischenwahlen ihre Mehrheit im Kon­gress verliert. Die letzten vier Präsidenten begannen eine Amtszeit mit einer Mehrheit ihrer Partei im Kongress und büßten sie nach zwei Jahren ein.

Die Zustimmungswerte für Joe Biden sind seit Monaten konstant niedrig. Ein Grund dafür ist die hohe Inflation. Diese ist zum Teil auf große Konjunkturprogramme zu­rückzuführen, die den Einbußen der Wirt­schaft in der Covid-19-Pandemie entgegen­wirken sollen, vor allem aber auch auf die hohen Energiekosten infolge des Krieges in der Ukraine. Wegen ihrer vergleichsweise großen Abhängigkeit vom Auto reagiert die amerikanische Öffentlichkeit besonders sen­sibel auf die seit Monaten hohen Benzin­preise. Daher gingen noch im Frühjahr die meisten von einem Erdrutschsieg der Repu­blikaner am 8. November 2022 aus.

Bidens Bilanz

Drei Faktoren tragen dazu bei, dass der Aus­gang der Wahl trotz nach wie vor besserer Startbedingungen für die Republikaner nun wieder offener ist. Der erste sind die legis­lativen Errungenschaften der Biden-Regie­rung in den letzten Monaten, die seine Zwi­schenbilanz verbessern. Zwar erzielte die Administration zu Beginn ihrer Amtszeit mit dem American Rescue Plan Act, einem Hilfspaket über 1,9 Billionen US-Dollar zur Bekämpfung der wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Covid-19-Pandemie, einen ersten Erfolg. Der noch ambitioniertere Build Back Better Act scheiterte aber am Widerstand der eigenen Partei. Im Senat verhinderten zwei eher konservative Demo­kraten, Joe Manchin und Kyrsten Sinema, eine Mehrheit für das Paket aus Sozialleistungen insbesondere für Familien und ehr­gei­zigen Maß­nahmen zum Klimaschutz. Nach monatelangen schwierigen Verhandlungen stand Biden zunächst mit leeren Händen da.

Dann wurden in kurzer Abfolge drei Gesetze verabschiedet. Ein Infrastruktur­paket im Umfang von über einer Billion US‑Dollar, das der Modernisierung etwa von Straßen, Brücken, Schienen- und Strom­netzen und Trinkwasserleitungen dient und dem öffent­lichen Nahverkehr sowie dem Ausbau von Ladesäulen für Elektromobilität zugutekommen soll. Da alle Staaten von den Mitteln profitieren, stimmten auch einige Republikaner für das Gesetz. Klima­politische Investitionen und Regelungen zur Begrenzung der Kosten für verschreibungspflichtige Medikamente wurden in ein Gesetz gegossen, das irreführenderweise als Inflation Reduction Act betitelt wurde. Auch diese Initiative fand eine Mehrheit. Und zuletzt konnte Biden im August den CHIPS and Science Act unterzeichnen, der mit einer überparteilichen Mehrheit ver­abschiedet worden war. Er soll die Position der USA im technologischen Wettbewerb mit China stärken. Das Gesetz enthält eine ganze Palette an finanziellen Anreizen für die Halbleiterproduktion in den USA mit einem Volumen von etwa 50 Milliarden US‑Dollar und stellt weitere 170 Milliarden US-Dollar bereit für Forschung, Entwicklung und Ausbildung im Hochtechnologiesektor in Bereichen wie Halbleiterherstellung, Quantum-Computing, künstliche Intelligenz, Biotechnologie und grüne Energie.

