Tunesien hat sich trotz dorniger Rahmenbedingungen seit 2011 demokratisiert. Dabei sind entscheidende Strukturreformen, die für einen effektiven Staat, wirtschaftlichen Aufschwung und eine widerstandsfähige Demokratie notwendig wären, bislang ausgeblieben. Die Wahlen 2019 ließen den Wunsch der Bevölkerung nach einem neuen Reformanlauf erkennen. Wie handlungsfähig die seit Ende Februar 2020 amtierende neue Regierung sein wird, ist offen. Sie besteht aus Parteien mit teils fundamental entgegengesetzter Ausrichtung. Für Tunesiens externe Partner bleibt damit ein Dilemma: Sie möchten Reformen schneller vorantreiben, doch haben sich ihre Versuche, Tunesien zum Jagen zu tragen, als wenig zielführend erwiesen. Ein Weg, um die tunesische Eigeninitiative zu stärken, sind gezieltere Anreize für Reformen sowie klarere Konditionen für Finanzhilfen. Deutschland geht mit den Reformpartnerschaften bereits in diese Richtung und könnte seine EU-Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 2020 nutzen, um externe Geber auf eine gemeinsame Linie zu verpflichten.
Durch den Tod von Staatspräsident Béji Caïd Essebsi im Juli und die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Herbst 2019 sind die Karten in Tunesien neu gemischt worden. Mit mehr als 70% der abgegebenen Stimmen wurde der als integer geltende, aber politisch unerfahrene Verfassungsrechtler Kaïs Saïed zum neuen Präsidenten gewählt. Bis auf Ennahdha, die stärkste Partei bleibt, sind die größeren Parteien nahezu verschwunden. Dafür haben Anti-Establishment-Parteien mit teils populistischer Rhetorik von links bis rechts gut abgeschnitten. Letztlich spiegelte das Wahlergebnis neun Jahre nach dem Ende der Diktatur den Wunsch vieler Tunesier und Tuneserinnen nach einem neuen Reformanlauf – diesmal mit stärker sozialem und wirtschaftlichem Fokus. Nach den Wahlen zeigten sich die Menschen ausnehmend optimistisch. Bei Umfragen im Oktober 2019 waren 78% zuversichtlich, dass die nächsten fünf Jahre besser sein würden als die vergangenen; nur 6% befürchteten das Gegenteil.
Die zähe Regierungsbildung dämpfte die hohen Erwartungen. Das Parlament lehnte Anfang 2020 den Kabinettsvorschlag eines von der Ennahdha portierten Premierministers ab. Im zweiten Anlauf gelang es dem nun vom Präsidenten persönlich ausgewählten Premierminister Elyes Fakhfakh, eine Regierung zu bilden. Fakhfakh hatte 2011–2014 bereits Ministerposten inne. Als Kandidat der winzigen sozialdemokratischen Ettakatol erhielt er bei den Präsidentschaftswahlen 2019 nur 0,34% der Stimmen.
Die neue Regierung setzt sich jeweils zur Hälfte aus parteilosen Technokraten und aus Politikern sehr unterschiedlicher Parteien zusammen: der moderat islamistischen und eher wirtschaftsliberalen Ennahdha, der säkularen und liberalen Tahya Tounes (Partei des ehemaligen Premiers Youssef Chahed), der sozialdemokratischen Attayar und der linken, panarabischen Echaâb.
Auch die Opposition ist ideologisch äußerst divers. Größte Oppositionspartei ist die säkular-liberale Qalb Tounes. Weitere relevante Oppositionskräfte sind die konservative Al‑Karama und die anti-islamistische Parti Destourien Libre. Letztere will an Politiken der vergangenen autoritären Herrschaft anknüpfen, die aus ihrer Sicht positiv waren.
Notwendige Reformen – schwierige Voraussetzungen
Die Regierung Fakhfakh steht unter hohem Handlungsdruck. Denn erstens bleibt der Zustand des Staatshaushalts 2020 äußerst angespannt. Allein der Schuldendienst frisst rund ein Fünftel des Budgets, und Einbrüche von Tourismuseinnahmen aufgrund des Coronavirus sind wahrscheinlich. Um Zahlungsunfähigkeit zu vermeiden, muss die Regierung zügig mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) über Kredite von über 1,2 Milliarden Dollar verhandeln, die wegen ungenügender Reformanstrengungen zurückgehalten werden.
