Seit Ende Februar liegen die Verhandlungsmandate der Europäischen Union (EU) und des Vereinigten Königreichs (VK) für das Abkommen vor, das die Handelsbeziehungen zwischen beiden ab dem 1. Januar 2021 regeln soll. Bedingung für dieses Handelsabkommen ist für die EU ein Fischereiabkommen, das sogar schon bis Juli getroffen werden soll, selbst wenn nun wegen der Corona-Krise der genaue Zeitplan gefährdet ist. Die Verhandlungsmandate weisen erhebliche Unterschiede auf: Die EU will das bislang im gemeinsamen Binnenmarkt Erreichte an gemeinschaftlicher, starker Regulierung auch für die Zukunft sichern. Dies spiegelt sich in dem jüngst veröffentlichten europäischen Verhandlungsvorschlag. Ziel des VK hingegen ist es, zukünftig nicht mehr an EU-Handelsregeln gebunden zu sein. Diese Differenzen sind substanziell – ein Abschluss der Verhandlungen wird große Kompromisse brauchen. Intelligente Vertragskonstruktionen könnten vorsehen, konkrete Probleme nach Vertragsschluss zu lösen.
Außenhandelspolitik und Binnenmarktfragen sind vergemeinschaftete Bereiche der Europäischen Union. Damit sind sie die Kernthemen der britischen Sehnsucht nach Souveränität. Im Gegensatz zu anderen Politikfeldern, etwa Außen- und Sicherheitspolitik, sind gerade hier besonders viele legislative Bestimmungen und Umsetzungsverfahren vom Brexit betroffen. Diese sind schwer zu verhandeln und benötigen viel Zeit. Je mehr Abweichung vom Status quo das Vereinigte Königreich anstrebt, desto schwieriger wird es sein, die Verhandlungsfrist bis Ende des Jahres einzuhalten.
Die gemeinsame Politische Erklärung der EU und des VK vom Oktober 2019 umreißt die Grundpfeiler der künftigen Beziehungen; demnach visieren beide Parteien ein umfassendes Freihandelsabkommen (FHA) an sowie eine breite Zusammenarbeit in verschiedenen Sektoren. Diese Zusammenarbeit soll prinzipiell auch Regularien einschließen und neben Gütern ebenso Dienstleistungen. Die nun vorliegenden Verhandlungsmandate (bzw. auf EU-Seite das erste Angebot) kollidieren in einigen Aspekten.
Unterschiedliche Ausgangspunkte für die Verhandlungen
Das VK möchte laut dem Verhandlungsmandat ein FHA »ähnlich demjenigen mit Kanada« erreichen, als Rückfallposition so eines wie mit Australien. Letzteres ist ein Euphemismus für einen harten Brexit ohne Handelsvertrag, da für den Handel der EU mit Australien bisher noch das Recht der Welthandelsorganisation (WTO) gilt. Für mehrere Verhandlungsbereiche orientiert sich das britische Mandat an bestehenden Handelsabkommen und bilateralen Vereinbarungen der EU.
Das EU-Mandat beschreibt die Verhandlungsziele der Union und die aus ihrer Sicht notwendig zu bearbeitenden Themen. Das darauf basierende erste Verhandlungsangebot beinhaltet viele ihrer üblichen Forderungen, darüber hinaus einige neue Elemente.
Die EU wünscht sich eine möglichst enge Handelspartnerschaft mit dem VK. Allerdings gelten Grundprinzipien, die sie gewahrt sehen möchte. So will sie vollständige Zoll- und Quotenfreiheit nur als Gegenleistung für die Untrennbarkeit der vier Grundfreiheiten des Binnenmarktes gewähren. Komplett freien Marktzugang, wie das VK ihn sich vorstellt, bietet die EU bislang nicht einmal ihren Partnern im Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) an, sondern allein Entwicklungsländern (vgl. Tabelle, Seite 4).
Von zentraler Bedeutung ist ferner die strenge Regulierungstradition zur Risikovorsorge. Die EU will ihr international umstrittenes, in der europäischen Gesellschaft aber geschätztes Vorsorgeprinzip in neuen Abkommen verankern, was indes auch im Umfassenden Wirtschafts- und Handelsabkommen (CETA) mit Kanada nur begrenzt erfolgt. Ob London dieses Prinzip ebenfalls weiter beibehalten will, ist unklar; explizit genannt wird es im Mandat nicht.