Störfaktor Trump

Der zweite Faktor, der sich negativ auf das Ausmaß des republikanischen Wahlerfolgs auswirken könnte, sind die Kandidatinnen und Kandidaten, die für die Partei antreten. Der ehemalige Präsident Donald Trump ge­nießt unter republikanischen Wählerinnen und Wählern nach wie vor enormen Ein­fluss und hat diesen genutzt, um Bewerberinnen und Bewerber für Ämter auf allen Ebenen durch Wahlempfehlungen zu unter­stützen. Dafür mussten potentielle Kandidatinnen und Kandidaten ihre Loya­li­tät unter Beweis stellen, indem sie öffent­lich die Rechtmäßigkeit des Wahlsiegs von Joe Biden in Frage stellten. Das führte dazu, dass sich der Mythos von der »gestohlenen Wahl« weiter in der Republikanischen Partei festsetzte. Zwar ist die Bilanz von Trumps Empfehlungen beachtlich. Für den Senat setzten sich in Vorwahlen alle Favori­ten Trumps durch, für das Repräsentantenhaus verloren nur fünf von 160 und für das Gouverneursamt drei von 21. Nicht immer war seine Unterstützung entscheidend: Häufig setzte er auf Personen, die ohnehin vorne lagen. In einigen Fällen, wie bei dem Senatskandidaten J.D. Vance aus Ohio, katapultierte Trumps Fürsprache jedoch den Bewerber aus einer schlechten Aus­gangslage in die Spitzenposition.

Allerdings gewährte Trump seine Wahlempfehlungen eher instinktiv nach Sym­pathie und dem Grad der Aufmerksamkeit, den die entsprechenden Personen genossen, so dass die Gewinner der Vorwahlen nicht immer die mit den besten Chancen sind, sich auch im November durchzusetzen. Bei­spiele für republikanische Kandidaten, die zunächst in den Umfragen schlechter ab­schnitten als die parteipolitischen Tendenzen in ihren Staaten vermuten lassen, sind der Fernseharzt Mehmet Oz, der kaum mit seiner Wahlheimat Pennsylvania verwurzelt ist, oder der ehemalige Football-Spieler Herschel Walker in Georgia, der sich mit Vorwürfen häuslicher Gewalt konfrontiert sieht und trotz seines öffentlichen Ein­tretens für ein vollständiges Abtreibungsverbots einen Schwangerschaftsabbruch veranlasst und bezahlt haben soll. Mitch McConnell, Minderheitsführer im Senat, bemängelte dementsprechend die Qualität von Kandidatinnen und Kandidaten der eigenen Partei. Diese Situation verbessert die Aussichten der Demokraten gerade in schwierigen Rennen etwas.

Abtreibungsurteil mobilisiert

Als dritter Faktor, der den Demokraten möglicherweise Auftrieb verschafft, könnte das Urteil des obersten Gerichtshofs gegen ein verfassungsmäßiges Recht auf Abtreibung wirksam werden. Damit revidierte der Supreme Court eine fast 50 Jahre geltende Rechtsprechung und ermöglichte es den Bundesstaaten, Abtreibung per Gesetz zu verbieten. In fast der Hälfte der Staaten wurde der Zugang zu Abtreibungen un­mittelbar darauf eingeschränkt, in einigen wurden selbst Fälle von Vergewaltigung, Inzest oder bei Gefahr für die Gesundheit der Mutter nicht vom Abtreibungsverbot ausgenommen. Je nach Art der Umfrage befürworten zwischen 60 und 80 Prozent der amerikanischen Bevölkerung das Recht auf Abtreibung unter bestimmten Bedingungen. Gesetze, die Abtreibungen selbst in einem sehr frühen Stadium der Schwangerschaft kriminalisieren und keine Ausnahmen zulassen, werden auch von republikanischen Wählerinnen und Wählern nicht uneingeschränkt unterstützt. Selbst im konservativen Kansas scheiterten die Repu­blikaner mit dem Versuch, das Abtreibungs­recht in der Verfassung per Volksentscheid aufzuheben. Die Empörung über die Ent­wicklung hilft den Demokraten, Wähle­rinnen und Wähler zu mobilisieren. Ins­besondere Frauen werden wohl in größerer Zahl wählen gehen als sonst bei Zwischen­wahlen üblich. Im Hinblick auf die Kon­gresswahlen motivieren die Demokraten potentielle Wählerinnen und Wähler mit dem Versprechen, das Recht auf Abtreibung per Gesetz auf Bundesebene zu verankern. In den Einzelstaaten präsentieren sie sich als Garanten dafür, dass nicht noch mehr Staaten Abtreibung kriminalisieren, indem beispielsweise demokratische Gouverneurinnen und Gouverneure Abtreibungs­verbote der Länderparlamente durch ihr Veto verhindern.

