Der Vertrag über das Verbot von Kernwaffen tritt am 22. Januar in Kraft. Deutschland lehnt einen Beitritt ab. International durchsetzen wird sich die mit dem Vertrag angestrebte Ächtung von Kernwaffen in absehbarer Zukunft nicht. Grund sind inhaltliche Schwächen des Abkommens; außerdem gründet es auf fragwürdigen Annahmen, wie sich nukleare Abrüstung politisch erreichen lässt. Vor allem aber vernachlässigen seine Fürsprecher, dass sich der Vertrag in der Praxis stärker gegen Demokratien als gegen autokratische Kernwaffenstaaten richtet. In dieser Form wird nukleare Abrüstung nicht machbar sein – es wäre auch nicht in Deutschlands Interesse.
Nukleare Abrüstung ist ein international breit geteiltes Anliegen. Offiziell bekennen sich alle Staaten dazu, dass die Anzahl der Kernwaffen in der Welt verringert werden sollte. Vertraglich verankert wurde das Abrüstungsziel 1968 im »Treaty on the Non-Proliferation of Nuclear Weapons« (NPT), der die Proliferation von Atomwaffen verbietet und die friedliche Nutzung der Kernkraft garantiert. Der NPT verpflichtet in Artikel 6 alle 191 Vertragsparteien, »in redlicher Absicht Verhandlungen anzustreben über effektive Maßnahmen«, wie das atomare Wettrüsten beendet und nukleare Abrüstung umgesetzt werden kann. Auch weil der Artikel so »weich« formuliert ist und keine Fristen setzt, ist die Praxis der atomaren Abrüstung häufig umstritten gewesen. Seit dem Ende des Ost-West-Konflikts gilt dies für drei Aspekte.
Erstens stockt die quantitative Abrüstung. Zwar ist die Zahl der Kernwaffen auf der Welt seit 1986, als sie mit 70 300 ihren Höchststand erreichte, stark gesunken. Anfang 2020 zählten die Arsenale »nur noch« 13 410 Waffen. Reduziert wurden hauptsächlich die Bestände der USA und Russlands, die noch immer über 90 Prozent aller Kernwaffen auf sich vereinen. Jedoch ist die Bereitschaft der beiden Länder, quantitativ weiter abzurüsten, seit 2013 zum Erliegen gekommen, als Moskau ein Angebot Präsident Obamas ausschlug.
Zweitens herrscht Stillstand bei den die Abrüstung flankierenden Vertragswerken. Dies betrifft insbesondere den »Comprehensive Nuclear-Test-Ban Treaty« (CTBT), der alle Arten von Atomtests verbietet, sowie den »Fissile Material Cut-off Treaty« (FMCT), der die Produktion von waffenfähigem Spaltmaterial stoppen soll. Weil sechs Kernwaffenstaaten zögern, kann der CTBT seit 1996 nicht in Kraft treten. Die Verhandlungen für den FMCT sind seit 1995 blockiert, primär durch Pakistan.
Drittens verzeichnet die qualitative Abrüstung seit Jahren vor allem Rückschritte. Anstatt die Bedeutung von Kernwaffen in ihren Militärdoktrinen zu vermindern, haben die Nuklearmächte enorme Summen in die Modernisierung ihrer Atomstreitkräfte investiert. Zwar blieben die Sprengkopfzahlen teilweise unverändert – aber die Fähigkeiten der Waffen wurden ausgebaut.
Die Bewertung dieser Lage und die Frage, wie der Stillstand überwunden werden kann, haben die Vertragsstaaten des NPT tief gespalten. Die Kernwaffenstaaten verweisen auf die quantitativen Erfolge. Der Stillstand sei eine Momentaufnahme und der verschlechterten globalen Sicherheitslage seit 2014 geschuldet. Sobald diese Spannungen nachließen, könne man mit dem bewährten Ansatz der schrittweisen Abrüstung fortfahren. Für viele Nichtkernwaffenstaaten ist dieser Ansatz indes gescheitert. Sie werfen den Atommächten vor, ihre Waffen nicht aufgeben zu wollen. Ferner hätten Letztere kein Recht, die Einlösung ihrer Abrüstungsversprechen an Bedingungen wie eine verbesserte Sicherheitslage zu knüpfen. Frustriert über den Stillstand entschieden sich diese Nichtkernwaffenstaaten für den Neuansatz, Kernwaffen umfassend zu ächten.