Die EU hat in die Verhandlungen mit dem VK das Konzept des »level playing field« (LPF) eingeführt, das auch in Zukunft faire Wettbewerbschancen zwischen den beiden Vertragsparteien garantieren soll. Dieses Ziel und diese Vokabel sind in Verhandlungen etwas Neues und unterstreichen den besonderen Stellenwert des VK als wirtschaftlicher Partner der EU. Dabei geht es nicht nur um Produktstandards, sondern auch um Subventionen oder Steuerpolitik.
Neben den unterschiedlichen Ausgangspunkten sind bestimmte Sektoren bzw. Themen für die weiteren Verhandlungen problematisch; sie werden im Folgenden erläutert. Die Tabelle auf Seite 4 zeigt exemplarisch Konfliktbereiche und bestehende Lösungsmodelle der EU.
Einigung im Fischereisektor als Bedingung für Handelsgespräche
Der Abschluss eines Fischereiabkommens bis Juli 2020 ist für die EU Bedingung für weitere Verhandlungen. Zu klären sind hierbei die künftige Verteilung der Fischereirechte sowie der Zugang von Booten europäischer Fischer zu britischen Gewässern.
Die Gemeinsame Fischereipolitik (GFP) änderte in den 1980er Jahren nationale Zugangs- und Fischfangrechte. Zugangsrechte regeln den Zutritt ausländischer Boote zu nationalen Küstengewässern und werden in der EU wechselseitig und mehrjährig erteilt in Form von Lizenzen. Fischbestände werden ohnehin nur europäisch und nicht national verstanden. Fanghöchstmengen werden nach wissenschaftlicher Bewertung im Rahmen mehrjähriger Programme festgelegt, die aber flexibel als jährliche Fangquoten definiert werden. Diese werden nach dem Prinzip der »relativen Stabilität« auf die EU-Mitglieder verteilt, was auch bei sinkenden Gesamtfängen Konstanz gewährleistet.
Daran will die EU festhalten, wegen großer Interessenunterschiede zwischen ihren Mitgliedstaaten und wegen der politischen Sensibilität des Themas. Das Vereinigte Königreich bringt nun eine neue Idee ins Spiel: die physische Aufteilung von Fangmengen nach dem Lebensort der Fischbestände (»zonal attachment«). Dies würde dem VK mehr Fänge gestatten, birgt jedoch das Risiko der Überfischung. Zudem will das VK die Zugangshoheit über seine Küstengewässer zurückgewinnen. Das widerspricht dem Grundprinzip des offenen »wechselseitigen Zugangs«, wie er innerhalb der EU besteht. Außerdem setzt die Union auf stabile mehrjährige Planung im Gegensatz zur britischen Forderung nach jährlicher Festlegung. Zugangsrechte und Fangquoten sind eng miteinander verbunden. Zum Beispiel kann die Zahl der Fischer hoch sein, die Zugangsrechte erhalten, dennoch können geringe nationale Fangquoten die Gesamtmenge begrenzen; solche Fragen sind daher gemeinsam strategisch zu klären.
Der Brexit betrifft sowohl Zugangs- als auch Fangrechte auf drei örtlichen Ebenen, die alle neu verhandelt werden müssen: (1) den Zugang europäischer Fischer zu britischen Küstengewässern, in denen heute mehr nichtbritische als britische Fischer auf Fang gehen, einschließlich der Zuteilung von Fangquoten; (2) den Zugang britischer Fischer zu europäischen Gewässern, wo sie mit 110 000 t jährlich 13 Prozent ihrer Fänge tätigen, und ihre Fangquoten; (3) den Zugang britischer Flotten zu internationalen Gewässern und Fischbeständen, für den die EU als Vertragspartner in Regionalen Fischereiabkommen Rechte erhält – etwa für Thunfischfänge –, die sie bislang anteilig dem VK übertrug. Beim Streit um die Fischerei geht es also nicht nur, wie in der britischen Berichterstattung teilweise dargestellt, um den Schutz eigener Küstengewässer vor EU-Fischern, sondern gleichermaßen um Küsten europäischer und internationaler Nachbarn, an denen das VK Interesse hat.