Zweitens: Um die anhaltende Wirtschaftskrise zu bewältigen und um nicht noch mehr Schulden anzuhäufen, müssen die tunesische Wirtschaft dynamisiert, ihre Wettbewerbsfähigkeit gestärkt, die Integration in die Weltwirtschaft forciert und neue Arbeitsplätze geschaffen werden. Dies erfordert neben grundlegenden Reformen des Steuer-, Finanz- und Kreditwesens auch eine effektivere Verwaltung, schnellere Bewilligungsprozesse und auf die Bedürfnisse des Arbeitsmarkts ausgerichtete Bildungsreformen.
Drittens muss die Regierung auf hohe Erwartungen der Bevölkerung reagieren: Die Tunesier und Tunesierinnen, dies zeigen Umfragen 2018 und 2019, wollen in erster Linie wirtschaftlichen Aufschwung, mehr Kaufkraft, bessere Dienstleistungen insbesondere im staatlichen Gesundheits- und Bildungswesen, den Abbau sozialer Ungleichgewichte und nicht zuletzt: entschiedenere Korruptionsbekämpfung.
Vor allem zivilgesellschaftliche Aktivisten drängen, viertens, auf Reformen mit dem Ziel, die Nachhaltigkeit der jungen Demokratie zu sichern. Sie fordern Transparenz und Rechenschaftspflicht im Sicherheitssektor, eine Stärkung des Parlaments und gewählter lokaler Akteure, das Ende der punktuellen Einflussnahme auf die Justiz durch mächtige politische und wirtschaftliche Akteure sowie die vollständige Verwirklichung der Verfassungsbestimmungen. So existiert nach wie vor kein Verfassungsgericht, weil die Bestellung der meisten Kandidaten an Partikularinteressen der Parteien im Parlament scheiterte.
Hohe Reformhürden
Dass es der bis 2020 regierenden großen Koalition aus Ennahdha und Nidaa Tounes nicht gelang, wichtige Strukturreformen umzusetzen, hat viele Gründe.
Veto-Akteure und alte Praktiken. Zu den wichtigsten Veto-Akteuren gehört der überaus einflussreiche Dachverband der Gewerkschaften, die UGTT. Ihm ist es mehrfach gelungen, vom IWF geforderte Kürzungen am Staatshaushalt zu verzögern oder abzuschwächen sowie Teile der Bevölkerung gegen Handels- und andere Liberalisierungsschritte zu mobilisieren.
Mindestens ebenso einflussreich sind Netzwerke in Wirtschaft, Verwaltung und Politik, die ihre im alten Regime errungenen Privilegien und Pfründen verteidigen. Sie fürchten mehr Wettbewerbsfähigkeit, Transparenz und Rechenschaftspflicht und wehren sich daher gegen Steuerreformen, neue Regulierungsregime und die Stärkung der Unabhängigkeit der Justiz. Die Interessen dieser Seilschaften äußerten sich etwa in wiederholten Versuchen von Nidaa Tounes, die Transitionsjustiz zu torpedieren, in Widerständen von Polizeigewerkschaften gegen mehr Rechenschaftspflicht im Sicherheitssektor oder in der auch im Arbeitgeberverband UTICA verbreiteten Ablehnung von Handelsliberalisierungen, die Monopolstellungen gefährden könnten.
Bislang fehlte der politische Wille, sich gegen diese mächtigen Netzwerke zu stellen. Dabei dürfte die oft gepriesene Konsenspolitik der Ennahdha eine Rolle gespielt haben: Obwohl die Partei in der Zeit der Diktatur verfolgt worden war und als eher reformorientiert gilt, hat sie sich 2013 entschieden, mit Eliten des alten Systems zu kooperieren. Dabei dürfte die Sorge um staatliche Stabilität und vor erneuter Ausgrenzung eine Rolle gespielt haben. Im Ergebnis mutierte ein wichtiger potentieller Reformmotor zum Status-quo-Akteur.