Erstes von drei Szenarien: Sieg der Republikaner in beiden Kammern

Grundsätzlich gibt es drei Möglichkeiten für den Ausgang der Wahl. Die größten Veränderungen bringt ein Szenario, in dem die Republikaner Mehrheiten in beiden Kammern des Kongresses gewinnen. In diesem Fall wäre das wahrscheinlichste Er­gebnis legislativer Stillstand. Abgeordnete bzw. Senatorinnen und Senatoren der Repu­blikanischen Partei übernähmen den Vor­sitz in den Ausschüssen und stellten das Führungspersonal im Repräsentantenhaus und im Senat. Dadurch hätten sie die Kon­trolle über die Agenda. Es ist zwar denkbar, dass einzelne Gesetzesvorhaben überparteiliche Mehrheiten finden, beispielsweise eine Strafrechtsreform, die Regulierung von großen Technologiekonzernen wie Amazon oder der sozialen Plattformen oder Initia­tiven mit Bezug auf China oder Russland. Allerdings legen die Erfahrungen aus der Präsidentschaft von Barack Obama nahe, dass das die Ausnahme bleiben dürfte. Mitch McConnell verfolgte als Mehrheitsführer im Senat bereits gegenüber Präsident Obama die Strategie, dem Weißen Haus durch eine Blockadepolitik legislative Er­folge zu verwehren, und würde gegenüber Präsident Biden wohl ähnlich verfahren. Umgekehrt würden die Republikaner mit eigenen Gesetzesinitiativen aber am Veto des Präsidenten scheitern, das nur mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit in beiden Kammern des Kongresses überstimmt werden kann.

Der Administration bleibt die Möglichkeit, durch die Haushaltsgesetzgebung, der beide Parteien zustimmen müssen, um einen »government shutdown« zu verhindern, politische Prioritäten zu setzen und durch Dekrete und Verordnungen der Minis­terialbürokratie im Rahmen bestehender Gesetze Politik zu machen. Beschränken könnte diese Strategie das Verfassungs­gericht, das die Regulierungsbefugnisse der Behörden sehr eng auslegt. So hat der Supreme Court der Umweltbehörde EPA untersagt, den Ausstoß von Treibhausgasen bei Kraftwerken unter dem Clean Air Act zu regulieren. Dabei stellte das Gericht fest, dass Fälle von großer wirtschaftlicher oder politischer Relevanz eines Mandats durch den Kongress bedürfen. Das Urteil wird erwartungsgemäß über den konkreten Fall hinaus die Kompetenzen von Regulierungs­behörden einschränken. Unmittelbar bevor steht ein weiteres Urteil, in dem es um die Befugnisse der EPA unter dem Clean Water Act geht.

In der Außenpolitik ist der Handlungsspielraum des Präsidenten größer. Der Kon­gress kann hier über die Genehmigung des Haushalts Einfluss nehmen – ein Faktor, der insbesondere mit Blick auf zukünftige Waffen- und andere Hilfslieferungen für die Ukraine relevant werden könnte. An­sonsten hat der Präsident im Rahmen beste­hender Gesetze viel Freiheit, als oberster Diplomat und Befehlshaber die außenpoli­tische Richtung vorzugeben. Versuche des Kongresses, diesen Spielraum durch Gesetze zu beschränken, kann er in der Regel durch die Sperrminorität der eigenen Partei im Senat oder durch sein Veto verhindern.

Offen ist, wie ein republikanisch geführter Senat künftig in der Frage der Bestätigung von Bundesrichtern agieren würde. Das Vorschlagsrecht liegt beim Präsidenten, traditionell wurden Richter überparteilich bestätigt, und die Opposition muss gewich­tige Gründe vorweisen, um einem Richter die Zustimmung zu verweigern. Mitch McConnell brach mit dieser Norm, als er 2016 mit Hinweis auf die kurze, noch ver­bleibende Amtszeit Obamas verhinderte, dass der nach dem Tod von Antonin Scalia vom Präsidenten nominierte Merrick Garland auch nur eine Anhörung im Senat bekam. Ein plausibler Verlauf wäre, dass McConnell Richternominierungen im Jahr 2023 noch behandelt, aber ab 2024 dann blockiert.