Im Zuge der sogenannten »Humanitären Initiative« fanden ab 2013 Konferenzen zu den Folgen des Einsatzes von Atomwaffen statt. Auf Initiative Mexikos und mit Unterstützung Österreichs, Irlands, Südafrikas und von Nichtregierungsorganisationen folgten daraus Verhandlungen bei den Vereinten Nationen, die 2017 im Abschluss des »Treaty on the Prohibition of Nuclear Weapons« (TPNW) gipfelten. Da Honduras den Vertrag im Oktober 2020 als fünfzigster Staat ratifiziert hat, tritt er am 22. Januar 2021 in Kraft (inzwischen wurde Benin das einundfünfzigste Mitglied). Der TPNW wird so zu einem politischen Fakt. International durchsetzen wird sich die Ächtung von Kernwaffen dennoch absehbar nicht.
Erwartungen der Befürworter
Der TPNW verbietet allen Vertragsparteien, Kernwaffen zu entwickeln, sie zu besitzen, zu testen, einzusetzen, mit ihrem Einsatz zu drohen oder die Atomwaffen anderer Staaten auf dem eigenen Territorium zu lagern. Zudem ist es den Mitgliedern untersagt, andere (ob Vertragspartei oder nicht) bei diesen Aktivitäten zu unterstützen.
Für die Parteien des TPNW sind die Verbote völkerrechtlich verbindlich. Ziel der Befürworter des Vertrags ist es, das Denken über Kernwaffen in jenen Ländern zu ändern (Reframing), die zögern, dem TPNW beizutreten, oder ihn ablehnen. Laut eigenen Aussagen in zahlreichen Interviews und Artikeln setzen sie dafür auf vier Strategien.
Die Fürsprecher gehen von einer normativen Anziehungskraft des TPNW aus, weil er von kleinen Staaten gegen den Willen der Großmächte zustande gebracht wurde. Als »Akt der Selbstermächtigung«, der die nukleare Abrüstung demokratisiere, soll er frustrierte Nichtkernwaffenstaaten anziehen. Daneben bewerben die Unterstützer den TPNW als Teil eines historischen Trends zur Ächtung »inhumaner« Waffen.
Des Weiteren erwarten die Befürworter, dass von den Vertragsparteien »Peer Pressure« auf widerwillige Staaten ausgeht. Allen Staaten sei ihr internationales Ansehen wichtig; daher würde die Sorge, durch ein Festhalten an Kernwaffen globale Anerkennung einzubüßen, letztlich sogar die Atommächte zum Einlenken bewegen.
Darüber hinaus hoffen die Verfechter auf einen Kapitalabzug. Die darauf abzielende Kampagne »Don’t Bank on the Bomb« drängt Finanzinstitute, nicht mehr in Firmen zu investieren, die atomare Waffensysteme herstellen. In der Folge würde die Atomrüstung finanziell ausgetrocknet und letzten Endes eingestellt.
Schließlich soll zivilgesellschaftlicher Druck Staaten zum Beitritt zwingen. Da in vielen Ländern – auch jenen, die einer nuklearen Allianz wie der Nato angehören – die Öffentlichkeit den TPNW mittrage, würden deren Regierungen dem innenpolitischen Druck irgendwann nachgeben.
Enttäuschte Hoffnungen
Um die Bedeutung des TPNW einschätzen zu können, lohnt der Blick auf die drei Jahre seit Abschluss des Vertrags. In dieser Zeit haben die Hoffnungen der Befürworter bereits mehrere Dämpfer erlitten.
Der erste Rückschlag war die sofortige kollektive Absage aller Nato-Staaten und 2018 der Atommächte des NPT (USA, Russland, Großbritannien, Frankreich und China). Sie alle kritisierten, der TPNW ignoriere den Nutzen von Abschreckung, wecke unrealistische Erwartungen für die nukleare Abrüstung und sei so diesem Anliegen eher abträglich. Damit war klar, dass der Vertrag von Anfang an mächtige Gegner haben würde. Wären die Kernwaffen- und Nato-Staaten dem TPNW nur stillschweigend ferngeblieben, gäbe es diese politische Frontstellung nicht; die Unterstützer-Gegner-Bilanz fiele günstiger aus.
