Im Zuge von Massenprotesten kam 2018 der Oppositionspolitiker Nikol Paschinyan in Armenien an die Macht. Angetreten war er mit einer ambitionierten Reformagenda, die bei der Bevölkerung hohe Erwartungen geweckt hat. Zwei Jahre später lautet die Bilanz »Work-in-Progress«. Covid-19 durchkreuzt aber nun die (wirtschafts-)politischen Vorhaben der Regierung. Die Krise lässt sowohl negative als auch positive Rahmenbedingungen für die Umsetzung zentraler Reformen erkennen.
Vor fast genau zwei Jahren, im Frühjahr 2018, führten in Armenien landesweite Massenproteste zu einem politischen Umbruch. Weite Teile der Bevölkerung waren gegen die damalige politische Führung unter Serzh Sargsyan auf die Straße gegangen. In ihren Augen stand er für ein System, das von Machtmissbrauch, einer Verquickung wirtschaftlicher und politischer Interessen sowie unzureichender politischer Teilhabemöglichkeiten gekennzeichnet war. Unmittelbarer Auslöser der Proteste war der Wechsel von Präsident Sargsyan auf den Premierministerposten – eine unter seiner Präsidentschaft eingeleitete Umstellung von einem präsidentiellen auf ein parlamentarisches System bereitete hierfür den Weg.
Die Proteste zwangen Sargsyan zum Rücktritt; Interims-Premier wurde der Anführer der Proteste und oppositionelle Abgeordnete Nikol Paschinyan. Im Dezember 2018 konnten er und sein »Mein-Schritt«-Bündnis in vorgezogenen Parlamentswahlen den »Erfolg der Straße« legitimieren. Während die bis dahin dominierende »Republikanische Partei« Sargsyans den Einzug in die Nationalversammlung verpasste, verfügt »Mein Schritt« darin seither über die absolute Mehrheit. Die vor allem auf die innerstaatliche Entwicklung gerichtete Reformagenda der neuen Regierung ist ehrgeizig. Zentrale Vorhaben sind der Kampf gegen Korruption, der Aufbau stabiler demokratischer Institutionen, die Etablierung fairen wirtschaftlichen Wettbewerbs und die Förderung inklusiven Wachstums.
Hohe Erwartungen
Zwei Jahre nach der »samtenen Revolution« sind die Zustimmungswerte Paschinyans zwar gesunken, aber noch immer hoch. In der jüngsten repräsentativen Umfrage des International Republican Institute (IRI) vom Oktober 2019 bewerten 76% der Befragten die Arbeit des Premiers positiv – höher ist nur die Zustimmung für die Armee und den Präsidenten (im Protestjahr rangierte der Premier noch an erster Stelle). Auch bei der Bewertung des Kurses, den Armenien steuert, hat die »Revolutions-Euphorie« wie zu erwarten nachgelassen: Während im August 2018 73% der Befragten der Meinung waren, das Land entwickele sich in die richtige Richtung, sahen das im Herbst 2019 nur noch 62% so. Trotz der Einbußen sind die Zahlen immer noch weit positiver als jene der Vorgängerregierung. Dabei sind auch die Erwartungen an Paschinyan und sein Team hoch. Gefragt nach den größten Problemen, die es zu lösen gilt, werden in den vier IRI-Umfragen, die zwischen August 2018 und Oktober 2019 durchgeführt wurden, fehlende Jobs an erster Stelle genannt. Als besonders dringlich zu regelndes Problem sahen im Oktober 2019 über 80% auch das Justizwesen an, das kaum Vertrauen genießt.
