Seit den umstrittenen Präsidentschaftswahlen sind sämtliche Dialoginitiativen zur Lösung der politischen Krise in Belarus ins Leere gelaufen. Sabine Fischer und Astrid Sahm zeigen verbliebene Optionen auf.
Belarus befindet sich in einer politischen Sackgasse. Die friedlichen Proteste der Belarussen und Belarussinnen gegen die Manipulationen der Präsidentschaftswahl vom 9. August und den langjährigen Amtsinhaber Alexander Lukaschenka sind so stark, dass die Staatsmacht sie nicht mit Gewalt zu unterdrücken vermag. Solange die politische Führung lediglich repressiv antwortet, wird die Protestbewegung nicht abflachen und immer neue Formen annehmen – ohne, dass sie über institutionelle Hebel zur Durchsetzung ihrer Anliegen verfügt. Lukaschenka hingegen kann sich auf den Staatsapparat und die Sicherheitskräfte stützen. Deren anhaltende Loyalität erklärt sich nicht zuletzt durch die Angst vor Strafverfolgung im Fall eines Machtwechsels. Lukaschenka selbst will um jeden Preis das Schicksal früherer Amtskollegen abwenden, die wie Kurmanbek Bakijew oder Viktor Janukowitsch vor »farbigen Revolutionen« aus ihren Ländern geflohen sind.
Diese Pattsituation zeigt sich auch auf internationaler Ebene. Während die EU die Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen nicht anerkennt, sieht der Kreml in Lukaschenka den legitim gewählten Präsidenten von Belarus. Zudem führt Moskau keine Gespräche mit dem von der oppositionellen Präsidentschaftskandidatin Swjatlana Zichanouskaja gebildeten Koordinierungsrat. Hingegen kommuniziert die EU vorrangig mit Vertreterinnen und Vertretern der Protestbewegung, da das offizielle Minsk alle Vermittlungsangebote aus dem Westen ablehnt. Lukaschenkas Ankündigung einer Verfassungsreform mit anschließenden vorgezogenen Neuwahlen wird bisher nur von Moskau als Weg aus der politischen Krise unterstützt. Alle anderen Akteure betrachten die Verfassungsinitiative lediglich als den Versuch, Zeit zu gewinnen.
Dabei könnte eine Verfassungsreform tatsächlich einen Weg aus der politischen Krise weisen. Sie müsste aber um vertrauensbildende Maßnahmen und Garantien erweitert werden. Hierzu könnten folgende Schritte gehören:
Wie eine entsprechende Roadmap konkret auszugestalten ist, wäre im Dialog zwischen der derzeitigen Staatsführung und dem Koordinierungsrat zu klären, wobei sich beide Seiten auch darauf verständigen könnten, weitere gesellschaftliche Akteure einzubeziehen. Unter anderem braucht es Mechanismen, die die Einhaltung der Roadmap sichern. Ein zentraler Schritt wäre, allen staatlichen Akteuren Straffreiheit zuzusichern. Gleichzeitig sollten alle in den letzten Wochen begangenen Gewalttaten und Repressionsmaßnahmen unabhängig dokumentiert und aufgearbeitet werden. Dies könnte – nach dem Beispiel von Wahrheits- und Versöhnungskommissionen in anderen Ländern – eine wesentliche Grundlage für einen unter Beteiligung der Kirchen moderierten Prozess mit dem Ziel sein, die gesellschaftliche Spaltung zu überwinden. Zugleich wäre damit aber auch die Möglichkeit einer späteren strafrechtlichen Verfolgung gegeben für den Fall, dass die Roadmap nicht eingehalten wird.
Die EU könnte einen derartigen Prozess unterstützen, indem sie während der Umsetzung der Roadmap darauf verzichtet, bereits beschlossene Sanktionen anzuwenden. Zudem sollte sie einen Stufenplan zur Unterstützung von Reformen, Wirtschaft und Zivilgesellschaft auflegen, den sie vorerst partiell und nach Abschluss der Verfassungsreform und Neuwahlen vollständig umsetzt. Grundsätzlich sollten die Erarbeitung und Umsetzung der Roadmap jedoch bei den belarussischen Akteuren liegen. Internationale Institutionen sollten nur auf deren Anfrage hin in prozessualen Fragen beraten. Eine solche Funktion könnten beispielsweise Mitglieder der Venedig-Kommission des Europarates übernehmen.
Auch Moskau könnte in einem derartigen Szenario Vorteile sehen. Denn indem der Kreml Lukaschenka Rückendeckung gibt, fördert er die Entstehung einer antirussischen Stimmung in der traditionell russlandfreundlichen belarussischen Gesellschaft. Die Durchsetzung weitergehender Integrationsabkommen wäre für Moskau in dieser Situation mit hohen Risiken verbunden. Zudem wären massive russische Subventionen nötig, um die sich abzeichnende tiefe Wirtschaftskrise in Belarus aufzufangen. Teile der russischen Gesellschaft wiederum könnten negativ darauf reagieren, dass Moskau politisch, wirtschaftlich und möglicherweise sogar militärisch in Belarus eingreift. Eine geordnete Transformation hingegen würde es Moskau erlauben, solche Kosten zu reduzieren. Voraussetzung wäre jedoch, dass der Kreml die gesellschaftliche Ebene in seinem Kalkül berücksichtigt.
Dieser Weg würde von allen Seiten substanzielle Zugeständnisse verlangen. Ohne Dialog und Kompromisse dürfte die innenpolitische Situation in Belarus jedoch auf lange Sicht instabil bleiben. Zudem wüchse die Gefahr einer gewaltsamen Eskalation. Die EU sollte daher alle verfügbaren Kommunikationskanäle nutzen, um das Szenario einer Verhandlungslösung weiter zu befördern. Sie kann baltische und polnische Initiativen, Swjatlana Zichanouskaja als neu gewählte Präsidentin zu behandeln, nicht mittragen. Dies würde ihrem Ansatz widersprechen, die Wahlen nicht anzuerkennen. Auch stiege das Risiko, dass sich die genuin innenpolitische Krise in Belarus in einen geopolitischen Konflikt verwandelt.
Proteste in Belarus
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