Die Alternativen: Split Congress oder Unified Government

Im zweiten Szenario würden die Demo­kraten ihre Mehrheit im Senat halten, die Repu­blikaner jedoch Kontrolle über das Repräsentantenhaus übernehmen. Auch dann wären größere Gesetzesvorhaben wenig aussichtsreich. Doch könnte Biden auf die Unterstützung des Senats bei der Bestä­tigung seiner Kandidatinnen und Kandidaten für politische Ämter und Richterposten zählen, die mit einfacher Mehrheit erfolgt.

Unabhängig vom Senat wird das Repräsentantenhaus – höchstwahrscheinlich unter der Führung von Sprecher Kevin McCarthy – Untersuchungen gegen Mit­glieder der Biden-Administration einleiten. McCarthy hat bereits auf Twitter angekündigt, den Justizminister vorzuladen, um ihn zur Durchsuchung von Trumps Wohnsitz Mar-a-Lago durch Beamte der Bundespolizei FBI zu befragen. James Comer, voraussichtlich Vorsitzender des Kontroll- und Reform­ausschusses, will Geschäftspraktiken von Hunter Biden, dem Sohn des Präsidenten, untersuchen. Außerdem wollen die Repu­blikaner Heimatschutzminister Alejandro Mayorkas zur Situation an der Grenze zu Mexiko vorladen. Zudem wächst der Druck innerhalb der Republikanischen Partei, ein Amtsenthebungsverfahren gegen Präsident Biden einzuleiten, auch wenn noch nicht ganz klar ist, weswegen.

Je knapper die republikanische Mehrheit im Repräsentantenhaus ausfällt, desto mehr Rücksicht muss der Sprecher auf extreme Stimmen in seinen eigenen Reihen nehmen, so dass bei einem geringen Vorsprung die Wahrscheinlichkeit von Untersuchungen steigt.

Sollte es den Demokraten gelingen, ihre Mehrheiten in beiden Kammern zu halten, könnte Präsident Biden weiter auf ihre Unterstützung setzen. Allerdings verhindert die Anforderung einer 60-Stimmen-Mehr­heit zur Verabschiedung von Gesetzen im Senat weiterhin ein Durchregieren. Die Abschaffung des sogenannten Filibuster wäre zwar durch eine Änderung der Ge­schäftsordnung mit einfacher Mehrheit möglich. Da aber Joe Manchin und Kyrsten Sinema diesen Weg blockieren, müssten die Demokraten dafür ihre Mehrheit im Senat noch weiter ausbauen.

Institutionelle Weichenstellung durch Einzelstaatenwahlen

Neben dem Kongress werden am 8. No­vem­ber auch die Parlamente, zahlreiche Rich­terinnen und Richter sowie Mitglieder der Exekutive der meisten Bundesstaaten ge­wählt, darunter 36 Gouverneurinnen und Gouverneure. Die Auswirkungen dieser Wahlen sind vor allem regional, doch sie haben auch eine institutionelle Dimension, denn die Regierungen der Einzelstaaten entscheiden über die jeweils gültigen Ver­fahren aller Wahlen bis hin zur Präsidentschaftswahl. Durch die Weigerung Donald Trumps, seine Wahlniederlage einzugestehen, und das daraus resultierende Misstrauen gegenüber den Wahlverfahren hat die Bedeutung der Verantwortung für diese Verfahren noch zugenommen.

Eine Partei kann ohne Rücksicht auf die Opposition Gesetze verabschieden, wenn sie in einem Staat beide Kammern der Legis­lative kontrolliert und die Gouverneurin oder den Gouverneur stellt – eine so­genannte trifecta. Das gilt auch für Wahl­gesetze, und so versuchen die Parteien immer wieder, sich in Staaten, die sie kon­trollieren, durch parteiische Wahl­regeln einen Vorteil zu verschaffen.