Work-in-Progress
Kampf gegen Korruption
Empörung über Vetternwirtschaft und Patronage-Netzwerke war eines der zentralen Motive, die die Bevölkerung 2018 auf die Straße trieb. Kampf gegen Korruption ist die Devise der neuen Regierung. Nach dem politischen Wechsel erregten zahlreiche Verfahren gegen prominente Persönlichkeiten Aufsehen, darunter ehemalige Minister, Abgeordnete und Gouverneure. Im Dezember 2019 wurde gegen Serzh Sargsyan Anklage erhoben, wegen Veruntreuung öffentlicher Gelder. Mit diesen exponierten Fällen gibt die Paschinyan-Regierung zu erkennen, dass es ihr nicht am politischen Willen fehlt, ihre Antikorruptionsagenda zu implementieren. Sie prägen zudem in der Öffentlichkeit das Bild des Kampfes gegen die Korruption.
Für eine nachhaltige Korruptionsbekämpfung sind allerdings vor allem koordinierte strukturelle Reformen notwendig: eine Stärkung der institutionellen Basis, eine Nachbesserung der Gesetze, insbesondere aber die konsequente und transparente Durchsetzung geltender Regeln und ein unabhängiges Monitoring. Mit der Antikorruptionsstrategie 2019–2022, die die Regierung im Herbst 2019 angenommen hat, gibt es nun eine Grundlage für einen solchen Ansatz. Die Fokussierung struktureller Reformen dürfte auch der vor allem von der (außerparlamentarischen) Opposition geäußerten Kritik entgegenwirken, die Regierung würde im Kampf gegen die Korruption selektiv vorgehen und sich auf einzelne unliebsame Personen konzentrieren. Zum Weltantikorruptionstag am 9. Dezember 2019 stellte das Transparency International Anti-Corruption Center in Eriwan fest, dass im »Neuen Armenien« die systemische Korruption reduziert worden sei. Noch könne man aber nicht sagen, so die Einschätzung, dass korrupte Praktiken kein Hemmnis mehr für die Entwicklung des Landes darstellten.
Neuordnung des Justizwesens
Als wesentlich für eine erfolgreiche Korruptionsbekämpfung und die weitere Demokratisierung gilt die Reform des Justizwesens, das viele Armenier als notorisch kompromittiert wahrnehmen. Obschon auch die Paschinyan-Regierung die Sicherstellung einer unabhängigen, integren und effizienten Justiz als Schlüsselaufgabe begreift, hat sie sich bislang mit tiefgreifenden Reformen zurückgehalten. Die Weichen hierfür stellt nun die Justiz-und Rechtsreformstrategie 2019–2023, die im Oktober 2019 beschlossen wurde. Sie sieht unter anderem Maßnahmen für eine verbesserte Rechenschaftslegung sowie zur Förderung der Unbefangenheit und Effektivität der Gerichte vor.
Zuletzt geriet der Justizsektor vor allem anlässlich der Kontroverse um das Verfassungsgericht und seinen Präsidenten Hrayr Tovmasyan in den Blick. Das Regierungsteam sieht das oberste Gericht als Überbleibsel und Teil des korrupten, unter der Republikanischen Partei herrschenden Systems, folglich als Hemmschuh für die Umsetzung der Reformagenda. Im Zuge der 2015 reformierten Verfassung, die 2018 in Kraft trat, wurde die Amtszeit der insgesamt neun Verfassungsrichter auf zwölf Jahre begrenzt. Für Tovmasyan und jene sieben Verfassungsrichter, die vor dem Inkrafttreten der neuen Verfassung ins Amt kamen, gilt jedoch eine »Altfallklausel«. Sie erlaubt es ihnen, bis zum Pensionsalter im Amt zu bleiben. Per Verfassungsreferendum soll diese Klausel nun eliminiert werden; die Verfassungsrichter, die vor Inkrafttreten der neuen Verfassung eingesetzt wurden, würden abberufen. Der Versuch, die Verfassungsrichter mittels finanzieller Anreize zu bewegen, sich freiwillig frühverrenten zu lassen, war zuvor gescheitert. Tovmasyan und seine Unterstützer werten die von der Regierung getroffenen Maßnahmen als politisch motivierten Versuch, Einfluss auf das Verfassungsgericht zu nehmen, und als vorläufigen Höhepunkt einer persönlichen Vendetta Paschinyans gegen Vertreter der entmachteten Elite. Im Dezember war Tovmasyan wegen angeblichen Machtmissbrauchs während seiner Amtszeit als Justizminister angeklagt worden.
