Sie sind heterogen, stellen widersprüchliche Forderungen, geben keine Ruhe: die Gelbwesten in Frankreich. Seit November 2018 demonstrieren sie für mehr Kaufkraft und mehr Demokratie. Nach finanziellen Zugeständnissen spielt Präsident Emmanuel Macron auf Zeit. Er hat eine »große nationale Debatte« initiiert, in deren Rahmen alle Bürgerinnen und Bürger aufgerufen sind, Stellung zu politischen Zukunftsfragen zu beziehen. Diese Debatte dürfte ihm dazu verhelfen, die Wahl zum Europäischen Parlament (EP) im Mai zu gewinnen und die Spaltung der Gelbwesten voranzutreiben. Um weitere Proteste abzuwenden, die das Land paralysieren, die Regierung delegitimieren und seine Präsidentschaft scheitern lassen können, muss Macron seine Reformagenda besser vermitteln. Das bloße Spiel auf Zeit wird Frankreich für den Präsidenten ebenso wenig reformier- und regierbar machen wie für seine Vorgänger.
Die Proteste nehmen kein Ende. Seit dem 17. November 2018 gehen in Frankreich samstags Menschen in gelben Westen auf die Straße. Die landesweit organisierten Proteste der Gelbwesten (gilets jaunes) richteten sich anfangs gegen eine von Präsident Macron geplante höhere Besteuerung von fossilen Brennstoffen. Rasch mündeten sie in eine Liste mit 42 Forderungen. Von ihrem Präsidenten verlangen die Gelbwesten einerseits, »alle Steuern« zu senken, den Mindestlohn und die Renten anzuheben, andererseits die 2018 abgeschaffte Vermögenssteuer wieder einzuführen. Ein Großteil der Forderungen der Gelbwesten steht im Einklang mit den Wahlversprechen, die Macron während des Wahlkampfes 2017 gemacht hat: weniger Steuern, mehr Kaufkraft, mehr Demokratie. Die Proteste werden von der unteren ländlichen Mittelschicht, darunter Handwerker, Ladenbesitzer, getragen. Diese Menschen können von ihrer Arbeit kaum mehr leben und haben Angst zu verarmen. In der Politik, so meinen die Gelbwesten, hätten sie keine Stimme. Die Unterstützung der Gewerkschaften und der Parteien der politischen Linken, die solche Forderungen bislang kanalisiert haben, lehnen sie ab. Politik, so ihre Forderung, solle im Interesse der »einfachen Bevölkerung« und durch sie gemacht werden. Mehr politische Mitsprache solle etwa dadurch entstehen, dass Bürger- oder Volksinitiativen Referenden (référendum d'initiative citoyenne) einleiten dürfen.
Reaktion der Regierung
Präsident Macron geriet schnell unter Druck: Denn ungeachtet der Gewaltexzesse, die die Demonstrationen überschatteten, unterstützten über 70 % der französischen Bevölkerung die Forderungen.
Kurswechsel
Anfang Dezember 2018 hat Macron veranlasst, die geplante Erhöhung der Steuern auf Benzin und Diesel auszusetzen. Wenig später kündigte er vier Sofortmaßnahmen an: den Mindestlohn mit bis zu 100 Euro im Monat staatlich zu subventionieren; die ursprünglich für September 2019 geplante Steuer- und Abgabenbefreiung von Überstundenvergütungen vorzuziehen; alle Rentenbezüge, die unter 2000 Euro liegen, von Steuern zu befreien; Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern eine steuerfreie Prämie zum Jahresende 2018 auszuzahlen, so es den Unternehmen möglich ist.