Freihandel ohne Grenzkontrollen in Zukunft nicht mehr möglich
Das Vereinigte Königreich will den EU-Binnenmarkt verlassen und auch der Zollunion nicht mehr angehören. Dies verlangt Grenzkontrollen zwischen den beiden Handelspartnern ebenso wie Regeln, um Umweg-Einfuhren in die jeweiligen Zollgebiete zu unterbinden (die sogenannten Ursprungsregeln). Die Folge sind hohe Kosten für die staatliche Administration und die Privatwirtschaft. Zollkontrollen müssen neu aufgebaut und dann dauerhaft aufrechterhalten werden. Nach Angaben des britischen National Institute of Economic and Social Research (2018) wird wegen entstehender Kosten bzw. verringerter Handelsströme das britische Bruttosozialprodukt (BSP) nach dem Brexit pro Kopf um 3 Prozent (oder 1 000 Pfund/Jahr) niedriger liegen als zuvor. Selbst wenn das VK in der Zollunion verbliebe, würde die Verringerung des BSP/Kopf noch 2 Prozent betragen. Möglicherweise werden die zu erwartenden wirtschaftlichen Folgen der Corona-Krise sogar stärker zu Buche schlagen als der Brexit, so dass sich der »Brexit-Effekt« niemals wirklich abschätzen lässt. Dass beides zusammenkommt, stellt das VK vor große Schwierigkeiten.
Nordirland-Regelung erschwert Handelsverhandlungen
Zwar wird Großbritannien (GB) ab dem 1. Januar 2021 nicht mehr Teil des EU-Binnenmarktes sein – Nordirland hingegen schon. Sämtliche Grenzverfahren werden an den Zugangspunkten zwischen Großbritannien und Nordirland abgewickelt.
Diese Regelung zu Irland und Nordirland ist Bestandteil des Austrittsvertrags, um den durch das Karfreitagsabkommen 1998 hergestellten Frieden in der Region nicht zu gefährden, der nur möglich wurde, weil die physische Grenze abgeschafft wurde. Diese Situation soll erhalten bleiben. Die neue Zollgrenze zwischen der EU und GB wird deshalb zwischen Nordirland und Großbritannien verlaufen, nicht zwischen Irland und Nordirland – was der politischen Grenze entspräche. Das gilt unabhängig vom zu schließenden Freihandelsabkommen. Das nordirische Parlament kann nach vier Jahren über diese Regelung entscheiden.
Zugleich bildet Nordirland mit Großbritannien ein gemeinsames Zollgebiet und kann somit auch Teil von dessen künftiger Handelspolitik sein. GB kann britische Zölle auf Waren aus Drittländern anwenden, solange nicht die Gefahr besteht, dass sie über Nordirland in den EU-Binnenmarkt gelangen. Auf Waren mit dem Zielort EU werden die britischen Behörden die EU-Zölle anwenden. Nordirland wird also ab 2021 zwei unterschiedlichen Handelsregimen angehören. Doppelzugehörigkeiten zu unterschiedlichen Handelsregimen, einschließlich verschiedener Zollsätze und Standards, sind aus Afrika bekannt. Normalerweise ist eine solche Situation handhabbar, da an den Grenzen kontrolliert wird, ob die jeweiligen
EU-Modelle zu Zollfreiheit und Regulierungskoordinierung
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Bestimmungen des Endmarktes eingehalten werden. Im Fall des Brexits liegt das Problem jedoch darin, dass zwischen Nordirland und Irland auf keinen Fall eine neue Grenze entstehen soll.
Für den Abschluss des FHA zwischen Brüssel und London bedeutet das eine komplizierte Ausgangslage. Denn es wird schwer zu überprüfen sein, ob und welche Waren aus Nordirland in den EU-Binnenmarkt gelangen. Zurzeit ist noch unklar, wie das kontrolliert werden kann. Exporte GBs nach Nordirland müssen nicht kontrolliert oder begrenzt werden, wenn sie die Kontrollen auf ihrem Weg von Großbritannien nach Nordirland durchlaufen. Sind die Waren erst einmal in Nordirland, so befinden sie sich laut Austrittsabkommen bereits (wie bisher) im europäischen Binnenmarkt, innerhalb dessen die EU keine Kontrollen vornimmt. Das VK hat dagegen die Möglichkeit, alles zu kontrollieren, was von Nordirland aus die Grenze zu GB überquert. Die Sorge vor Umweg-Einfuhren und dass Standards unterlaufen werden, hat darum allein die EU. Praktisch kann die Grenzkontrolle so aussehen: Anhand von Erfahrungswerten wird geprüft, ob die eingeführten Mengen in etwa dem entsprechen, was der nordirische Markt selbst verbrauchen kann. Das ist alles andere als eine handfeste Regelung. Als weitere Kontrollmöglichkeit nennt das EU-Verhandlungsmandat das Konzept Zugelassener Wirtschaftsbeteiligter, die gegenseitig anerkannt werden müssten. Dies wäre noch zu konkretisieren.
