In der Weltgesundheitsorganisation (WHO) liegen derzeit zwei wichtige Vorhaben an, die zu einem neuen Pandemievertrag und einer Reform der Internationalen Gesundheitsvorschriften von 2005 führen können. Mindestens zwei große Herausforderungen stehen dabei im Vordergrund: Wie kann bei der künftigen weltweiten Verteilung medizinischer Güter im Krisenfall eine globale Gesundheitsgerechtigkeit (»Equity«) hergestellt werden? Wie können die Anreize erhöht werden, damit Informationen über Krankheitsausbrüche künftig rascher und transparenter ausgetauscht werden? Es ist durchaus möglich, Synergien zu erzeugen, um die beiden Herausforderungen effektiver anzugehen.
Die weltweite Covid-19-Pandemie hat die Frage aufgeworfen, wie sichergestellt werden kann, dass die internationale Staatengemeinschaft in Zukunft besser und schneller auf die Ausbreitung einer Krankheit wie SARS-CoV-2 reagiert. Zwei Punkte sind dabei offen und werden kontrovers diskutiert: Wie kann, erstens, weltweit ein gerechter (»equitable«) Zugang zu medizinischen Gegenmaßnahmen, wie zum Beispiel Impfstoffen, gewährleistet werden; und wie muss künftig der Informations- und Datenaustausch über neue Krankheitsausbrüche gestaltet sein.
Beide Themen sind durchaus miteinander verknüpft. Im Zentrum der Reformen stehen die völkerrechtlichen Normen im Bereich der grenzüberschreitenden Ausbreitung von Krankheiten. Dazu wird in Genf derzeit über eine Novellierung der Internationalen Gesundheitsvorschriften (IGV) von 2005 und die Schaffung eines neuen WHO-Abkommens zur Pandemievorsorge und -bekämpfung (im Folgenden als »Pandemievertrag« bezeichnet) verhandelt. Im Mittelpunkt dieser Bemühungen steht die Überzeugung einiger Staaten und Staatengruppen, wie der G7, der Europäischen Union (EU) und der Mitglieder der sogenannten »Freunde des Pandemievertrags«, dass eine regelbasierte internationale Ordnung eine robustere Alternative zur bisher gepflegten Ad-hoc-Diplomatie bietet.
Deutschland hat ein Interesse am Erfolg dieser Reformprozesse. Seit der westafrikanischen Ebola-Krise von 2014/15 ist die Bundesregierung bestrebt, sich als Vorreiterin im Bereich Global Health zu positionieren. Diese Bemühungen verstärkten sich noch einmal während der Präsidentschaft von Donald Trump, als der Rückzug der USA aus multilateralen Vereinbarungen zur globalen Gesundheit in der offiziellen Ankündigung gipfelte, aus der WHO auszutreten. Zwar hat das Kabinett Biden diese Entscheidung wieder rückgängig gemacht, doch ein erneuter Austritt ist je nach Ausgang der Präsidentschaftswahlen 2024 nicht auszuschließen.
Wenn Deutschland seine Führungsrolle im Bereich der globalen Gesundheit im Allgemeinen und bei der Steuerung der WHO im Besonderen behaupten will, muss es sich aktiv an den beiden völkerrechtlichen Reformprozessen beteiligen. Das Zeitfenster für eine Mitgestaltung der Projekte, an deren Ende eine gerechtere und kohärentere Reaktion auf künftige Pandemien stehen soll, ist zwar noch offen, könnte sich aber schließen, wenn sich Deutschland, die EU, die USA und andere führende Akteure im Bereich der globalen Gesundheit neuen Prioritäten zuwenden. Andere Entwicklungen wie der Krieg in der Ukraine und die drohende weltweite wirtschaftliche Rezession könnten die geopolitische Fragmentierung vertiefen. Deutschland sollte die Chance ergreifen, sich durch sein Engagement in den laufenden Reformprozessen der WHO als verlässlicher langfristiger Partner der globalen Gesundheitsvorsorge zu erweisen. Zielführend wäre es, wenn Deutschland den Ansatz verfolgen würde, die Ausarbeitung eines Pandemievertrags und die IGV-Novellierung als komplementäre und nicht als parallele Aufgaben anzugehen.