Zweitens haben sich starke Befürworter der Verhandlungen zum TPNW von ihm distanziert, nämlich die Schweiz und Schweden. Beide sind Verfechter des humanitären Völkerrechts und der nuklearen Abrüstung. Als allianzpolitisch neutrale Staaten unterliegen sie außerdem weniger Zwängen. Bern und Stockholm haben den TPNW mit ausgearbeitet und für den finalen Entwurf gestimmt, den Vertrag seither aber nicht unterzeichnet. Mehr noch: In veröffentlichten Gutachten haben sich der Schweizer Bundesrat 2018 und die schwedische Regierung 2019 vorerst gegen einen Beitritt ausgesprochen und zentrale Kritikpunkte der Atommächte bekräftigt.
Die dritte Enttäuschung hat sich lange angebahnt. Die Parteien des TPNW sind größtenteils weltpolitisch unbedeutende Kleinstaaten. Dass Tuvalu, Nauru, Jamaika und Honduras dem Vertrag die letzten Ratifizierungen beschert haben, damit er in Kraft treten kann, ist symptomatisch. Nur drei der 51 Parteien haben das Gewicht einer Regionalmacht: Mexiko, Nigeria und Südafrika. Alle übrigen Regionalmächte sind dem TPNW nicht beigetreten (Brasilien und Indonesien haben unterzeichnet, aber nicht ratifiziert), ebenso alle Großmächte nicht.
Diese Entwicklungen schwächen die normative Wirkung des Vertrags. Schon heute ist klar: Der TPNW hat keinerlei Chance, jemals Teil des Völkergewohnheitsrechts zu werden, denn hierfür müsste er zur allgemeinen Praxis in der Staatenwelt werden. Nur so könnte er beanspruchen, auch jene Länder völkerrechtlich zu binden, die ihm ferngeblieben sind. Im Fall des NPT ist das gelungen, nur vier Staaten gehören ihm nicht an. Der TPNW indes hat unter den Staaten 39 Gegner: Die neun Atommächte und die 27 Nichtkernwaffenstaaten der Nato haben bereits erklärt, ihm nie beizutreten; Japan, Südkorea und Australien setzen ebenfalls lieber auf den Schutz ihrer nuklearen Allianzen mit den USA. Allgemeine Praxis kann der TPNW auf die Weise nicht werden.
Auch die sozialwissenschaftliche Normenforschung legt den Schluss nahe, dass die Strahlkraft des TPNW gering ist. Damit eine internationale Norm einen »Tipping Point« erreicht, nach dessen Passieren sie sich durchsetzt, müssen zwei Bedingungen erfüllt sein. Zum einen ist eine kritische Zahl von Vertragsparteien nötig (ca. ein Drittel aller Staaten), zum anderen darunter eine größere Anzahl wichtiger Staaten im Sinne des normativen Anliegens. Von dieser qualitativen Schwelle für seinen Durchbruch ist der TPNW jedoch meilenweit entfernt. Keines der oben genannten 39 Länder, gegen die er sich richtet, tritt bei, Fürsprecher des humanitären Völkerrechts gehen auf Distanz. Nach dieser Analyse sind die Aussichten für den TPNW heute schlechter als 2017.
Vieles spricht dafür, dass die bislang enttäuschende Bilanz nicht nur Startschwierigkeiten reflektiert, sondern strukturelle Probleme. Einige scheinen unüberwindbar.
»Unforced Errors« in der Substanz
Zahlreiche Experten, die dem TPNW positiv gegenüberstehen, haben seine inhaltliche Substanz kritisiert, besonders zwei Aspekte. Bei dem einen geht es um die Regelungen zur Kontrolle der friedlichen Nutzung des Kernmaterials (Safeguards). Der TPNW sieht lediglich vor, dass die Parteien jene Kontrollen beibehalten, die sie vor ihrem Beitritt implementiert hatten, wobei sie mindestens das im NPT vorgeschriebene Niveau erreichen müssen, sogenannte »Comprehensive Safeguards«. Auf freiwilliger Basis können striktere Kontrollen zugelassen werden.
Diese Lösung ist nicht auf der Höhe der Zeit. Die Comprehensive Safeguards waren der internationale Standard für Kontrollen, als der NPT 1967/68 ausgehandelt wurde. Sie erwiesen sich später als unzureichend, da sie nur jene Atomanlagen betreffen, die ein Land der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO) gemeldet hat. So konnte etwa der Irak unter Saddam Hussein in nicht gemeldeten Anlagen ein Kernwaffenprogramm unentdeckt vorantreiben, obwohl die Kontrolleure der IAEO im Land waren.