Regulatorische Unabhängigkeit des VK nur in begrenztem Umfang
Gerade die Maßnahmen jenseits von Zöllen (Nichttarifäre Maßnahmen, NTMs) haben weltweit erheblich an Bedeutung gewonnen – ihre Größenordnung wird auf 1,6 Prozent des globalen Bruttoinlandsprodukts (BIP) geschätzt. Zwischen Staaten der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) liegen die Zölle aktuell unter 3 Prozent. Handelsabkommen zielen deshalb heute auf die Angleichung oder gegenseitige Anerkennung von Standards und Regulierung. Allerdings ist dies schwieriger zu verhandeln als Zölle auf Waren: NTMs umfassen verschiedenartige Instrumente von Verfahrensvorgaben über Kennzeichnungsregeln bis zu Grenzwerten. Sie rühren unmittelbar an (unterschiedliche) gesellschaftliche Präferenzen sowie die Verwaltungslogik in einzelnen Ländern und sind damit politisch sensibel.
Selbst wenn das Vereinigte Königreich ab 2021 keine EU-Standards mehr übernimmt, wird es aufgrund von WTO-Regeln nur in begrenztem Umfang politische Souveränität zurückgewinnen können. WTO-Recht regelt detailliert vielfältige gesundheitsbezogene Standards wie Rückstandswerte bei Nahrungsmitteln oder Hygienevorgaben für deren Erzeugung. Anderen Standards liegen generelle internationale Vorgaben zur Einhaltung und deren Zertifizierung zugrunde; hier besteht auch künftig wenig nationaler Spielraum. Dies betrifft vor allem Standards, die sich nicht unmittelbar und nachweislich in Produkten niederschlagen und daher nicht im Produkt selbst zu kontrollieren sind, wenn es die Grenze passiert (vgl. SWP-Aktuell 63/2014). Darüber hinaus können bilaterale Vereinbarungen den Umgang mit Produktstandards für einzelne Sektoren bestimmen (vgl. Tabelle, Seite 4). Beispiele für die wechselseitige Anerkennung von Prüfverfahren sind bei Autos das Abkommen zwischen der EU und Japan, bei Medizinprodukten das CETA. Einseitig erkennt die EU bei organischen Produkten verschiedene Drittstaatenverfahren an.
Wie zukünftige Veränderungen von Standards gehandhabt werden können, ist naturgemäß in Abkommen schwer zu regeln. Zwar weisen Kapitel zur Regulatorischen Kooperation im CETA und auch in den abgebrochenen Verhandlungen zur Transatlantischen Handels- und Investitionspartnerschaft (TTIP) in eine ähnliche Richtung. Sie betreffen aber nur Austausch und Koordinierung. Die Befürchtung, eigene Souveränität über Regulierungen zu verlieren, ist seit diesen in der Öffentlichkeit emotional begleiteten Verhandlungen gleichermaßen in der EU bekannt. Da die EU ihre Handelsbeziehungen mit dem VK enger gestalten möchte als diejenigen mit Nordamerika, strebt sie mit dem LFP vor dem Hintergrund dieser Erfahrung Mechanismen an, wie sie in Zukunft mit divergierenden Standards umgehen kann.
Jenseits der Frage von Harmonisierung oder Anerkennung von Standards zwischen Brüssel und London bestehen indes Marktzwänge. Für den großen EU-Markt mit über 500 Millionen Einwohnern gelten im internationalen Vergleich strenge Standards. Ausländische Unternehmen, die diesen Markt bedienen wollen, richten sich häufig mit der gesamten Produktion nach ihm, lohnt es doch für sie nicht, für kleinere Märkte mit eventuell geringeren Standards eigene Produktionslinien aufrechtzuerhalten. Diese faktische Dominanz der EU für internationale Standards kann aber künftig an Bedeutung verlieren, wenn Asien und langfristig auch Afrika weiter an Gewicht gewinnen. Mittelfristig wird sich das VK jedoch an EU-Standards orientieren müssen.