Gerrymandering und Voter Suppression

Eine Methode ist das Gerrymandering, bei dem die regierende Partei die Wahlbezirke so festlegt, dass die Stimmen der eigenen Wählerinnen und Wähler zu möglichst vielen Mandaten führen. 2019 entschied der Supreme Court, dass Bundesgerichte auch im Falle extremer Verzerrung des Wählerwillens nicht zum Eingreifen befugt sind.

Eine weitere Methode ist die Einführung von Hürden für die Stimmabgabe, die Kriti­ker als Voter Suppression bezeichnen. Repu­blikaner haben diese Praxis ausgeweitet, nachdem der Supreme Court 2013 ent­schie­den hatte, dass Staaten mit einer Geschichte von Diskriminierung Änderungen ihrer Wahlgesetze nicht mehr, wie im Voting Rights Act von 1965 festgelegt, vom Justiz­ministerium genehmigen lassen müssen. Nach dem Urteil wurden in republikanisch regierten Staaten restriktive Wahlgesetze erlassen, vordergründig um Wahlbetrug vorzubeugen. Das Spektrum der einschränkenden Maßnahmen reichte von der Strei­chung von Namen aus Wahlregistern über neue Ausweispflichten bis hin zur Reduzie­rung der Zahl der Wahllokale oder der Verkürzung ihrer Öffnungszeiten (vgl. SWP-Aktuell 64/2017). Die eigentliche Intention bestand darin, Wählergruppen, die zu den Demokraten tendieren, von der Stimm­abgabe abzuhalten. Eine Gesetzesinitiative, solche Praktiken zu unterbinden, scheiterte 2019 am republikanisch kontrollierten Senat und wurde nach Wiedervorlage 2021 mit Hilfe des Filibusters verhindert.

Jüngere empirische Untersuchungen zei­gen, dass strengere Ausweispflichten einen geringeren Effekt auf die Wahlbeteiligung haben als bisher angenommen, da sie zum Teil durch zusätzliches Engagement bei der Mobilisierung kompensiert werden. Auch andere Maßnahmen, wie die Möglichkeit der Briefwahl oder die Stimmabgabe in den Wochen vor dem Wahltag, haben keine klaren parteipolitischen Auswirkungen. So hält die Einschränkung der Briefwahl ältere Wählerinnen und Wähler von der Stimm­abgabe ab, die eher zu den Republikanern tendieren. Dennoch ist der Versuch, die Wahrnehmung des Wahlrechts zu erschwe­ren, aus normativer Sicht problematisch.

Aktuell halten die Republikaner in 23 Staaten trifectas, die Demokraten in 14. Da­mit können die Republikaner, die stärker auf Restriktionen setzen, in mehr Staaten die Regeln diktieren. Bei der Festlegung der Wahlbezirke, die in manchen Staaten auch durch unabhängige Kommissionen erfolgt, haben die Republikaner in 19 Staaten das letzte Wort, die Demokraten in acht. Wegen der mangelnden Interventionsbereitschaft des Supreme Court haben viele der Maß­nahmen Bestand, und es wird schwieriger, das eigene Wahlrecht wahrzunehmen. In drei Staaten, die 2020 entscheidend waren für Bidens Wahlerfolg und bisher durch eine Partei kontrolliert wurden, haben je­weils beide Parteien die theoretische Aus­sicht, durch eine trifecta die volle Kontrolle zu erlangen: Michigan, Pennsylvania, und Wisconsin. Unter den Staaten mit knappem Wahlausgang bei der letzten Wahl könnten die Republikaner in Arizona ihre trifecta verlieren, die Demokraten in Nevada.

Wahlleugnerinnen und ‑leugner kandidieren für wichtige Ämter

Donald Trumps Weigerung, das Ergebnis der letzten Wahl anzuerkennen, und die Unwilligkeit führender Republikaner, sich deutlich von seinen Aussagen zu distanzieren, haben tiefe Spuren in der Öffentlichkeit hinterlassen.