Die Gräben zwischen Anhängern der Republikanischen Partei sowie den früheren Präsidenten Sargsyan und Kocharyan auf der einen und den Vertretern und Sympathisanten der Paschinyan-Regierung auf der anderen Seite sind tief. Für die Regierung ist mit der Polarisierung ein Dilemma verbunden: Einerseits kann die frühere politische Elite die ihr verbliebenen Hebel nutzen, um die Umsetzung der Reformen zu behindern und so eigene Partikularinteressen zu wahren. Andererseits machen radikale Reformen wie etwa das Vorgehen gegen das Verfassungsgericht die neue Führung selbst angreifbar, werfen diese doch ihrerseits Fragen in Hinblick auf eine mögliche Machtkonzentration auf. In jedem Fall dürften sich die Fronten weiter verhärten.
Revolution im Wirtschaftssektor
Die Hauptsorge der Bürgerinnen und Bürger gilt den sozio-ökonomischen Problemlagen. Die Erwartung an die Regierung wächst, dass sie Verbesserungen beim Lebensstandard erwirkt: Während sich in der IRI-Umfrage vom Oktober 2018 61% für schnelle oder möglichst schnelle Reformen aussprachen, waren es im Oktober 2019 75%. Nach den aktuellsten Daten des armenischen Statistikamts, die von 2018 datieren, lag die Arbeitslosigkeit bei 19%; insbesondere die Situation vieler junger Menschen ist prekär. Gemäß Daten der Internationalen Arbeitsorganisation waren 2017 fast 37% der 15- bis 24-Jährigen weder beschäftigt noch in schulischer oder beruflicher Ausbildung. Die Armutsquote ist zwar seit einigen Jahren rückläufig, 2018 bezifferte sie sich aber immer noch offiziell auf 23,5%. Der Mangel an geeigneten Arbeitsplätzen im Land war in der Vergangenheit Ursache für massive Abwanderung und eine starke Abhängigkeit von Rücküberweisungen jener, die im Ausland arbeiten. Laut Daten der Weltbank machten Rücküberweisungen 2018 12% des Bruttoinlandsprodukts (BIP) aus.
Angesichts dieser Herausforderungen kündigte Paschinyan im Februar 2019 eine »wirtschaftliche Revolution« an. Der Slogan ist Programm: Im Wesentlichen sollen politische Kernziele auch in der Wirtschaft verfolgt werden. Folglich kommen Antikorruptionsanstrengungen, Antimonopolmaßnahmen und dem Abbau wettbewerbswidriger Vergünstigungen eine zentrale Rolle zu. Entsprechende Vorhaben werden unter anderem von der Weltbank, dem Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Europäischen Union unterstützt. Beobachter sind sich einig, dass diese Maßnahmen an den richtigen Stellen ansetzen. Gravierende Defizite beim freien und fairen Wettbewerb, wie sie unter der Vorgängerregierung bestanden, gelten als zentrales Hindernis für wirtschaftliches Wachstum.
Neben der Behebung regulatorischer Mängel und dem Aufbau von Kapazitäten zur Überwachung und Durchsetzung hat das Justizwesen eine Schlüsselfunktion. Schließlich sind unabhängige und effektive Gerichte eine wichtige Voraussetzung, um Rechtsansprüche einzuklagen. Auch für die Umsetzung der »wirtschaftlichen Revolution« sind Justizreformen daher essentiell. Offen ist, inwieweit Wirtschaftswachstum auch (schnelle) Erfolge bei der Bekämpfung von Arbeitslosigkeit und Armut zeitigen hilft. In der Vergangenheit hat sich die positive Entwicklung des BIP, so eine Studie des IWF, kaum auf die Arbeitslosenzahlen niedergeschlagen. Paschinyan sieht Armeniens Zukunft in einer wissensbasierten Wirtschaft mit einem florierenden Informations- und Hochtechnologiesektor als Motor. Auf diese Weise ließe sich der Mangel an Konnektivität – zwei der vier Grenzen sind geschlossen – ausgleichen. Die Frage ist aber, für wie viele Armenierinnen und Armenier sich hier berufliche Chancen eröffnen und wie sie sich schnell notwendige Qualifikationen aneignen können.