Diese Zugeständnisse haben die Proteste gleichwohl nicht zu beenden vermocht. Bis heute konnte Präsident Macron die Bevölkerung nicht davon überzeugen, dass seine Reformagenda ebenso notwendig wie richtig ist. Seit seinem Amtsantritt hat Macron Frankreich im Rekordtempo umgewandelt: Flexibilisierung des Arbeitsrechts, finanzielle Entlastung der Unternehmen, Reform des Bildungswesens und der Staatsbahn SNCF. Im Zuge der Reformen sind die Beliebtheitswerte des Präsidenten gesunken. Er hat ignoriert, dass er bei seiner Wahl im April / Mai 2017 mehr Stimmen aus dem Spektrum der politischen Linken erhalten hatte als aus dem konservativen Lager. Die für die Linke besonders wichtige Reform des Sozialstaates hat der Präsident zurückgestellt; stattdessen wurde die Vermögenssteuer (außer auf Immobilien) abgeschafft und eine Pauschalsteuer von 30 % auf alle Kapitalerträge eingeführt. So gilt Macron als »Präsident der Reichen«, der die Ungleichheit im Land vergrößere. Das Ungleichheitsniveau in Frankreich ist indes, statistisch gemessen am S80 / S20-Verhältnis des Durchschnittseinkommens von 20 % der reichsten und 20 % der ärmsten Menschen in einem Land, niedriger als in den meisten anderen EU-Ländern: 13,3 % der französischen Bevölkerung waren 2017 von Armut bedroht. Dieser verhältnismäßig geringen Zahl steht entgegen, dass etwa die Hälfte der Menschen angibt, am Ende des Monats kein Geld mehr auf dem Konto zu haben.
Kein finanzpolitischer Spielraum
Weitere finanzielle Zugeständnisse kann Präsident Macron den Gelbwesten jedoch nicht machen; dazu fehlt ihm der Spielraum. Die beschlossenen Sofortmaßnahmen werden die französische Regierung nach eigenen Schätzungen etwa 8 bis 10 Milliarden Euro pro Jahr kosten. Auch wenn unbekannt ist, ob darin bereits der Aufschub der geplanten Ökosteuer-Erhöhung enthalten ist, dürfte Frankreich 2019 einmal mehr die Maastricht-Kriterien verfehlen. Mit einem Defizit von 2,7 % des Bruttoinlandsprodukts (BIP) hielt Paris nach neun Jahren erstmals 2017 wieder die Maastricht-Grenze von 3 % ein. Für 2019 plante die Regierung bisher mit einem Defizit von 2,8 % des BIP. 10 Milliarden Euro mehr entsprächen einer zusätzlichen Verschuldung in Höhe von 0,5 Prozentpunkten. Gemäß einer Vereinbarung mit der EU-Kommission durfte bzw. darf das Defizit Frankreichs zwar in den Jahren 2018 und 2019 die Schwelle von 3 % überschreiten, jedoch nicht in den folgenden Jahren.
Darüber hinaus dürften sich die sozialen Spannungen auf den Arbeitsmarkt auswirken. Zwar ist die Arbeitslosenquote auf das niedrigste Niveau seit 2009 gesunken (8,8 % im vierten Quartal 2018) und wird Experten zufolge bis 2022 weiter zurückgehen. Dennoch fallen die positiven Effekte, die sich Macron von einer Reform des Arbeitsrechts erhofft hat, bislang moderat aus. Ein Problem ist die hohe Zahl befristeter Arbeitsverhältnisse: Fast 85 % der Neueinstellungen erfolgen zeitlich begrenzt. Außerdem findet eine erhebliche soziale Ausgrenzung aus dem Arbeitsmarkt statt: In Frankreich lag der Anteil der 20- bis 34-Jährigen, die sich nicht in Ausbildung, Beschäftigung oder Weiterbildung befinden, 2017 mit 18,2 % höher als in Deutschland (11,9 %). Des Weiteren ist die Steuerquote im Verhältnis zum BIP in Frankreich die höchste aller OECD-Länder. Sie beläuft sich laut Eurostat auf 48,2 % des BIP und liegt damit weit über dem Durchschnittswert der Eurozone von 41,4 %. Eine weitere Besteuerung der Wirtschaft erscheint ausgeschlossen.
