Sinem Adar
Die türkische Regierung ändert ihre Strategie im jahrzehntelangen türkisch-kurdischen Konflikt. Doch geht es dabei um Versöhnung oder um Machterhalt? In jedem Fall beeinflusst sie die Zukunft des autoritären Systems in der Türkei und die geopolitische Lage in Syrien, meint Sinem Adar.
Die türkische Innenpolitik durchlebt seit Oktober vergangenen Jahres äußerst unruhige Zeiten. Es begann mit einem Handschlag zwischen Abgeordneten der kurdischen Partei für Emanzipation und Demokratie der Völker (DEM) und Devlet Bahçeli, dem Vorsitzenden der Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) und wichtigen Partner in der regierenden Volksallianz von Präsident Recep Tayyip Erdoğan. Dieser symbolische Akt kam unerwartet, da Bahçeli als einer der vehementesten Gegner der von der Türkei, der EU und den USA als Terrororganisation eingestuften Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) gilt.
Noch überraschender war seine Aufforderung an PKK-Gründer Abdullah Öcalan wenige Wochen später, im türkischen Parlament die Entwaffnung der PKK zu verkünden. Diese Entwicklung wirft viele Fragen auf: Ist dies der Beginn eines ernsthaften Friedensprozesses oder nur ein Manöver der Regierung, um die eigene Macht zu konsolidieren?
Bei den Kommunalwahlen im vergangenen Jahr verlor die Regierungspartei AKP erstmals seit ihrer Machtübernahme ihren Status als stärkste Partei. Das autoritäre Regime Erdoğans kämpft weiterhin um die gesellschaftliche Hegemonie. Gleichzeitig sieht sich Ankara mit außenpolitischen Herausforderungen konfrontiert, die sich aus der veränderten geopolitischen Lage im Nahen Osten ergeben. Vor allem betrachtet die türkische Regierung kurdische Autonomie-Bestrebungen als Bedrohung und sieht den Sturz des syrischen Machthabers Baschar al-Assad als Chance, diese zu verhindern.
Hinter der Initiative der regierenden Volksallianz scheint eine vielschichtige Strategie zu stehen. Die scheinbar abrupte Kehrtwende hat eine Ambiguität geschaffen, die es verschiedenen oppositionellen Akteuren erlaubt, die Situation je nach Wunsch und Interesse zu interpretieren - von Verrat insbesondere an den türkischen Nationalismus über Frieden bis hin zu Demokratisierung. Dabei scheint es der Volksallianz zu gelingen, die Unterstützung der Rechtskonservativen und eines Teils der Liberalen für eine Lösung des bewaffneten Konfliktes zu gewinnen.
Gleichzeitig betont die türkische Regierung, dass der Konflikt im Wesentlichen ein Terrorproblem und keine Frage der Anerkennung kurdischer Identität und Rechte sei. Aus der Sicht Ankaras dürften die PKK und die mit ihr verbundenen Organisationen, insbesondere die syrischen Volksverteidigungseinheiten (YPG), die Kurd:innen daher nicht vertreten. Damit zielt die Volksallianz darauf ab, die PKK und ihre Verbündeten von der breiten kurdischen Bevölkerung zu isolieren und alternative politische Repräsentationen zu etablieren.
Daneben hat die Regierung auch die Repression gegen oppositionelle Politiker verstärkt. Diesmal beschränkt sich der Angriff nicht nur auf die kurdische DEM. Er erstreckt sich auch auf bisher unvorstellbare Akteure wie die größte Oppositionspartei CHP und nationalistische Kreise. Einerseits ist Erdoğans Volksallianz entschlossen, die Zusammenarbeit zwischen der DEM und der CHP zu beenden. Zum anderen bestimmt und kontrolliert Ankara die Leitlinien der öffentlichen Debatte.
Dies ist der letzte Pfeiler der Strategie. Die Volksallianz beschreibt das Ende des bewaffneten Konflikts als Notwendigkeit in einer Zeit des regionalen Umbruchs. Nach dem Narrativ Ankaras wird die territoriale Integrität der Türkei von sogenannten imperialistischen externen Akteuren, also vor allem den USA, bedroht. Ein friedliches Zusammenleben wird, so die regierende Volksallianz, nur für möglich gehalten, wenn die Kurd:innen als ein fundamentaler Teil der türkischen Nation an der Verwirklichung des sogenannten »Jahrhundert der Türkei« beteiligt werden. Erdoğan und seine Allianz streben dabei den Aufbau einer Systemopposition an.
Eine friedliche Lösung des »ewigen Krieges« der Türkei gegen die PKK würde nicht nur für das Land selbst, sondern auch für die Region eine positive Wende bedeuten. Eine Vereinbarung zwischen der Türkei und Öcalan zur Entwaffnung der PKK bedeutet nicht automatisch Frieden. Es ist unklar, ob die PKK-Kader in Kandil positiv auf den Aufruf Öcalans reagieren würden. Es darf auch bezweifelt werden, ob die Kurd:innen in der Türkei von der Initiative Bahçelis, die weit von einem auf Rechten basierenden Ansatz entfernt ist, überzeugt werden können. Klarer ist jedoch, dass die Ergebnisse der Initiative und die nachfolgenden Ereignisse nicht nur das autoritäre System in der Türkei, sondern auch den Aufbau eines neuen Staates in Syrien entscheidend beeinflussen werden.