»Neues Armenien« und Covid-19
Aufgrund der grassierenden Coronavirus-Pandemie müssen insbesondere die Wirtschaftsprognosen und anvisierten Entwicklungshorizonte angepasst werden. Von den drei südkaukasischen Ländern weist Armenien bezogen auf die Bevölkerungsgröße derzeit die meisten bestätigten Infektionsfälle auf. Tourismus, Rücküberweisungen vor allem aus Russland und Warenexporte dorthin sind nur einige Elemente, bei denen die Auswirkungen der Pandemie zu spüren sein werden. Hinzu kommt, dass von Drittländern ergriffene Eindämmungsmaßnahmen wie (Ein-)Reisebeschränkungen dem Einfluss der Regierung in Eriwan entzogen sind.
Die Regierung hat ein Hilfspaket geschnürt, das sowohl Unternehmen als auch Bürgerinnen und Bürgern verschiedene Optionen finanzieller Unterstützung bietet und sich – so der derzeitige Stand – auf 2% des BIP belaufen soll, also auf rund 300 Millionen US-Dollar. Inwieweit damit die wirtschaftlichen Einbußen und Nöte abgefedert werden können und wer sich damit überhaupt erreichen lässt, muss sich zeigen. Armeniens Bevölkerung, für deren Mehrheit eine Verbesserung des Lebensstandards Priorität hat, wird sich weiter in Geduld üben müssen. Erst einmal steht das öffentliche Leben still. Seit 17. März 2020 herrscht der nationale Notstand. Infolgedessen wurde schließlich auch das auf den 5. April angesetzte Verfassungsreferendum über die Neuordnung des Verfassungsgerichts auf unbestimmte Zeit vertagt.
Auch in etablierten Demokratien rufen die gegen die Ausbreitung von Covid‑19 eingeleiteten Notstandsmaßnahmen und Eingriffe in freiheitliche Grundrechte Kontroversen hervor. Im Zwist mit der neuen Führung bringt die entmachtete politische Elite die veranlassten Maßnahmen als Argumente gegen die Regierung in Stellung, diese würde ihren eigenen Demokratisierungsanspruch unterminieren. Die Paschinyan-Regierung reagiert nervös auf solche Vorwürfe: Bei Journalistenorganisationen, aber auch beim Beauftragten für Medienfreiheit der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa rief ein Gesetz Kritik hervor, das die Verbreitung von »fake news« im Zusammenhang mit Covid‑19 unterbinden soll und dabei in die Medienfreiheit eingreift. Daraufhin wurde es in seiner Reichweite abgeschwächt. Anders das kontroverse Gesetz zum Handytracking, das trotz eines Boykotts der Opposition am 31. März 2020 im Parlament angenommen wurde. Derzeit gibt es keinerlei Anzeichen dafür, dass (außerparlamentarische) Opposition und Regierung im Kampf gegen das Virus zusammenfinden. Streitigkeiten wie die über die Neuordnung des Verfassungsgerichts sind lediglich auf Eis gelegt.
Jenseits der parteipolitischen Auseinandersetzung zeigen die Debatten über den richtigen Umgang mit der Krise aber auch, dass zivilgesellschaftliche Organisationen im »Neuen Armenien« ihre Watchdog-Rolle weiterhin wahrnehmen – angesichts der Nähe des Paschinyan-Teams zu diesen Kreisen und seiner Wurzeln darin gab es daran zunächst Zweifel. Nicht zuletzt für die anstehende Umsetzung der Reformen bei der Korruptionsbekämpfung und im Justizwesen ist das ein gutes Zeichen.
Dr. Franziska Smolnik ist Stellvertretende Leiterin der Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien.
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ISSN 1611-6364
doi: 10.18449/2020A28