Wechselwirkungen mit Handelsverhandlungen mit Drittländern
Das VK will in Zukunft unabhängig von der EU eigene Freihandelsabkommen abschließen. Dabei sind grundsätzlich zwei Fälle zu unterscheiden: Erstens ist das VK Mitglied in 42 FHAs der EU, für die es Folgeverträge aushandeln muss. Das ist in etwa der Hälfte der Fälle – mit meist kleinen Partnern – bereits geschehen. Diese Folgeabkommen sind relativ leicht zu schließen, da die wesentlichen Zollbestimmungen aus den EU-FHAs übernommen werden können. Freilich wird es für das VK zumeist unmöglich sein, besseren Marktzugang als die EU unter ihren bestehenden FHAs zu erreichen, denn viele bestehende EU-Abkommen (z. B. mit Kanada, Japan, Vietnam) enthalten die sogenannte Meistbegünstigungsklausel. Sie besagt, dass die jeweiligen Partnerländer alle handelspolitischen Zugeständnisse für Waren und Dienstleistungen, die sie anderen Industrieländern einräumen (bspw. in Zukunft dem VK), auch der EU gewähren müssen. Dies könnte gerade für den Finanzsektor schwierig sein, in dem Letztere weniger offen ist und von dem sich das VK in Drittlandsabkommen große Vorteile erhofft. Im Jahr 2018 belief sich der britische Handel mit Waren und Dienstleistungen auf geschätzte 1,4 Billiarden Pfund, 11 Prozent davon aus dem Handel mit Ländern, mit denen die EU Abkommen getroffen hat.
Das in vielen EU-Abkommen genutzte Instrument der Zollkontingente bzw. Zollquoten für Agrarprodukte schafft neue Probleme in den Verhandlungen mit Partnern in der WTO sowie in künftigen bilateralen Handelsabkommen. Zollkontingente bzw. ‑quoten begrenzen Zollreduktion oder ‑freiheit auf festgelegte Importmengen. Mit dem Brexit tritt auch ein großer Absatzmarkt für Agrarprodukte aus der EU aus, der bislang einen bedeutenden Anteil dieser Kontingente aufgenommen hat. Nun muss entschieden werden, was mit ihnen geschieht. Für die Anpassung der insgesamt 142 Quoten über 400 Zolllinien mit einem Handelswert von 28 Milliarden Euro (2018) in der WTO liegt den WTO-Partnern ein gemeinsamer Vorschlag von EU und VK vor: Danach soll die historische britische Absatzmenge jeweils als eigene VK-Quote definiert und aus der EU-Menge herausgerechnet werden. Viele Staaten wie Australien, Neuseeland und die USA aber monieren, diese Berechnung vernachlässige, dass durch die Abtrennung des VK vom EU-Markt der Absatz nach Europa sinke und die Kosten für parallele Ausfuhrlizenzen stiegen. Sie beharren auf höheren britischen Quoten, was britische Farmer ablehnen, weil diese sie verstärktem Wettbewerb aussetzen würden. Bilaterale Quoten der EU dagegen sollen in EU-»Altverträgen« konstant bleiben; das VK müsste individuell neu verhandeln.
Zweitens kann das Vereinigte Königreich nach dem Brexit ganz neue Abkommen schließen, beispielsweise mit Indien oder den USA. Etwa 40 Prozent des britischen Handels finden mit Ländern statt, die mit der EU kein FHA geschlossen haben, darunter die USA, wichtigster Handelspartner des VK. Das VK verspricht sich von diesen Abkommen große Vorteile; es gibt sich freihändlerisch und geht davon aus, Handelspartnern attraktive Verhandlungsangebote machen zu können. Guten Zugang erhofft es sich zu Ländern des Commonwealth und den USA aufgrund enger historischer Beziehungen. Allerdings ist die Abhängigkeit der Commonwealth-Partner vom und ihr Interesse am britischen Markt mit der wachsenden Bedeutung der Schwellenländer und den Verschiebungen im Welthandel erheblich gesunken. Erste Gespräche mit Indien unter Theresa May (2016) verliefen eher enttäuschend. Desgleichen ist kaum vorstellbar, dass die US-Administration unter Donald Trump dem VK in Handelsfragen weit entgegenkommen würde. Schließlich würden Probleme, mit denen die EU in bisherigen Verhandlungen konfrontiert war, für das VK nicht automatisch verschwinden, etwa wenn die USA für gentechnisch veränderte Organismen wie Mais Zugang zum britischen Markt fordern.