Als Lehre daraus wurde das »Zusatzprotokoll« (ZP) der IAEO entwickelt. Seit 1997 verschafft es den Kontrolleuren mehr Informationen, größere Zugangsrechte und die Möglichkeit, überall Umweltproben zu nehmen. Das ZP ist international heute der Standard bei Safeguards. Die Verpflichtungen werden freiwillig übernommen; die allermeisten Staaten, die umfangreiche nukleare Aktivitäten betreiben, setzen das ZP um.
Dass der TPNW das ZP noch nicht einmal empfiehlt, bedeutet im Bereich Safeguards einen Rückschritt um Jahrzehnte. Dadurch wird die Mission der IAEO und speziell das ZP untergraben. Zwar scheinen die Befürworter des TPNW die IAEO nicht absichtlich schwächen zu wollen. Gleichwohl geben manche Vertreter von TPNW-Staaten inoffiziell zu, der Vertrag schade der IAEO faktisch – eine für die Reduzierung nuklearer Risiken kontraproduktive Entwicklung.
Der andere problematische Aspekt ist das ungeklärte Verhältnis des TPNW zum NPT. Einerseits bezeichnet die Präambel des TPNW den NPT als »Eckpfeiler« des nuklearen Abrüstungs- und Nichtverbreitungsregimes. Andererseits verlangt der TPNW seinen Parteien jedoch nicht ab, vertragstreue Mitgliedstaaten des NPT zu sein. Rechtlich stellt der Text des TPNW diesen sogar über den NPT: In Artikel 18 heißt es, der TPNW entbinde seine Parteien nicht von ihren Pflichten unter anderen Verträgen – allerdings nur, insofern diese Pflichten mit dem TPNW in Einklang stehen. Dieser Halbsatz etabliert eine Rangfolge, in der der NPT dem TPNW nachgeordnet ist.
Diese Hierarchie kann praktisch relevant werden, wenn die zwei Verträge miteinander in Konflikt geraten. Sollten zum Beispiel die Bemühungen erfolgreich sein, das ZP zum verpflichtenden Standard für die NPT-Mitglieder zu machen, bestünden unterschiedliche Anforderungen an die Parteien beider Verträge. Dann könnte die Hierarchie das Argument stützen, dass im Streitfall die höherrangige Rechtsnorm des TPNW maßgebend sei. Schlimmstenfalls könnte diese Rangfolge als Vorwand dienen, um aus dem unbequemeren NPT auszutreten und bloß dem TPNW anzugehören.
Es belastet den NPT, dass sein Wert im TPNW nicht klarer definiert wurde und solche Szenarien möglich sind. Dies ist besonders ärgerlich, da die meisten Parteien des TPNW den NPT schätzen und keinesfalls beschädigen möchten. Dennoch bringt eine Minderheit der TPNW-Verfechter sogar NPT-Austritte als Option ins Spiel und räumt in Hintergrundgesprächen ein, Schaden für den NPT in Kauf zu nehmen. In der Folge haben viele Länder Zweifel, ob den Absichten der TPNW-Staaten zu trauen sei.
Diese Schwachstellen des TPNW waren nicht sachlogisch zwingend. Das heißt umgekehrt: Die Parteien können eine Beeinträchtigung der IAEO oder des NPT durch den TPNW noch abwenden. Entscheidend ist ihr künftiges Handeln. Vertragsstaatentreffen könnten den Wert des ZP betonen oder festhalten, dass Verletzungen von NPT-Safeguards dem Geist des TPNW widersprächen. Im Gegensatz dazu können die folgenden Hürden nicht überwunden werden.
Kaum Durchsetzungschancen
Die Gesamtheit der vier Strategien, die die TPNW-Befürworter verfolgen – normative Anziehung, Peer Pressure, Kapitalabzug und zivilgesellschaftlicher Druck –, offenbart ihr Kernproblem: Die wirksamsten Ansätze, um eine Norm durchzusetzen, stehen ihnen nicht zur Verfügung. Oft wird die Umsetzung globaler Normen erzwungen, indem das Befolgen der Norm mit anderen Sachfragen verknüpft (Issue Linkage) oder indem angedroht wird, ebendiese Norm selbst nicht einzuhalten (Tit for Tat).