Laut Umfragen glauben etwa 70 Prozent der republikanischen Wählerinnen und Wähler der Lüge, dass die letzte Präsident­schafts­wahl »gestohlen« worden sei, dass also in großem Umfang Wahlbetrug statt­gefunden habe und Joe Biden nicht der rechtmäßige Präsident der USA sei. Selbst nach dem Sturm auf das Kapitol am 6. Januar 2021 stimmten im Kongress 139 Ab­geordnete (etwa zwei Drittel der republikanischen Abgeordneten) gegen die Bestätigung des Wahlergebnisses. 70 Pro­zent der republikanischen Kandidatinnen und Kandidaten für den Kongress haben Zweifel am Wahlsieg Joe Bidens geäußert. Unter Bewerberinnen und Bewerbern für Positionen in den Staaten mit Verantwortung für Wahlen wie Gouverneur, Landes­innenminister (Secretary of State) oder Justizminister (Attorney General) sind es etwas mehr als die Hälfte. Etwa ein Viertel bis ein Drittel davon sagt offen, dass die letzte Wahl manipuliert worden sei, die übrigen äußern ihre Zweifel auf subtilere Weise. Einzelne, wie Senatskandidat Don Bolduc in New Hampshire und Herschel Walker in Georgia, sind seitdem zurück­gerudert und erkennen das Wahlergebnis nun an, um bei den Hauptwahlen weniger radikal zu erscheinen.

Bei knappen Wahlergebnissen kann es einen Unterschied machen, wie die für die Wahlaufsicht Verantwortlichen reagieren. Donald Trumps Forderung, »11780 Stim­men zu finden«, die ihm eine Mehrheit im Bundesstaat Georgia gesichert hätten, stieß bei Landesinnenminister Brad Raffensperger auf taube Ohren. Und bemerkens­werterweise gehört Raffensperger zu den Bewerbern, die sich auch dieses Mal in den Vorwahlen gegen einen von Trump unter­stützten, den Wahlausgang leugnenden Herausforderer durchgesetzt haben. Doch dort, wo Trump-Loyalisten siegen, ist es denkbar, dass sie bei umstrittenen Wahl­ausgängen in den entsprechenden Positio­nen ihren Einfluss geltend machen.

Daneben gibt es eine Kampagne, um Trump-Loyalisten für die Republikanische Partei zu gewinnen und als Wahlhelferinnen und Wahlhelfer zu rekrutieren. Seit Trumps ehemaliger Berater Steve Bannon dafür in seinem Podcast warb, kam es in einer Reihe von Wahlkreisen zu einem merklichen Anstieg republikanischer Frei­williger für Parteiämter und Wahlhelfer­positionen. In Michigan führt die Republikanische Partei Trainings durch, in denen sie den Ehrenamtlichen beibringt, ihnen verdächtige Wahlstimmen anzuzweifeln, und organi­siert juristischen Beistand.

In diesem Zusammenhang ist auch besorg­niserregend, dass landesweit Wahlhelferin­nen und Wahlhelfer bedroht werden. In Texas trat im Sommer im Wahlkreis Gilles­pie County der Wahlvorstand einschließ­lich seiner Mitarbeiter zurück, nachdem sie wegen der Kontroverse über die Wahl 2020 Morddrohungen erhalten hatten. Inwieweit sich solche Entwicklungen allgemeiner auf die Integrität des Wahl­prozesses auswirken, lässt sich nur schwer einschätzen.

Chancen auf eine Teilreform

Ein Hoffnungsschimmer ist die überparteiliche Unterstützung für eine Reform des antiquierten Electoral Count Act von 1887. Diese könnte dazu beitragen, dass sich eine Situation wie am 6. Januar 2021 nicht wiederholt. Um den Wahlsieg Joe Bidens zu verhindern, hatten Akteure in verschiedenen Staaten versucht, konkurrierende Lis­ten von Wahlleuten zur Auszählung ein­zureichen. Gewaltbereite Demonstranten wollten den Vizepräsidenten davon abhal­ten, seiner Aufgabe, die Auszählung der Stimmen zu leiten, nachzukommen. Durch die Reform würde explizit festgeschrieben, dass nur Gouverneure das Recht haben, Listen von Wahlleuten einzureichen, und dass die Rolle des Vizepräsidenten rein zeremoniell, er also nicht befugt ist, von den Staaten entsandte Wahlleute nicht anzuerkennen. Auch die Schwelle, um von Seiten des Kongresses ein Wahlergebnis aus einem Bundesstaat anzufechten, soll erhöht werden: Statt wie bisher einem Mitglied jeder Kammer wären dafür zukünftig in beiden Häusern jeweils 20 Prozent der Mit­glieder notwendig. Die Reform soll in der Zeit nach der Wahl verabschiedet werden, bevor sich der neue Kongress konstituiert.