Kapazitätsdefizite und Silodenken. Zu den Reformhindernissen gehörte auch das schlecht ausgestattete und im Zuge der Transition mit Gesetzesentwürfen überflutete Parlament. Vor allem aber fehlte es an Zusammenarbeit innerhalb der Regierung und zwischen Ministerien, die Bürokratie blieb zudem träge und korruptionsanfällig. Europäische Akteure in Entwicklung und Handel beklagen ebenso wie die Weltbank enorme Zeitverzögerungen sowie Probleme beim Mittelabfluss, unter anderem als Folge von Silodenken in Ministerien, wenig Flexibilität in der Verwaltung und stockenden Bewilligungsprozessen. Bei einer von der Konrad-Adenauer-Stiftung unterstützten Umfrage 2019 unter kleineren und mittleren Unternehmen sahen mehr als 70% der Befragten die öffentliche Verwaltung als großes Hindernis für Entwicklung; 28,8% berichteten von »Anreizen«, für eine Leistung der Verwaltung Schmiergeld zu zahlen. Im Global Competitiveness Ranking des World Economic Forum belegte Tunesien 2019 Platz 87 von 141.
Effekte der »Demokratisierungsrente«. Die Europäische Union und Mitgliedstaaten wie Deutschland haben Tunesien seit 2011 diplomatisch und finanziell so stark unterstützt wie kein anderes arabisches Land. Ausschlaggebend dafür sind Tunesiens Rolle als verlässlicher Partner bei der Terrorismusbekämpfung und im Migrationsmanagement, aber auch die Auswirkungen des Bürgerkriegs in Libyen auf Tunesien. Wichtigster Grund für die massive Unterstützung war und bleibt indes, dass Tunesien sich als einziges Land der Region erfolgreich demokratisiert hat.
Nach fast einem Jahrzehnt scheint diese »Demokratisierungsrente« für Tunesiens Regierung zur Selbstverständlichkeit geworden zu sein – zumal diese Rente trotz ausbleibender Strukturreformen weiter fließt. Dies zeigte sich etwa an der tunesischen Empörung, als die EU Empfehlungen der internationalen Arbeitsgruppe »Finanzielle Maßnahmen gegen die Geldwäsche« (FATF) folgte und Tunesien 2018 auf die entsprechende schwarze Liste setzte. Tunis war trotz europäischer Warnungen im Vorfeld nicht aktiv geworden. Die Erwartung, die EU hole für Tunesien die Kastanien aus dem Feuer, kam auch bei der Kommunikation zu den Verhandlungen über das Freihandelsabkommen mit der EU zum Tragen, das in Tunesien umstritten ist. Weil der Regierung der politische Wille offenkundig fehlte, übernahm die EU federführend die Kommunikation mit der tunesischen Zivilgesellschaft. Beispiele wie diese legen nahe, dass eine allzu aktive Rolle Europas die tunesische Eigeninitiative nicht unbedingt stärkt.
Neue Konstellationen – neue Chancen?
Verlautbarungen des neuen Premierministers und der Koalitionsvertrag deuten darauf hin, dass sich die neue Regierung des Reformbedarfs und der Reformhürden vollauf bewusst ist. Bessere Koordination zwischen Ministerien, Korruptionsbekämpfung und Befolgen von Empfehlungen zur Transitionsjustiz gehören demnach zu den Prioritäten. Hinzu kommt, dass sowohl Präsident Kaïs Saïed als auch die in der Regierung vertretenen Parteien Echaâb und Attayar tunesische Souveränität großschreiben. Daraus lässt sich der Wille zu mehr Gestaltung und »ownership« von Reformprozessen ableiten. Gleichzeitig dürfte die Umsetzung insbesondere der Wirtschaftsreformen die Kompromissfähigkeit der politischen Eliten auf die Probe stellen: Spannungen zwischen Verfechtern etatistischer und wirtschaftsliberaler Agenden in der Regierung sind programmiert; die Regierungsmehrheit im Parlament ist schwach; überdies zeichnen sich Machtkämpfe ab zwischen dem Parlamentspräsidenten – Ennahdha-Chef Rached Ghannouchi – und dem populären Staatspräsidenten Kaïs Saïed.