Schließlich kann Präsident Macron die Forderung der Gelbwesten nicht erfüllen, die wirtschaftlichen und sozialen Probleme des Landes durch stärkere Staatsinterventionen zu lösen. Mit 56,5 % des BIP war der Anteil der öffentlichen Ausgaben 2017 der höchste unter den OECD-Ländern. Der übergroße öffentliche Sektor ist einer der Hauptgründe für Frankreichs chronisches Haushaltsdefizit.
Die Debatte: kluger Schachzug
Vor diesem Hintergrund ist die »große nationale Debatte« (grand débat national) Macrons einziger aussichtsreicher Weg aus der Krise. Seit Mitte Januar sind die Bürgerinnen und Bürger des Landes aufgerufen, ihre Meinungen und Ideen online, aber auch in organisierten Debatten kundzutun – zu folgenden Themen: ökologischer Wandel; Steuern und staatliche Ausgaben; Demokratie, Partizipation, Repräsentation und Zusammenleben sowie Strukturen des Staates und öffentlicher Dienstleistungen. Die Diskussionen sollen Mitte März enden; ihre Ergebnisse will der Präsident im April 2019 vorstellen.
Aus drei Gründen erweist sich die Debatte als kluger Schachzug: Zum Ersten verhilft sie Präsident Macron dazu, die französischen Bürgermeisterinnen und Bürgermeister für sich zu nutzen. Diese organisieren über 60 % der Diskussionsveranstaltungen. Dabei gehören sie fast alle der Opposition an, also der konservativen, der kommunistischen oder der sozialistischen Partei oder sind parteilos. Lange herrschte Eiszeit zwischen dem Präsidenten und den Lokalpolitikern. Seit 2014 sind 750 Bürgermeister zurückgetreten – so viele wie nie zuvor. Über 50 % wollen bei den Kommunalwahlen 2020 nicht wieder antreten. Den Bürgermeistern kommt in Frankreich eine doppelte Rolle zu: Einerseits sind sie Vertreter des Staates, andererseits direkt gewählte Vertreter ihrer Gemeinde. Vom Staat fühlen sie sich bei der Bewältigung von Alltagsproblemen im Stich gelassen und sehen sich zunehmend in ihren Kompetenzen beschnitten. Zum Beispiel klagen sie über die Schließung von Polizei- und Feuerwehrstandorten, Schulen oder Postfilialen. Im Juli 2018 hatten sie sich der Einladung des Präsidenten zu einer nationalen Konferenz über den ländlichen Raum verweigert, im September riefen 1200 Bürgermeister dem Präsidenten in Erinnerung, vor allem dem Wohl ihrer Wählerinnen und Wähler verpflichtet zu sein. Diese Rolle gesteht ihnen Macron nun wieder zu, während er sie gleichzeitig zu ausführenden Organen seiner Politik macht.
Zum Zweiten trägt die Debatte dazu bei, die Bewegung der Gelbwesten zu spalten – sie haben keine einheitliche Haltung zu ihr. Laut Umfragen wollen sich etwa 40 % der französischen Bevölkerung an der Debatte beteiligen. Immer wieder finden auch Gelbwesten den Weg zu Veranstaltungen im Rahmen der »großen nationalen Debatte«. Sie stimmen im Großen und Ganzen mit den Themen überein, die Präsident Macron vorgegeben hat. In Konkurrenz zu dieser Debatte haben andere Gelbwesten Ende Januar 2019 ihrerseits eine »wahre Debatte« (le vrai débat) über die Zukunft Frankreichs lanciert. Die Gelbwesten der ersten Stunde wiederum streiten darüber, ob dem Gewalteinsatz der Polizei bei den Protesten der Gelbwesten mit Gewalt begegnet werden dürfe. Diese Auseinandersetzungen kosten Sympathien: Stimmten im November 2018 noch 71 % der Bevölkerung mit den Forderungen und Aktionen der Gelbwesten überein, tun es im Februar 2019 nur noch 50 %. Gleichzeitig politisiert sich ein Teil der Gelbwesten – sie unternehmen erste Versuche, eine Liste zur Europawahl im Mai aufzustellen.