Supreme Court agiert zunehmend ideologisch und parteiisch

Seit 2010 hat der Oberste Gerichtshof eine Reihe von umstrittenen Urteilen mit pro­funden Auswirkungen auf den Wahlprozess in den USA gefällt. 2010 kippte das Gericht bestehende Beschränkungen der finanziellen Unterstützung von Kandidaten durch Unternehmen und Nichtregierungsorganisationen. Dadurch wurde die Bedeutung von Wahlkampfspenden noch einmal er­höht, zumal bestimmte Wahlkampfgruppen, sogenannte Political Action Committees, auch nicht gezwungen sind, ihre Finanzquellen offenzulegen. 2013 kippte das Gericht eine Regelung des Voting Rights Act von 1965, wonach Staaten mit einer Geschichte rassistischer Diskriminierung Änderungen ihrer Wahlgesetze durch das Justizministerium genehmigen lassen müs­sen. Im Anschluss an das Urteil gab es in republikanisch kontrollierten Staaten eine Welle von Gesetzesinitiativen, um neue Hürden für die Stimmabgabe zu errichten. 2019 entschied der Supreme Court, dass Bundesgerichte selbst in extremen Fällen nicht befugt sind, die Praxis des von partei­politischen Kalkülen gesteuerten Gerry­manderings zu verhindern.

Im Herbst 2022 stehen zwei weitere wichtige Fälle an. In Merrill v. Milligan urteilt das Gericht über einen weiteren Fall im Zusammenhang mit dem Voting Rights Act und der strategischen Festlegung von Wahlkreisen. Gestritten wird darüber, ob die Einteilung der Wahlbezirke in Alabama diskriminierend wirkt, weil ein Großteil der schwarzen Wählerinnen und Wähler in einem einzigen Wahlkreis konzentriert wird, während die restlichen so auf die übrigen Wahlkreise verteilt werden, dass ihre Stimme dort nur wenig Gewicht hat. Dadurch haben schwarze Wählerinnen und Wähler nur Aussicht auf einen von sieben Sitzen im Repräsentantenhaus, obwohl sie 27 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Ein Gericht in Alabama war zuvor zu dem Ergebnis ge­kommen, dass ihnen Wahlkreise mit einer Mehrheit zustehen. Abweichend vom an­sonsten legalisierten Einsatz des parteipoli­tisch motivier­ten Gerrymanderings verbie­tet der Voting Rights Act explizit das diskri­minierende Zuschneiden der Wahlkreise auf der Basis der Hautfarbe. Dennoch spricht alles dafür, dass der Supreme Court das Urteil des Gerichts in Alabama revidieren und die bestehende Wahlkreiseinteilung für rechtens erklären wird, ungeachtet der Tatsache, dass die schwarze Bevölkerung dadurch unterrepräsentiert wird. Fällt das Urteil aus wie allgemein erwartet, wird der Voting Rights Act damit weiter ausgehöhlt.

Auch im Fall Moore v. Harper geht es vordergründig um Wahlbezirksgrenzen, aber die Implikationen des Falles reichen deutlich weiter. Nachdem das Verfassungsgericht des Bundesstaats North Carolina einen Vorschlag der dortigen gesetzgebenden Kammern wegen extremem Gerry­mandering nach den Landesgesetzen für ungültig erklärt hat, soll geklärt werden, welche Rolle die Exekutive und Judikative der Einzelstaaten bei der Überprüfung von Beschlüssen der Legislative zu Wahlregularien haben. Die Verfassung der USA spricht die Verantwortung für Präsidentschafts- und Kongresswahlen explizit den gesetz­gebenden Körperschaften in den Staaten zu. Bisher war die gängige Interpretation, dass diese Kompetenz nach der in den Verfassungen der Einzelstaaten verankerten Ge­waltenteilung durch das Veto des Gouver­neurs und die juristische Überprüfung der Gerichte eingeschränkt ist. Die Kläger argu­mentieren nun, dass nach der sogenannten »Independent state legislature theory« allein die Legislative über Wahlregularien entscheidet. Falls der Oberste Gerichtshof dieser Lesart folgt, würde dies erneut die Möglichkeit von Kontrollinstanzen schwä­chen, gegen unfaire Wahlverfahren vor­zugehen.