Pandemievorsorge und ‑bekämpfung: Relevanz des Völkerrechts?
Warum brauchen wir rechtsverbindliche internationale Regeln für den Umgang mit solchen Bedrohungen? Hierfür gibt es zwei wesentliche Gründe. Erstens: Folgt man einer klassisch funktionalistischen Argumentation, erfordert das Erreichen bestimmter Ziele, die für einen einzelnen Staat unerreichbar sind, die aktive Beteiligung verschiedener Staaten. Dies wurde bei der Entstehung der Covid-19-Pandemie deutlich. Der Ort des Ausbruchs, das chinesische Wuhan, lag weit außerhalb der rechtlichen Zuständigkeit der Behörden in Deutschland und der EU. Da künftige Pandemien überall auf der Welt auftreten können, ist es wichtig, dass es Bestimmungen gibt, die eindeutig festlegen, was Staaten tun dürfen und was nicht. Zweitens können rechtliche Regeln im Gegensatz zu einer Kooperation, die von diplomatischen Erwägungen abhängig ist, für mehr Kontinuität sorgen. Die Lähmung der Fähigkeit, auf eine Pandemie zu reagieren, weil sich die politischen Prioritäten der Regierenden geändert haben, erlaubt es nicht, den Kreislauf von »Panik und Nachlässigkeit« zu durchbrechen.
Pandemievertrag und Internationale Gesundheitsvorschriften: Der Weg zur Verabschiedung
Nach Artikel 19 bzw. 21 der Verfassung der WHO kann die Weltgesundheitsversammlung rechtsverbindliche Konventionen und Vorschriften erlassen. Die Versammlung wiederum setzt sich aus Vertreterinnen und Vertretern der Staaten − häufig Gesundheitsministerinnen und -minister − zusammen, die regelmäßig einmal im Jahr tagen und über Resolutionen und Beschlüsse abstimmen. Daher liegt die endgültige Entscheidung darüber, was angenommen wird, bei den Mitgliedstaaten selbst.
Gemäß Artikel 60 der WHO-Verfassung gelten für die Annahme von Vorschriften, Konventionen oder Verträgen durch die Weltgesundheitsversammlung unterschiedliche Abstimmungsquoten (siehe Tabelle). Für die Verabschiedung von Verträgen oder Abkommen ist nach Artikel 60 (a) der WHO-Verfassung eine Zweidrittelmehrheit der in der Versammlung anwesenden und abstimmenden Mitgliedstaaten erforderlich. Vorschriften können gemäß Artikel 60 (b) mit einfacher Mehrheit angenommen werden, es sei denn, die Staatenvertreter stufen sie ad hoc als »wichtige Fragen« ein, so dass die besagte Zweidrittelmehrheit erforderlich wird. Trotz der Unterschiede in den Vorgaben, was die notwendigen Mehrheiten und Verfahren für das Inkrafttreten betrifft, werden Abkommen und Vorschriften in den Plenarsitzungen der Weltgesundheitsversammlung in der Praxis (grundsätzlich) durch Konsens entschieden.
Realisierung eines neuen Pandemievertrags
Vergleich der WHO-Abkommen und -Vorschriften |
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Art des Instruments |
Genehmigungsverfahren |
Gegenstand |
Präzedenzfälle |
WHO-Abkommen |
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WHO-Vorschriften |
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WHO-Abkommen (in Form von internationalen Verträgen) und WHO-Vorschriften (wie die IGV und ihre Reformen) haben einen unterschiedlichen Anwendungsbereich in Bezug auf das, was sie regulieren können. Abkommen oder Verträge können gemäß Artikel 19 der WHO-Verfassung »über jede innerhalb der Zuständigkeit der Organisation liegende Frage« verabschiedet werden, und Artikel 2 der genannten Verfassung zählt 22 Aufgaben auf, die sich die WHO zu eigen macht. Mit der ersten ermächtigt sich die Organisation, die »leitende und koordinierende Stelle des internationalen Gesundheitswesens« zu sein. Artikel 19 der WHO-Verfassung ist zwar eine Regelung mit großer Reichweite; in der Praxis stößt die darin formulierte Maßgabe aber auch an gewisse Grenzen, was besonders deutlich wird, wenn sich die WHO mit Fragen befasst, die in den Zuständigkeitsbereich anderer völkerrechtlicher Regelungen fallen. Themen wie der Zugang zu Arzneimitteln (wegen der Rechte an geistigem Eigentum) oder die Umweltgesundheit (in Verbindung mit dem One-Health-Begriff) sind Beispiele dafür.