Lessons learned für die EU
Tunesiens Partner in der EU tun gut daran, der Regierung in Tunis den Ball mehr zuzuspielen als bislang. Reformwille lässt sich von außen nicht erzwingen. Signale, Anreize und Maßnahmen können aber so gestaltet werden, dass erstens reformorientierten Akteuren der Rücken gestärkt und zweitens der Druck zur Kooperation unter den tunesischen Partnern erhöht wird. Deutschland, neben Frankreich der vom Finanzvolumen her wichtigste bilaterale Partner Tunesiens, kann hierbei eine wichtige Rolle spielen. Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft ab Juli 2020 böte die Chance, Weichen neu zu stellen und folgende Maßnahmen anzustreben:
Tunesische Eigeninitiative fördern und fordern. Für alle Kooperationen sollte gelten, dass der Impetus aus Tunis kommen muss – bei Kooperationen mit zivilgesellschaftlichen Akteuren ist dies längst der Fall. Insofern sollte die EU die Wiederaufnahme der umstrittenen Freihandelsverhandlungen keinesfalls forcieren, sondern auf tunesische Angebote und Initiativen warten.
Ex-post-Finanzierungsmechanismen bei Kooperationen mit der Regierung. Erfahrungen mit den von Deutschland 2017 initiierten Reformpartnerschaften, etwa im Finanz- und Bankenwesen, legen nahe, dass der Reformimpetus größer wird und sich das Reformtempo beschleunigt, wenn Gelder erst nach Abschluss gemeinsam festgelegter Schritte ausgezahlt werden. Zudem fördern ressortübergreifend konzipierte Vorhaben die Zusammenarbeit zwischen Ministerien. Das »Cash-upon-delivery«-Prinzip sollte auf alle direkten Staatshilfen externer Akteure ausgeweitet werden – dabei sind von Tunis vorgeschlagene sowie ambitionierte Ziele zu berücksichtigen.
Reformanreize stärken. Die Regierung hat mehr Anreize, heikle Reformen durchzuführen, wenn sie der Bevölkerung Erfolge vorweisen kann, etwa die Umwandlung von Schulden in Projektgelder, höhere Quoten für Arbeitsvisa europäischer Staaten, in denen Fachkräftemangel herrscht, oder punktuelle Erleichterungen im Agrarhandel.
Lokale Expertise und Fachkräfte fördern. Tunesien wird buchstäblich überschwemmt von internationalen Entwicklungsexperten. Europäische Akteure könnten stärker und gezielter auf tunesische Expertise zurückgreifen, unter anderem aus der tunesischen Diaspora. Und: Tunis setzt bereits auf duale Ausbildung mit deutscher Hilfe – diese gilt es auszubauen. Trotz der rund 600 000 Arbeitslosen hatten allein deutsche Unternehmen in Tunesien 2019 Schwierigkeiten, Tausende offene Stellen mit Fachkräften zu besetzen.
Europäische Koordination verbessern. Seit 2011 sind ca. 10 Milliarden Euro allein als offizielle europäische Entwicklungshilfe nach Tunis geflossen – ohne dass auf Synergien und Koordination geachtet worden wäre. Absprachen sind möglich, wie die Sicherheitskooperation seit 2015 gezeigt hat: Terroranschläge haben dazu geführt, dass sich europäische und US-Akteure mit Tunesien koordiniert und Aufgaben geteilt haben. Um Transparenz und Koordination zu stärken, könnte Deutschland die Kooperationen mit deutscher Finanzierung auf einer digitalen Plattform vollständig veröffentlichen – in der Hoffnung, andere Europäer und externe Akteure »anzustecken«.
Die genannten Maßnahmen eröffneten Tunesien die Chance, das zu realisieren, was wichtige Akteure in und außerhalb der neuen Regierung sich wünschen: Vom Objekt gut gemeinter externer Entwicklungsambitionen zum handelnden Subjekt und Gestalter der eigenen Zukunft zu werden.
Dr. Isabelle Werenfels ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Naher / Mittlerer Osten und Afrika.
© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2020
Alle Rechte vorbehalten
Das Aktuell gibt die Auffassung der Autorin wieder.
SWP-Aktuells werden intern einem Begutachtungsverfahren, einem Faktencheck und einem Lektorat unterzogen. Weitere Informationen zur Qualitätssicherung der SWP finden Sie auf der SWP-Website unter https://www. swp-berlin.org/ueber-uns/ qualitaetssicherung/
SWP
Stiftung Wissenschaft und Politik
Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit
Ludwigkirchplatz 3–4
10719 Berlin
Telefon +49 30 880 07-0
Fax +49 30 880 07-100
www.swp-berlin.org
swp@swp-berlin.org
ISSN 1611-6364
doi: 10.18449/2020A16