Die Rechtsprechung des Supreme Court entfernt sich bei vielen Themen von der Mehrheitsmeinung der Öffentlichkeit, von Abtreibung über Umweltschutz bis zum Waffenbesitz. Gleichzeitig trägt das Gericht mit seinen Urteilen zu den Wahlgesetzen dazu bei, dass der Wählerwille nicht immer und überall Gehör findet.

Dass es so weit kommen konnte, dafür sorgte Mitch McConnell, als er Präsident Obama die Gelegenheit verwehrte, eine frei gewordene Position im Supreme Court zu besetzen (s. o.). So bereitete er nicht nur den Weg für die spätere konservative Mehrheit unter den höchsten Richtern, sondern brach mit einer zentralen demokratischen Norm, noch bevor Trump ins Weiße Haus einzog.

Wie umgehen mit den Demokratiedefiziten?

Die bis heute anhaltenden Versuche, Zwei­fel am Wahlausgang zu säen, und die man­gelnde Bereitschaft republikanischer Funk­tionsträger, der Mär von der gestohlenen Wahl deutlich zu widersprechen, haben das Vertrauen in die amerikanische Demokratie geschwächt. Laut Umfragen sehen Anhän­ger beider Parteien die Demokratie in Gefahr und die Akzeptanz von Gewalt als politischem Mittel nimmt zu, wenn auch die Aussagekraft solcher Umfrageergebnisse kontrovers diskutiert wird. Trump-Anhän­ger sehen in den Ermittlungen gegen den ehemaligen Präsidenten und der Durch­suchung seines Wohnsitzes in Mar-a-Lago eine Bestätigung für ihren Verdacht einer Verschwörung des »Deep State«. Als Präsi­dent Biden im September in Philadelphia vor den Gefahren durch den Extremismus der Trump-Anhänger für die Demokratie warnte, sorgte er bei den Republikanern für Entrüstung. Obwohl Biden bemüht war, zwischen Repu­blikanern generell und dem Trump-Flügel – er nannte sie »MAGA [Make America Great Again] Republicans« – zu differenzieren, werteten Konservative seine Äußerungen ihrerseits als Bedrohung für die Demokratie. Von Einsicht oder geteilten Bedenken war wenig zu spüren.

Die Situation in den USA wird häufig mit Begriffen wie »Polarisierung« oder »Spal­tung« beschrieben. Obwohl auch unter Progressiven eine gewisse Ideologisierung zu beobachten ist, sollte das nicht darüber hinwegtäuschen, dass antidemokratische Tendenzen der organisierten Politik derzeit bei den Republikanern zu verorten sind. Auch wenn die Möglichkeiten der Einflussnahme begrenzt sind, sollten deutsche Entscheidungsträgerinnen und ‑träger ihre Sorgen um die Legitimität der amerikanischen Demokratie bei Zusammenkünften mit Repräsentanten der US‑Politik, vor allem mit Vertreterinnen und Vertretern der Republikanischen Partei, durchaus ansprechen. Dabei ist es wichtig, zwischen institutionellen und ideologischen Fragen zu unterscheiden, um die Kritik weniger angreifbar gegenüber dem Vorwurf der Parteinahme zu machen. Da auch konser­vative Kräfte, insbesondere republikanische Mitglieder im Kongress oder Angestellte konservativer Think-Tanks, noch immer für die USA in Anspruch nehmen, dass diese ein Muster der liberalen Demokratie sind, müssen sie sich auch an den entsprechen­den Standards messen lassen.

Dr. Johannes Thimm ist Stellvertretender Leiter der Forschungsgruppe Amerika.

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