Nach der Abstimmung in der Weltgesundheitsversammlung müssen die Beschlüsse der WHO in der Regel noch von innerstaatlichen Organen, wie Parlamenten, genehmigt werden. Wenn diese Zustimmung erfolgt ist, übermitteln die Staaten eine Ratifizierungsurkunde, in der sie sich auch zur legalen Verbindlichkeit des Rechtsakts bekennen. Die Abkommen werden also erst dann verbindlich, wenn das gesamte Ratifizierungsverfahren durchlaufen wurde, und nur für jene Mitgliedstaaten, die dies hinter sich gebracht haben.
Die Idee, einen Pandemievertrag zu schließen, wurde erstmals vom Präsidenten des Europäischen Rates, Charles Michel, vorgetragen. Begründet wurde der Vorschlag mit einer Reihe von Vorteilen, die mit einem Vertrag verknüpft sind: Er zwingt die nationalen politischen Entscheidungsträger und ‑trägerinnen zu einem ständigen Engagement in der globalen Gesundheitspolitik, er zurrt die Grundsätze und Ziele einer multilateralen Pandemievorsorge fest und er kann in verbindlicherer Weise für »Equity« bei der Verteilung medizinischer Güter sorgen und in stärkerem Maße den One-Health-Ansatz voranbringen. Der Generaldirektor der WHO erklärte seine Zustimmung zu der Initiative.
Nach dem Vorbild des Rahmenübereinkommens zur Eindämmung des Tabakkonsums wurde im Dezember 2021 ein »Intergovernmental Negotiating Body« (INB) eingerichtet, das den neuen Pandemievertrag ausarbeiten soll. Es setzt sich aus Vertretern und Vertreterinnen der Mitgliedstaaten zusammen und hält regelmäßige Sitzungen ab, um über den Stand des Gesetzgebungsverfahrens zu informieren. Kürzlich hat das INB einen »Conceptual Zero Draft« in Umlauf gebracht, der die Basis für die Diskussion der nächsten Meetings bilden wird. Das Dokument ist das Ergebnis mehrerer Feedback-Runden von Delegationen der WHO-Mitgliedstaaten, Nichtregierungsorganisationen (NROs) und einzelnen Experten zu einer Reihe von Themen. Der Text enthält jedoch naturgemäß noch nicht den finalen Wortlaut der Bestimmungen, sondern soll vielmehr als Grundlage für Verhandlungen über eine Reihe von übergreifenden Problemen dienen.
In diesem Zusammenhang ist anzumerken, dass die EU im Gegensatz zu anderen Politikfeldern wie dem internationalen Handel keine ausschließliche oder gemischte, sondern nur eine ergänzende Zuständigkeit im Bereich der (globalen) Gesundheit besitzt, so dass das Inkrafttreten eines Pandemievertrags in der Kompetenz jedes einzelnen EU-Mitgliedstaats läge. Dies hindert die EU jedoch nicht daran, an den Verhandlungen teilzunehmen, da ihre Kommission vom Rat der EU ein entsprechendes Mandat erhalten hat. Dennoch stimmen die Positionen Deutschlands und der EU zum Pandemievertrag seit Beginn des Prozesses vollständig überein.