Pragmatische Ansätze nötig für einen Abschluss bis Ende 2020
Normalerweise liegt die Verhandlungsdauer für Handelsabkommen bei mehreren Jahren, im Fall CETA beispielsweise bei sieben. Sofern nicht bis 30. Juni 2020 ein Antrag auf Verlängerung der Übergangszeit gestellt wird, was das VK gesetzlich ausgeschlossen hat, ist die Frist für den Abschluss der Handelsverhandlungen bis Ende 2020 extrem knapp – und erst recht für ein Fischereiabkommen bis Juli 2020. Ohnehin könnte dieser Zeitplan durch die Corona-Krise ins Wanken geraten.
Heute bestehen 42 EU-Abkommen (inklusive bilateraler und regionaler Wirtschaftspartnerschaftsabkommen, WPAs), die historisch gesehen thematisch immer umfassender wurden. So beinhalten die neueren, sogenannten vertieften und umfassenden Abkommen den Handel mit Waren und Dienstleistungen ebenso wie Regelungsthemen, die interne Politiken betreffen, wie etwa den Schutz geistiger Eigentumsrechte oder Wettbewerbspolitik. Die konkrete Ausgestaltung kann jedoch sehr unterschiedlich aussehen. Zum Beispiel werden gegenüber einigen Partnern Sektoren ausgenommen, mit anderen nur die Koordinierung von Regulierungen für bestimmte Sektoren vereinbart. Diese Abkommen enthalten Module, an denen sich die Bestimmungen des künftigen VK-EU-FHA orientieren können.
Pragmatische Ansätze können helfen, die Verhandlungsagenda bis Ende 2020 übersichtlicher zu gestalten und Kompromisse zu erzielen. Manche davon klingen im EU-Verhandlungsangebot vom März an:
Alert- und Governance-Mechanismus für Regularien. Detailverhandlungen über Regeln und Standards könnten zeitlich verschoben und nur in dem konkreten Fall eröffnet werden, dass sich Regelungen in der EU und dem VK tatsächlich voneinander entfernen. Um diese Änderungen feststellen zu können, ist ihre verlässliche Bekanntgabe (Notifizierung) nötig, wie es das Verhandlungsangebot zum LPF etwa im Kapitel 2.2 für Staatshilfen vorsieht. Tritt der Fall ein, müsste eine einzurichtende neutrale Instanz dies feststellen; darüber hinaus muss sie auch Regelverletzungen ahnden können. In der Folge könnten sich beide Seiten entweder auf eine Harmonisierung einigen oder Grenzkontrollen und Einfuhrregelungen für die entsprechenden Produkte verhandeln. Die Regelung vieler Standards könnte dadurch in die Umsetzungsphase verschoben werden.
(Befristeter) Fokus auf einzelne Sektoren. Neue Einfuhrzölle könnten auf besonders sensible Sektoren begrenzt bleiben, etwa wie für Fisch im EWR. Damit reduziert sich der Verhandlungsumfang. Bei Regulierungen könnten im Negativansatz zunächst solche Sektoren von genereller Koordinierung ausgeschlossen werden, die politisch sensibel sind und Symbolcharakter haben, zum Beispiel Nahrungsmittel – auf diese Weise würde Regulierungshoheit demonstriert. Bei Themen wie Umwelt- und Sozialstandards hält das Verhandlungsangebot der EU an dem starren Prinzip fest, nicht hinter bereits Erreichtes zurückzufallen (»non regression«). Als Kompromiss wäre denkbar, in bestimmten Bereichen Standards wechselseitig anzuerkennen, nämlich in solchen, in denen eine Einigung leichter erscheint, oder in solchen, die sehr dynamisch und in denen baldige Divergenzen wahrscheinlich sind.