Darin liegt der dritte Vorteil für Macron: Eine Gelbwesten-Liste würde sowohl dem rechtsextremen Rassemblement National (RN) von Marine Le Pen als auch der linkspopulistischen La France Insoumise (FI) Stimmen entziehen. Sie könnte somit entscheidend dazu beitragen, dass Macron die EP-Wahl gewinnt. Lange vor Beginn der Gelbwesten-Proteste hat Marine Le Pen diese Wahl zu einem Votum über die bisherige Politik des Präsidenten stilisiert. Während Macrons Partei La République en Marche (LaREM) noch immer einen profilierten Spitzenkandidaten und geeignete Themen für ihr Europawahlprogramm sucht, steht Le Pen seit Mitte Januar 2019 für den Wahlkampf bereit. Die »große nationale Debatte« verhindert jedoch, dass sie Gehör findet. Mit ihr hat Präsident Macron seiner schärfsten Widersacherin überdies eines ihrer Kernthemen entrissen: die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger an der politischen Debatte.
Reform nach der Revolte?
Die »große nationale Debatte« dürfte Emmanuel Macron somit helfen, als Gewinner aus den größten Protesten seit den Studentenrevolten von 1968 hervorzugehen. Keiner seiner politischen Gegner konnte bis jetzt Kapital aus der Unzufriedenheit der Bevölkerung schlagen. Die weitere Amtszeit Macrons dürfte gleichwohl nicht ruhiger verlaufen. Zumal er angekündigt hat, seine Reformagenda ab Mai 2019 wieder aufzunehmen. Er plant, die Arbeitslosenversicherung zu reformieren und die Anzahl der Beschäftigten im öffentlichen Sektor zu reduzieren. Der Erfolg des Präsidenten hängt dabei von zwei Faktoren ab: Erstens muss er seine wirtschafts- und sozialpolitische Reformagenda besser erklären: Warum ist sie notwendig, was sind ihre Ziele? Wann werden all jene, die heute von den Reformen betroffen sind, von ihnen profitieren? Diese Fragen stellen sich insbesondere die jungen Menschen in Frankreich. Sie muss Macron für sich gewinnen. Bislang ist ihm das nicht geglückt: 67 % der 18- bis 24-Jährigen misstrauen ihm derzeit. Zweitens muss Macron dauerhaft den Eindruck korrigieren, die politische Klasse agiere an der Gesellschaft vorbei. Dies wird nur gelingen, wenn die politischen Entscheidungsprozesse wieder dezentralisiert werden. Vermag er die Bevölkerung nicht langfristig hinter sich zu bringen, dürften insbesondere die Jüngeren auf die Straße zurückkehren und über kurz oder lang in das Lager der extremen Linken bzw. Rechten getrieben werden. Die gegenwärtige konjunkturelle Verlangsamung bildet einen eher ungünstigen Rahmen für das Reformprogramm, obwohl sich die Wirtschaft des Landes wenig beeindruckt zeigt von den Gelbwesten-Protesten. Die weitere Wirtschaftsleistung (und damit auch die Entwicklung der Arbeitslosigkeit) hängt jedoch von der Wachstumsdynamik innerhalb und außerhalb des Euroraums ab.
Der politische Erfolg des französischen Präsidenten liegt im strategischen Interesse Deutschlands. Mit Blick auf die erforderlichen Strukturreformen gibt es keine Alternative zu Macron. Die Möglichkeiten für Unterstützung aus Berlin sind jedoch gering: Denn Frankreich diskutiert seine innere Verfasstheit; Berlin und Paris bleiben zudem unentschlossen hinsichtlich ihrer wirtschaftlichen Zusammenarbeit in und für Europa. Die 15 prioritären Vorhaben, die beide Seiten zur Umsetzung des Vertrags von Aachen vom Januar 2019 vereinbart haben, erwähnen diesbezüglich nur neue Technologien, die digitale Wirtschaft sowie die Vertiefung des Binnenmarktes im Bereich der Finanzdienstleistungen.
Dr. Ronja Kempin ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe EU / Europa.
Dr. Paweł Tokarski ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe EU / Europa.
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doi: 10.18449/2019A13