Reformen der IGV
Die Weltgesundheitsversammlung kann jedoch jenseits eines Pandemievertrags in fünf Bereichen rechtsverbindliche Regelungen erlassen: 1) Gesundheits- und Quarantänevorschriften und andere Verfahren zur Verhinderung der internationalen Ausbreitung von Krankheiten; 2) Nomenklaturen von Krankheiten, Todesursachen und Praktiken des öffentlichen Gesundheitswesens; 3) internationale Normen für Diagnoseverfahren; 4) internationale Handelsnormen für die Sicherheit, Reinheit und Wirksamkeit biologischer, pharmazeutischer und ähnlicher Produkte; und 5) Normen für die Werbung und Kennzeichnung biologischer, pharmazeutischer und ähnlicher Produkte, die dem internationalen Handel unterliegen. Der erste dieser Bereiche bildet die Grundlage für die Internationalen Gesundheitsvorschriften (IGV) von 2005. Die IGV sind derzeit das rechtsverbindliche Instrument zum Umgang mit grenzüberschreitenden Krankheiten.
Nach Artikel 21 der WHO-Verfassung kann die Weltgesundheitsversammlung Vorschriften annehmen, die für die Staaten rechtlich bindend sind, es sei denn, diese lehnen sie ab (»opt out«). Sobald die in den Vorschriften festgelegte Frist für die Ablehnung oder die Anmeldung eines Vorbehalts verstrichen ist, sind die betreffenden Regelungen für alle Staaten, die keine Einwände geäußert haben, verpflichtend. Das Hauptmerkmal der WHO-Vorschriften besteht darin, dass in ihrem Fall die Beteiligung der nationalen Gesetzgeber nicht nötig ist. Hinzu kommt, dass die Vorschriften eine niedrigere Abstimmungsschwelle erfordern als Konventionen. Dies haben die WHO-Mitgliedstaaten akzeptiert, als sie die Verfassung der Organisation ratifiziert haben – möglicherweise ein Beweis für das große Vertrauen, das die Regierungen in ihre Delegierten in der Weltgesundheitsversammlung setzen.
Im Januar 2022 hat die Regierung der USA einen Vorschlag zur Änderung von dreizehn Bestimmungen der IGV (2005) vorgelegt. Die Delegierten der 75. Weltgesundheitsversammlung im Mai 2022 akzeptierten jedoch nur die Anregung, den Zeitraum für die Ablehnung von Änderungen gemäß Artikel 55 bzw. 59 IGV (2005) von 18 auf 10 Monate und die Frist bis zum Inkrafttreten solcher Änderungen von 24 auf 12 Monate zu verkürzen. Die übrigen Initiativen der US-Regierung betrafen unter anderem die Möglichkeit für die WHO, eine gesundheitliche Notlage von internationaler Tragweite auszurufen, ohne die betroffenen Mitgliedstaaten zu konsultieren, und die Schaffung eines neuen Mechanismus zur Notfallerklärung auf mittlerer Ebene. Hier waren die WHO-Mitgliedstaaten der Ansicht, dass mehr Zeit erforderlich sei, um die Reichweite solcher Änderungen zu erörtern.
Bis zum 30. September 2022 haben – einschließlich der USA – 14 Mitgliedstaaten Vorschläge vorgelegt, sowohl im eigenen Namen als auch im Verbund mit regionalen Gruppierungen, darunter die EU, die WHO-Region Afrika, die Eurasische Wirtschaftsunion und der MERCOSUR. Momentan ist ein sogenannter Prüfungsausschuss damit beschäftigt, die im Zuge der Covid-19-Pandemie beantragten Änderungen an den IGV (2005) zusammenzufassen und einen Abschlussbericht zu erstellen. Dieser soll bis Mitte Januar 2023 vorliegen. Der Bericht des Überprüfungsausschusses wird als Grundlage für die Sitzungen einer künftigen Arbeitsgruppe zu Reformen der IGV (2005) dienen, die sich aus ausgewählten Delegierten der Mitgliedstaaten zusammensetzt. Das letztgenannte Gremium wird den Rechtstext ausarbeiten und den endgültigen Änderungsvorschlag schließlich dem WHO-Generaldirektor vorlegen, der ihn dann mindestens vier Monate vor der Weltgesundheitsversammlung 2024 an alle Mitgliedstaaten weiterleiten soll.
