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Zwischen Stabilität und Risiko: Schafft die Türkei die wirtschaftspolitische Wende?

Kurz gesagt, 11.11.2024 Forschungsgebiete

Nach Jahren hoher Inflation setzt die Türkei auf einen drastischen Kurswechsel: Zinserhöhungen, Strukturreformen und Handelsabkommen sollen Stabilität bringen. Trotz erster Erfolge bleibt der neue Kurs mit hohen Risiken behaftet, meint Jens Bastian.

Die jüngsten wirtschaftspolitischen Entwicklungen in der Türkei sind international nicht unbemerkt geblieben. Auf der Jahrestagung des Internationalen Währungsfonds (IWF) im Oktober erhielt der türkische Finanzminister Mehmet Şimşek viel Lob für den nach seiner Ernennung im Juni 2023 eingeleiteten Kurswechsel. Mit Maßnahmen wie Ausgabendisziplin, Steuererhöhungen und restriktiver Kreditvergabe sollen Strukturprobleme der türkischen Wirtschaft, insbesondere die hohe Inflation und langjährige Währungsabwertung, überwunden werden. Verschiedene makro-ökonomische Kennzahlen deuten auf erste Erfolge hin. Der Rückgang der Preisinflation lag im Oktober 2024 bei 48,6 Prozent. Im Oktober 2022 hatte die offiziell ausgewiesene Inflation mit 85,5 Prozent eine Größenordnung erreicht, die an die Hyperinflation der 1990er Jahre in der Türkei erinnert.

Abkehr von unorthodoxer Zinspolitik

Die Abschwächung der Verbraucherpreise geht auf eine Reihe von Einflussfaktoren zurück. Zentral war dabei die Abkehr von der »unorthodoxen Zinspolitik«. Mit der geldpolitischen Wende der türkischen Zentralbank beträgt der Leitzins heute 50 Prozent - fast deckungsgleich mit der Preisentwicklung. Die Zinserhöhungen sind ein klarer Bruch mit der vorherigen Politik, die - entgegen ökonomischer Logik und internationaler Empfehlungen - niedrige Zinsen bei zweistelliger Inflation als Wachstumsimpuls propagierte. Weitere Zinserhöhungen sind zu erwarten, sollte die hohe Inflation anhalten. 

Die Wende in der türkischen Zinspolitik soll das Vertrauen in die türkische Lira stärken und internationale Investoren zurückbringen - ein politisch riskanter, aber notwendiger Schritt. Die exorbitanten Inflationsraten der vergangenen Jahre, einhergehend mit einer signifikanten Abwertung der Landeswährung, waren ein zentraler Grund für die Niederlage der Regierungspartei AKP von Präsident Recep Tayyip Erdoğan bei den diesjährigen Kommunalwahlen. Anders gesagt: Ein nachhaltiger Rückgang der Inflation wird auch über das politische Schicksal von Şimşek entscheiden.

Geopolitische Risiken und geldpolitische Unabhängigkeit

Die mittelfristigen Konjunkturaussichten der Türkei sind insgesamt positiv, stehen aber auf dünnem Eis. Der IWF erwartet für 2024 ein Wirtschaftswachstum von 3,4 Prozent – von einer Rezession kann deshalb keine Rede sein. Gleichwohl stellen höhere globale Energiepreise, von denen die Türkei als Importeur erheblich abhängig ist, sowie der Konflikt im Nahen Osten und der Krieg in der Ukraine geopolitische Risikofaktoren für die einheimische Wirtschaftsentwicklung dar. 

Vom Januar bis Juli 2024 haben sich die Exporte im Vergleich zum Vorjahr um 4,1 Prozent auf 148,8 Milliarden US-Dollar gesteigert, während die Importe um 8,4 Prozent auf 198,6 Milliarden US-Dollar gesunken sind. Das Defizit belief sich auf 49,8 Milliarden US-Dollar, was einem Rückgang von 32 Prozent gegenüber dem Vorjahr entspricht. 

Das koordinierte Zusammenspiel von Fiskal- und Zinspolitik hat in Ankara in den vergangenen Monaten an Substanz und Glaubwürdigkeit gewonnen. Die politischen Spielräume für Şimşek und Zentralbankgouverneur Fatih Karahan haben sich schrittweise verbessert. Das türkische Verfassungsgericht hat in einer Entscheidung vom Juni 2024 Präsident Erdoğan die Befugnis entzogen, Zentralbankchefs vor Ablauf ihrer Amtszeit zu feuern. Diese Entscheidung stärkt die Unabhängigkeit der Zentralbank und reduziert die politische Einflussnahme – ein entscheidender Schritt, der bei internationalen Investoren positiv aufgenommen wurde.

Stärkung des Außenhandels

Zur wirtschaftspolitischen Strategie der Türkei gehört auch das Ziel, Handelsbeziehungen zu diversifizieren, um die Exportchancen zu erhöhen. So sind die steigenden Ausfuhren auch auf die wachsende Zahl von Freihandelsabkommen (FTA) zurückzuführen. Insgesamt bestehen 54 FTAs zwischen der Türkei und Partnerländern, darunter 27 im EU-Binnenmarkt durch die Zollunion. Zuletzt hat die Türkei im August 2024 ein Freihandelsabkommen mit der Ukraine ratifiziert. Mit dem Golfkooperationsrat laufen Verhandlungen über ein FTA. Die mögliche Mitgliedschaft der Türkei in der BRICS-Allianz ist ein weiterer Hinweis auf Ankaras Interesse, seine wirtschaftliche und geopolitische Position durch Integration in multilaterale Institutionen zu stärken. 

Die türkische Wirtschafts- und Finanzpolitik hat in den vergangenen Monaten erkennbare Fortschritte gemacht. Doch auch wenn die neuen Maßnahmen Wirkung zeigen, bleibt die wirtschaftliche Lage fragil. Die kommenden Monate werden zeigen, ob die Türkei den Weg zu einer berechenbaren Wirtschaftspolitik fortsetzt, oder erneut unter den Hypotheken der Vergangenheit leidet.