Diese zwei Zwangsstrategien können die TPNW-Unterstützer nicht einsetzen. Ihnen fehlen die ökonomischen und militärischen Machtmittel, um Sachfragen effektiv zu verbinden (siehe Grafik). Die 51 Parteien vereinen nur sehr geringe Anteile am globalen Bruttoinlandsprodukt (BIP), am Welthandel, den weltweiten Verteidigungsausgaben und Rüstungsexporten sowie der gegebenen Entwicklungshilfe. Weil sie so schwach sind, ist kaum ein Land auf die Zusammenarbeit mit ihnen in zentralen außenpolitischen Fragen angewiesen – am wenigsten die 39 Länder, gegen die sich der TPNW richtet. Letztere bringen den Löwenanteil dieser fünf Machtressourcen auf die Waage.
Auch die Tit-for-Tat-Strategie können die TPNW-Staaten nicht nutzen. Ihr Ziel ist, andere zur Ächtung von Kernwaffen zu bewegen. Wenn sie dazu die Verbote des TPNW selbst verletzten, würde ihr eigenes Anliegen leiden. Jede Drohung damit wäre hohl. Dies unterscheidet moralische Anliegen wie Abrüstung von anderen, etwa Zöllen.
Die übrig gebliebenen Strategien, die die Unterstützer des TPNW anwenden, werden der Ächtung von Kernwaffen nicht zum Durchbruch verhelfen. Denn der Erfolg der vier Strategien beruht auf Annahmen, die im Fall des TPNW fragwürdig sind.
Die Strategie der normativen Anziehung setzt darauf, dass viele Nichtkernwaffenstaaten das Festhalten der Atommächte an Kernwaffen nicht bloß als ungerecht, sondern als durchweg nachteilig werten. Diese Sicht ignoriert freilich, dass zahlreiche Staaten ohne eigene Atomarsenale aus der bestehenden Ungerechtigkeit große Vorteile ziehen: 30 Nichtkernwaffenstaaten genießen dank eines Bündnisvertrags den nuklearen Schutz der USA. Weitere Länder profitieren als informelle US-Verbündete indirekt vom amerikanischen Atomarsenal. Selbst Neutrale wie die Schweiz und Schweden betrachten dieses als Vorteil für sich.
Auch die zweite Annahme ist fraglich. Ihr zufolge würden Staaten das Ziel der Ächtung von Kernwaffen durch die Brille des Verbots anderer »inhumaner« Waffen wie Chemiewaffen oder Landminen sehen und damit als Teil eines unumkehrbaren Trends. Diese Waffen wurden in Kriegen regelmäßig eingesetzt. Kernwaffen hingegen sind die einzigen Waffen, die gar nicht zum Einsatz kommen sollen – was seit 1945 auch gelungen ist. Auf andere Waffen zu verzichten war zudem leichter, weil damit keine ganze Fähigkeit nahezu verlorenging. Das Verbot von Chemiewaffen wurde zum Beispiel dadurch begünstigt, dass andere Waffen ihren Platz einnahmen. Indes gibt es keine Waffe, die die Abschreckungswirkung von Kernwaffen hätte. Nuklearwaffen sind daher für viele Regierungen ein notwendiges Übel der Kriegsverhütung. Der Vergleich mit Landminen hinkt.
Die zweite Strategie der TPNW-Befürworter basiert auf ihrer Annahme, kein Staat sei immun gegen Peer Pressure. Ausschlaggebend ist aber, wer die Peer Group ist, mit der eine Regierung ihr Land vergleicht. Aus diesem Grund ist es bedeutsam, dass die bisherigen Parteien des TPNW sich grundlegend von jenen 39 Staaten unterscheiden, gegen die er sich richtet.
Die »Ziele« des TPNW sind Staaten des Westens, Russland und Asiens Atommächte. Bei den Parteien des TPNW handelt es sich überwiegend um Kleinstaaten, fast alle Mitglieder gehören dem Globalen Süden an: Afrika, der Karibik, Lateinamerika und Ozeanien. Nur vier von 48 europäischen Ländern sind im TPNW vertreten, nämlich Irland, Österreich, Malta und der Vatikan.