Fallstricke im Blick behalten
Bei beiden Reformprozessen lauern besondere Fallstricke. Im Vergleich zu den Änderungen an den IGV (2005) werden die Verhandlungen über den völlig neuen Pandemievertrag zu hitzigen Auseinandersetzungen führen. Denn für einige der Themen, die darin behandelt werden, gibt es noch keine Vorlage und entsprechend ergebnisoffen sind die Gespräche darüber. So umfasst der One-Health-Ansatz beispielsweise Aspekte des Umweltschutzes, der Lebensmittelsicherheit und der Tiergesundheit, bei denen direkte Überschneidungen mit anderen völkerrechtlichen Regelungen mitbedacht werden müssen. Bislang ist nicht klar, wie diese Überschneidungen adressiert werden sollen. Selbst wenn ein künftiger Pandemievertrag von der Weltgesundheitsversammlung angenommen werden sollte, hängt dessen Erfolg aufgrund der erforderlichen Ratifizierung in den 194 Mitgliedstaaten in hohem Maße von den jeweiligen innenpolitischen Gemengelagen dort ab. Es könnte sehr lange dauern, bis eine nennenswerte Zahl von Staaten ihre entsprechenden nationalen Verfahren abgeschlossen hat.
Gleichzeitig bedeutet das vergleichsweise rationalisierte Verfahren für das Inkrafttreten von Änderungen der IGV (2005) nicht, dass ein Konsens selbstverständlich gegeben ist. Sowohl das Internationale Sanitätsreglement von 1951 als auch die IGV von 1969 wurden von einem Teil der WHO-Mitgliedstaaten abgelehnt oder mit Einwänden bedacht. Bei der Verabschiedung der IGV im Jahr 2005 hingegen äußerten allein Indien und die Vereinigten Staaten Vorbehalte. Aber selbst diese akzeptierten die primären Verpflichtungen, die mit den Vorschriften verknüpft waren. Außerdem wurden Änderungsvorschläge für Vorschriften in der Geschichte der WHO nie so intensiv geprüft wie die von den USA 2022 vorgeschlagenen Revisionen. Dies hängt vermutlich damit zusammen, dass angesichts der katastrophalen Dimension der Covid-19-Pandemie viel auf dem Spiel steht.
Das Debakel der globalen Gesundheitsgerechtigkeit (»Equity«) bei Pandemien
Das vielleicht strittigste Thema nach Ansicht zahlreicher Delegationen bei der WHO, vor allem aus dem Globalen Süden, ist die Frage der Gewährleistung eines gerechten Zugangs zu medizinischen Gegenmaßnahmen während einer Pandemie. Der grassierende »Impfstoff-Nationalismus«, den wir im Zusammenhang mit Covid-19 erlebt haben, wird gerade den Regierungen der genannten Weltregionen wahrscheinlich noch in frischer Erinnerung sein, denn diese mussten darum kämpfen, genügend Impfstoffdosen für ihre eigene Bevölkerung zu beschaffen. Dieses Thema ist jedoch bisher nicht Gegenstand der Diskussion über Änderungen der IGV. Das liegt auch daran, dass sich umfassende Regelungen zu diesem Punkt mit verschiedenen Aspekten befassen müssten, wie zum Beispiel mit der Frage des geistigen Eigentums an medizinischen Gütern oder der Einrichtung von Finanzierungs- und Beschaffungsmechanismen für deren Verteilung. »Equity« in Pandemien steht derzeit im Mittelpunkt der Forderungen mehrerer Länder des Globalen Südens. In dem erwähnten »Conceptual Zero Draft« für den Pandemievertrag werden mit dem Ziel folgende Erwartungen verknüpft: »ein fairer, gerechter und rechtzeitiger Zugang zu erschwinglichen, sicheren und wirksamen Produkten zur Pandemiebekämpfung zwischen und innerhalb von Ländern, auch zwischen Bevölkerungsgruppen, unabhängig von ihrem sozialen oder wirtschaftlichen Status« (Übers. d. Verf.).