Marktzugang für Fisch an Fangrechte binden. Die Fischerei spielt vor allem für das VK eine gewichtige Rolle und besitzt hohe Symbolkraft, trotz ihrer kleinen gesamtwirtschaftlichen Bedeutung: Sie macht 1 Prozent des britischen BIP aus und beschäftigt 12 000 Fischer und 14 000 Verarbeiter, hauptsächlich in Schottland. Aber auch in einigen Regionen der EU ist sie durchaus relevant: So ist etwa in Saßnitz auf Rügen die Fischverarbeitung ein großer Arbeitgeber und nahezu vollständig von deutschen Heringsfängen vor der britischen Küste abhängig. Das VK hat mit seinen sehr ertragreichen Fischbeständen ein Verhandlungspfund in der Hand. Die EU sollte ihre Dominanz als Absatzmarkt ins Spiel bringen, denn immerhin sind 70 Prozent aller britischen Fischexporte für den EU-Markt bestimmt. Kommt kein Abkommen zustande, kann ein relativ hoher WTO-Zoll für Fische von bis zu 26 Prozent erhoben werden, was den Absatz einschränken kann. Die EU sollte daher Zollfreiheit für britische Fischprodukte an die Bedingung knüpfen, weiterhin Fangrechte in britischen Gewässern zu erhalten. Ob diese Rechte dem Status quo entsprechen werden wie von der EU gewünscht, ist allerdings fraglich. Zudem sollte die Union deutlicher als bisher hervorheben, dass das VK seine Fangrechte an und Zugangsrechte zu europäischen und internationalen Küsten verlieren könnte bzw. sie künftig alleine aushandeln müsste. Eine solche Regelung kommt insbesondere einer Region zugute, die zwar mehrheitlich gegen den Brexit votierte, aber gleichzeitig die meisten brexitfreudigen Fischer im VK beheimatet und erwartet, durch mehr internationale Fänge und gesicherten Marktzugang zur EU gefördert zu werden: Schottland. Die britischen Verarbeiter betonen selbst, wie wichtig es sei, auch in Zukunft zollfreien Marktzugang zu haben.
Der vorgesehene Verhandlungszeitraum ist zwar extrem eng, wenn er trotz der Corona-Krise beibehalten würde, doch ist die Ausgangssituation im Vergleich zu vorherigen Verhandlungen mit Drittstaaten günstig. Sonst wird über den Abbau von Hunderten von Zolllinien verhandelt und wie unterschiedliche Regeln harmonisiert oder gegenseitig anerkannt werden können. Zwischen London und Brüssel geht es nach 48 Jahren Mitgliedschaft des VK in der EU bzw. ihren Vorläufern darum, ob neue Zölle aufgebaut werden und gegebenenfalls welche und inwiefern eine bislang einheitliche Regulierung zukünftig voneinander abweichen darf. Damit ist der Verhandlungsbedarf geringer als in anderen Fällen. Konkret: Je weiter das neue Abkommen von der gegenwärtigen Situation – freier Marktzugang bei gleicher Regulierung – abweichen soll, desto komplizierter die Verhandlungen und desto länger ihre Dauer.
Fast die Hälfte (49 Prozent) des britischen Außenhandels erfolgt mit den Partnern in der EU; das VK hat also ein vitales Interesse an offenen Handelsbeziehungen. Umgekehrt beträgt der Anteil des VK am EU-Außenhandel nur 13 Prozent. Die Verhandlungsmacht zwischen beiden Parteien ist damit sehr ungleich verteilt. Dennoch sollte sich die Union kompromissbereit zeigen: Auch sie hat ein Interesse an nachhaltiger Entwicklung und Stabilität in den Partnerländern, vor allem in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft. Und es wäre zu wünschen, dass es gelingt, für das Vereinigte Königreich ein wertvoller Partner zu bleiben – nicht nur angesichts der Tatsache, dass künftige britische Generationen wieder an engeren Beziehungen zur EU interessiert sein könnten.
Dr. agr. Bettina Rudloff ist Wissenschaftlerin in der Forschungsgruppe EU / Europa.
Dr. Evita Schmieg ist Wissenschaftlerin in der Forschungsgruppe EU / Europa.
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doi: 10.18449/2020A24