Darüber hinaus ist die sicherheitspolitische Realität der Mitgliedstaaten eine andere. Keines der 51 Länder ist einer Bedrohung durch Russland, China oder die USA ausgesetzt, bei deren Abschreckung Kernwaffen nützlich wären. Sie leben diesbezüglich »in einer anderen Welt« als Länder wie Estland, Polen, Japan oder Südkorea.
Deshalb ist nicht plausibel, warum sich etwa ein Industrie- und Nato-Staat wie die Niederlande oder Italien mit Jamaika oder Nauru identifizieren sollte, wenn es um seine Sicherheit geht. »Seinesgleichen« sind die Europäer und Staaten des Westens. Diese bilden die Referenzgruppe, für deren Haltung er besonders empfänglich ist. Auch die Schweiz und Schweden orientieren sich am Mainstream der Europäer und des Westens statt am Globalen Süden. Die Atommächte sehen sich ohnehin in ihrer eigenen Liga. Für sie sind nur andere Kernwaffenstaaten Peers – nicht die atomaren »Habenichtse«. Im Ergebnis ist beim TPNW zwar Peer Pressure am Werk; bei den Zielstaaten wirkt er aber gegen einen möglichen Beitritt.
Das Forcieren eines Kapitalabzugs als dritte Einflussstrategie hat schon erste Effekte erzielt. Bis Oktober 2019 haben sich 36 größtenteils europäische Finanzinstitute, darunter große Pensionsfonds, festgelegt, keine Anteile an Firmen zu halten, die nukleare Waffensysteme fertigen. Weitere 41 Institute haben ihre Verbindungen zu dieser Branche reduziert. Ein Kapitalabzug mit dem Ziel der Austrocknung, wie beim TPNW angestrebt, funktioniert jedoch nur unter folgenden Voraussetzungen: wenn alle Anteilseigner aussteigen und wenn keine alternativen Geldgeber einspringen.
Schon Ersteres ist noch lange nicht gegeben. Weltweit mindestens 324 Finanzinstitute investierten im September 2019 enorme Summen in Firmen, die nukleare Waffensysteme herstellen. Mit Blick auf die zweite Bedingung verdrängen die TPNW-Unterstützer, dass die Atommächte die Produktion der Waffensysteme notfalls verstaatlichen können. Die Logik des Austrocknens wird ins Leere laufen bei einer Waffe, die ihren Besitzern als Lebensversicherung gilt. Darin liegt der Unterschied zu den erfolgreichen Austrocknungskampagnen gegen Landminen und Streumunition. Stattfinden wird eher ein Wechsel der Geldgeber: weg von europäischen Banken, hin zu arabischen und asiatischen Investoren, die weniger Skrupel haben.
Zivilgesellschaftlicher Druck zugunsten des TPNW ist in diversen Ländern zu spüren. Unter anderem deswegen plädieren in einigen europäischen Staaten einzelne politische Parteien für einen Beitritt. Um Erfolg zu haben, müsste das Anliegen der Ächtung von Kernwaffen aber Massen mobilisieren und nationale Wahlen entscheiden. Zumindest dafür fehlen bisher die Anzeichen. Die zivilgesellschaftlichen Förderer des TPNW haben nuklearen Risiken Aufmerksamkeit verschafft, doch Massenproteste gibt es nicht. Das Gros der Bevölkerung schaut primär auf sozioökonomische Fragen. Selbst für die progressive Elite ist der TPNW im Vergleich zur Klimakrise ein Nischenthema.
In Parteiprogrammen taucht ein Beitritt zum TPNW zwar als Wunsch auf; bis daraus nationale Politik wird, ist es allerdings ein weiter Weg. In der Willensbildung vieler Staaten kollidiert das normative Anliegen des TPNW mit starken konkurrierenden Interessen. Sie zurückzustellen würde hohe außen- und sicherheitspolitische Kosten mit sich bringen. Die Wahrscheinlichkeit eines Triumphs des TPNW über diese »handfesten« Interessen ist gering, wie die Forschung über globale Normen bestätigt: Staaten unterstützen moralische Anliegen wie Abrüstung häufig nur, sofern ihnen dadurch keine materiellen Nachteile entstehen. Die Aussicht, dass sich die Ächtung von Atomwaffen nicht durchsetzen wird, verschiebt die Kosten-Nutzen-Bilanz weiter zulasten des TPNW.