Damit diese Bestimmung mehr als nur ein Wunschtraum bleibt, sollte ein neuer Pandemievertrag oder ein anderes Rechtsinstrument die Erkenntnisse berücksichtigen, die sich aus der begrenzten Wirksamkeit des ACT-Accelerators im Allgemeinen und der COVAX-Initiative im Besonderen ergeben. Diese Mechanismen wurden entwickelt, um die globale Verteilung von medizinischen Maßnahmen gegen Covid-19 zu fördern. Beide Instrumente haben ihre Ziele nicht erreicht, die im Falle von COVAX darin bestanden, bis Ende 2021 2 Milliarden Impfdosen zu verteilen. Tatsächlich wurden nur 50 Prozent dieser Menge distribuiert. Die andere Initiative, der ACT-Beschleuniger, der die Verbreitung von diagnostischen und therapeutischen Produkten fördern sollte, blieb noch stärker hinter den Erwartungen zurück. Das Urteil über die Gründe für das Scheitern steht noch aus. Einige Analysen verweisen auf die Gier der Länder des Globalen Nordens bei der Bevorratung medizinischer Güter zum Schutz ihrer eigenen Bevölkerung. In einer von der WHO beauftragten Evaluierung, die im Oktober 2022 vom Unternehmen Open Consultants veröffentlicht wurde, wird unter anderem der überambitionierte Aufbau von COVAX als eine der zentralen Ursachen für den begrenzten Erfolg der Initiative genannt. Der Bericht empfiehlt stattdessen, andere Programme mit einem fokussierteren Anwendungsbereich zu entwickeln. Diese sollten sich auf Länder konzentrieren, die nicht in der Lage sind, kritische medizinische Güter während eines Notfalls selbst zu beschaffen. Rechtsverbindliche Regeln könnten für solch einen Fall sicherstellen, dass sich Staaten unabhängig von den sich ändernden politischen Gegebenheiten dauerhaft zu finanziellen Beiträgen verpflichten.
Politische Hindernisse für die pandemiebezogene Datensammlung beseitigen
Eines der ständigen Probleme beim Auftreten von Pandemien ist die frühzeitige Meldung von Krankheitsereignissen, die das Potential zur Grenzüberschreitung haben. Dies ist eine klassische Herausforderung für Gesundheitsbehörden, da diese Ereignisse an Orten auftreten können, die weit außerhalb ihrer territorialen Zuständigkeit liegen.
Das Thema ist insbesondere für Deutschland von strategischer Bedeutung, denn das WHO-Zentrum für Pandemie- und Epidemieaufklärung (WHO Hub for Pandemic and Epidemic Intelligence, oder kurz: »Pandemic Hub«) befindet sich in Berlin. Da Informationen über Krankheitsausbrüche als globales öffentliches Gut betrachtet werden können, sind internationale Regeln das beste Mittel, um Klarheit über die normative Erwartung an Länder zu schaffen, solche Informationen zeitnah und transparent zu melden.
Die bestehenden IGV (2005) bieten Staaten keine ausgewogenen Anreize zur Übermittlung von Informationen an die internationale Gemeinschaft. Einerseits müssen die Vertragsstaaten gemäß Artikel 6 der IGV (2005) die WHO innerhalb von 24 Stunden nach ihrer Entdeckung über »alle Ereignisse, die in Übereinstimmung mit dem Entscheidungsschema eine gesundheitliche Notlage von internationaler Tragweite in seinem Hoheitsgebiet darstellen können«, informieren. Andererseits will Artikel 43 der IGV (2005) Anreize für solche Meldungen schaffen, indem er Staaten dazu verpflichtet, keine unnötigen Reise- und Handelsbeschränkungen für andere Mitgliedstaaten zu erlassen, sondern die WHO zu benachrichtigen und eine gesundheitspolitische Begründung für die Maßnahmen vorzulegen. In der Praxis geben diese Bestimmungen jedoch seit langem Anlass zur Besorgnis, da die Staaten einen großen Spielraum bei der Festlegung der »Notwendigkeit« solcher Reise- und Handelsbeschränkungen haben. Ein krasses Beispiel dafür war die Mitteilung Südafrikas über die Entdeckung der Omikron-Variante auf seinem Hoheitsgebiet, die unmittelbar zu einer Flut von Reiseverboten aus und in das Land führte. Diese Maßnahmen halten die Staaten davon ab, die WHO und damit die internationale Gemeinschaft bereitwillig über Gesundheitsbedrohungen auf ihrem Territorium zu informieren, die eine grenzüberschreitende Dimension haben könnten.
Genau zu diesem Punkt erklärte der Leiter des Pandemie-Hubs in Berlin, dass die größte Herausforderung beim Sammeln und Verarbeiten von Daten politischer Natur sei, nämlich die mangelnde Bereitschaft der Behörden betroffener Länder, diese zu teilen. Der erstrebenswerte Informationsaustausch könnte sowohl durch einen neuen Pandemievertrag oder ein anderes Rechtsinstrument als auch durch Änderungen der IGV forciert werden. Dabei müsste man gleichzeitig bemüht sein, Überschneidungen und eine Doppelung der Meldepflichten zu vermeiden. Eine erleichterte und vermehrte Meldung von Ereignissen würde der Funktionsfähigkeit des Pandemiezentrums in Berlin zugutekommen. Dieses könnte dann als echter »Knotenpunkt« für die Verarbeitung der Daten agieren, die von den WHO-Mitgliedstaaten gemeldet werden. Gleichzeitig könnte der Pandemie-Hub Staaten dann zusätzliche Anreize für die Übermittlung von Informationen bieten, wenn rechtsverbindliche Regeln deren ordnungsgemäße Verwendung sicherstellen und die souveränen Interessen der Staaten respektieren würden.
Nach Covid-19: das Beste aus dem Völkerrecht machen
Die Weltgesundheitsversammlung hat für den Abschluss eines Pandemievertrags und der IGV-Reformen eine Frist bis Mai 2024 gesetzt. Im jüngsten »Conceptual Zero Draft« zieht sich die Fokussierung auf das Prinzip »Equity« durch mehrere Abschnitte des Entwurfs. Ein großes Hindernis ist derzeit das Fehlen stabiler Finanzierungsverpflichtungen für künftige Initiativen, die an die aus dem ACT-Accelerator gewonnenen Erkenntnisse anknüpfen könnten. Der aktuelle »Conceptual Zero Draft« enthält einen Abschnitt über die nachhaltige und vorhersehbare Finanzierung (»sustainable and predictable financing«), einschließlich der Mittelzuflüsse aus anderen internationalen Mechanismen. Darüber hinaus schließt er auch die Verpflichtung ein, einen »gerechten und rechtzeitigen Zugang« zu medizinischen Gütern zu gewährleisten, die für die Pandemiebekämpfung notwendig sind. Des Weiteren könnte die Maßgabe mit aufgenommen werden, dass die Mitgliedstaaten bei der Erschließung von Finanzmitteln für die Beschaffung und Verteilung kritischer medizinischer Güter bei Pandemien kooperieren – analog zu Artikel 44 IGV (2005), der eine Verpflichtung zur internationalen Zusammenarbeit bei der Stärkung der »Kapazitäten zum Schutz der öffentlichen Gesundheit« vorsieht.