Trotz der hohen Hürden ist es möglich, dass sich ein Zielstaat des TPNW dem Vertrag anschließt – etwa wenn die Regierung wechselt und eine progressive ins Amt kommt, die die verteidigungspolitischen Kosten des Beitritts völlig anders einschätzt. Solch ein Beitritt dürfte aber die Ausnahme bleiben. Denn eine letzte Auswirkung des TPNW widerspricht selbst jeder progressiven Agenda: das Risiko, nuklear bewaffnete Diktaturen gegenüber Demokratien global zu stärken.
Vorteile für nukleare Autokratien
Selbst viele Sympathisanten der nuklearen Abrüstung sehen beim TPNW das Hauptproblem darin, dass er demokratisch verfasste Zielstaaten de facto anders behandelt als autokratische Nuklearmächte. Weil der Systemwettbewerb zwischen diesen beiden Gruppen jedoch auf absehbare Zeit die zentrale internationale Bruchlinie darstellt, hat ihre Ungleichbehandlung durch den TPNW geopolitische Implikationen.
Die von den Fürsprechern des TPNW genutzten Strategien zur Einflussnahme sind ausgelegt für offene, demokratische Gesellschaften. Dort kann der zivilgesellschaftliche Druck seine Wirkung am besten entfalten. Auch das Argument, mit dem TPNW gegen »inhumane« Waffen vorzugehen, zielt primär auf westliche Länder, die sich dem Erbe der Aufklärung verpflichtet fühlen. Und ein Kapitalabzug setzt voraus, dass die Rüstungsfirmen Aktiengesellschaften sind.
In Autokratien bleiben diese Strategien der TPNW-Unterstützer wirkungslos. Zivilgesellschaftliche Betätigung ist, wenn überhaupt, nur in engen Grenzen erlaubt und hat keine Chance, Politik zu ändern. Auch für Appelle an den Humanismus der Aufklärung sind die Regierungen in China, Russland und Nordkorea unempfänglich. Zudem sind ihre Rüstungskonzerne dem Einfluss ausländischer Investoren entzogen.
Diese Vorteile für nukleare Autokratien sind schon heute sichtbar. Von den Hunderten zivilgesellschaftlichen Akteuren, die den TPNW befürworten – wie Stiftungen, Universitäten und Städten –, findet sich die große Mehrheit in Demokratien; aber nur jeweils zwei in Russland und China und kein einziger in Nordkorea. Aus den politischen Parteien dieser drei Länder sind keine atomwaffenkritischen Stimmen bekannt.
Offiziell bestreiten die Unterstützer des TPNW meist den ungleichen Effekt. Dabei verweisen sie auf Tweets der chinesischen Regierung, die das Inkrafttreten des TPNW implizit begrüßen und auf Kritik verzichten. Russland hat den Vertrag zuletzt ebenfalls nicht mehr attackiert. Dies aber als Positivwirkung des TPNW auf China und Russland zu werten ist Unsinn: Beide wollen auch in Zukunft nicht beitreten. Vielmehr scheinen Peking und Moskau begriffen zu haben, dass der TPNW Streit in der Nato wie in den US-Allianzen in Asien schüren und vorhandene Risse in der demokratischen Welt vertiefen könnte – was zum Vorteil aller revisionistischen Autokratien wäre.
Informell geben die TPNW-Verfechter zu, dass die Priorität ihrer praktischen Anstrengungen darauf liegt, Nato-Staaten zum Beitritt zu bewegen. Die Folgen dieser Fokussierung auf demokratische Staaten ignorieren sie indes. Aus Sicht von Aktivisten mag es rational sein, das »Brett zu bohren, wo es am dünnsten ist«, um schnell Erfolge für ihr Anliegen präsentieren zu können. Politische Entscheidungsträger in demokratischen Zielstaaten des TPNW können aber nicht in ähnlicher Weise den globalen Kontext ausblenden, ebenso wenig die ungleiche Wirkung des Vertrags auf Demokratien und nukleare Autokratien.
Deutschlands Interessen erklären!
Als die Bundesregierung 2017 begründete, warum sie gegen einen TPNW ist, betonte sie die Spannungen zum NPT, unzureichende Kontrollen und die geringe Aussicht auf Erfolg angesichts der Ablehnung durch die Atommächte. In einem Nebensatz wurde erwähnt, dass der Vertrag »zudem das sicherheitspolitische Umfeld nicht ausreichend berücksichtigt«. Für eine umfassende Bewertung ist jedoch eine solche Einordnung des TPNW in eine strategische Abwägung deutscher Interessen zentral.