Die Weltbank hat kürzlich einen Mechanismus zur finanziellen Unterstützung entwickelt, der über die WHO hinausreicht, nämlich den »Financial Intermediary Fund (FIF) for Pandemic Prevention, Preparedness and Response (PPR)«. Mit einem Beitrag von 68,5 Millionen Euro gehört Deutschland zu den Gründungsmitgliedern des Fonds, von denen jeweils ein Vertreter einen Sitz im Verwaltungsrat des FIF PPR einnimmt. Bislang sind die Beiträge der Weltbank-Mitgliedstaaten zu diesem FIF jedoch freiwillig. Ein Pandemievertrag oder IGV, die entsprechende Kooperationsverpflichtungen auferlegen, könnten künftig einen stabilen Finanzierungsstrom gewährleisten. Letztlich liegt es sowohl im Interesse Deutschlands als auch der EU sicherzustellen, dass ihre Investitionen langfristig Früchte tragen. Zu diesem Zweck könnte die Fixierung internationaler Normen im Vertrag oder in den IGV mehr Stabilität bei der Bekämpfung globaler Gesundheitskrisen herstellen. Da die Bundesregierung bereits eine wichtige Geberin bei mehreren globalen Gesundheitsinitiativen ist, könnte sie ihre Position nutzen, um mit anderen Ländern längerfristige finanzielle Verpflichtungen auszuhandeln, die ihren jeweiligen Kapazitäten entsprechen. Die rechtliche Ausgestaltung dieser Verpflichtungen könnte der des Rahmenübereinkommens der Vereinten Nationen über Klimaänderungen (UNFCCC) und den damit verbundenen Instrumenten und Protokollen ähneln.
Die Frage des Informations- und Datenaustauschs im Zusammenhang mit Krankheitsausbrüchen in einer Region dürfte wiederum größtenteils in den Anwendungsbereich der Artikel 6 und 7 der IGV (2005) fallen. In Anbetracht der Tatsache, dass die reformierten IGV höchstwahrscheinlich zumindest anfangs eine größere Anzahl von Vertragsstaaten haben werden als der Pandemievertrag, wird der primäre Informationsaustausch auch weiterhin auf der Basis der IGV erfolgen. Folglich muss es eine Priorität sein, die Einhaltung der Verpflichtungen zum Informationsaustausch im Rahmen der IGV (2005) besser zu überwachen. Dies würde unmittelbar der Funktionsfähigkeit des WHO-Hubs in Berlin zugutekommen. Gleichzeitig enthält der »Conceptual Zero Draft« die Aussage, dass man die »Solidarität mit den Ländern«, die Public-Health-Notfälle melden, fördern wolle, ohne dass präzisiert würde, wie eine solche Solidarität ausgestaltet und bewahrt werden könnte. Genau dieser Aspekt könnte im Kontext der Meldepflichten der IGV (2005) berücksichtigt werden, nämlich mit Blick auf solche Fälle, in denen die benachrichtigenden Staaten mit unverhältnismäßigen Reaktionen anderer Länder konfrontiert werden.
Ausblick
Deutschland sollte darauf drängen, die Synergien zwischen den beiden laufenden Prozessen der Pandemiegesetzgebung bei der WHO stärker auszuschöpfen. Folgende Aspekte sollten dabei im Vordergrund stehen:
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Verknüpfung des Konzepts der »Equity« im Pandemievertrag mit den während der Covid-19-Pandemie gewonnenen Erkenntnissen zu den Unzulänglichkeiten des ACT-Accelerators im Allgemeinen und der COVAX-Initiative im Besonderen.
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Nutzung sowohl der IGV (2005) als auch des Pandemievertrags zur Sicherstellung des Datenaustauschs für den Pandemie-Hub mit Sitz in Berlin. Internationale Regeln sind geeignet, die politischen Hindernisse, die einem transparenteren Austausch pandemiebezogener Informationen entgegenstehen, abzubauen. Es sollten Anreize gesetzt werden, um die Bereitschaft der Staaten zum Datentransfer zu erhöhen. Denkbar ist zum Beispiel die Gewährung eines sofortigen Zugangs zu Finanzierungsmechanismen, wenn sie Ausbrüche in ihrem Gebiet melden.
Dr. Pedro Alejandro Villarreal Lizárraga ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Globale Fragen. Er arbeitet im Projekt »Die globale und europäische Gesundheitsgovernance in der Krise«, das vom Bundesministerium für Gesundheit (BMG) gefördert wird.
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DOI: 10.18449/2022A77