Ein Erfolg des TPNW liegt im Interesse seiner Mitgliedstaaten aus dem Globalen Süden. Sie ziehen aus Kernwaffen keinerlei Vorteile. Deutschlands Interessen bildet der Vertrag indes nicht ab. Solange die Sicherheitsprobleme mit Russland anhalten, profitiert Deutschland unterm Strich vom Erhalt der erweiterten nuklearen Abschreckung. Sie bietet eine Art Lebensversicherung: Kein kernwaffenloser Empfänger einer nuklearen Schutzgarantie der USA ist je Opfer einer größeren militärischen Aggression geworden.
Jenseits von Deutschlands »nationaler« Sicherheit spielt nukleare Abschreckung eine entscheidende Rolle für die europäische Ordnung. Die amerikanische Bereitschaft, Europas Sicherheit in Friedenszeiten dauerhaft zu garantieren (und nicht erst im Krieg zurückzuerobern), gründet auf dem Atomarsenal der USA – und bestünde in einer nuklearwaffenfreien Welt nicht automatisch. Wollte man den Beitrag der US-Kernwaffen zur Nato durch konventionelle US-Beiträge ersetzen, würde das immense zusätzliche Kräfte erfordern und gigantische Kosten verursachen. Dies wäre den US-Wählern als Dauerzustand nicht zumutbar. Die bisherige Ordnung, in der die Europäer Sicherheit importieren und das Preisschild für die USA akzeptabel ist, basiert auf der kosteneffizienten nuklearen Abschreckung.
Auch das französische Konzept eines Europas, das sich selbst verteidigt, beruht auf dem Erhalt nuklearer Abschreckung. Paris (und London) glauben nicht, dass konventionelle Abschreckung die nukleare Variante adäquat ersetzen kann, das heißt mit gleichem Effekt zu annehmbaren Kosten.
Mit Blick auf die globale Ordnung ist unstrittig, dass die deutsche Außenpolitik eng verknüpft ist mit dem Erfolg der liberalen internationalen Ordnung. Diese hängt seit 1945 von der weltweiten Führungsrolle der USA (und anfangs Großbritanniens) ab. Die dafür nötige beispiellose Machtprojektion – das Garantieren von Sicherheit für mehrere Kontinente – war zu erträglichen Kosten aber nur mithilfe nuklearer Abschreckung möglich. Die liberale Ordnung stand immer auf einem nuklearen Fundament.
Bislang war nukleare Abschreckung also fester Teil der deutschen »Grand Strategy«. Sie ist das Rückgrat der deutschen Sicherheit, der europäischen sowie der liberalen internationalen Ordnung.
Das bedeutet nicht, dass Fortschritte bei der atomaren Abrüstung unmöglich wären. Abrüstung ist aber ein Mittel der Sicherheitspolitik; abzurüsten ist für einen Staat nur sinnvoll, wenn dies seine Sicherheit erhöht. Das schrittweise Modell bringt Deutschland mehr Sicherheit: Russland und die USA rüsten parallel ab. Die TPNW-Verfechter sind also in der Bringschuld, Strategien zu entwickeln, mit denen sie auf Russland und China Einfluss nehmen können. Misslingt dies, müssen sie begründen, warum eine Abrüstung allein des Westens im deutschen Interesse wäre.
Die Bundesregierung sollte dem TPNW bei der gegebenen Sicherheitslage nicht nur weiterhin fernbleiben und wie bisher für den Ansatz der schrittweisen Abrüstung eintreten. Sie sollte ihre Ablehnung überdies selbstbewusster erklären: Wie jede Politik müssen auch Abrüstungskonzepte vom Ende her gedacht werden. Dabei offenbaren sich die Nachteile des TPNW. Die Vorteile nuklearer Abschreckung gehören hierzulande zwar zum »Unaussprechlichen«, wie die Verteidigungsministerin kürzlich kritisiert hat. Eine deutsche Debatte, die neben Risiken auch den Nutzen nuklearer Abschreckung nüchtern erläutert, wäre aber ein Gewinn.
Dr. Jonas Schneider ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik.
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doi: 10.18449/2021A03