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Was die Aussicht auf einen längeren Krieg für Russland, die Ukraine und Belarus bedeutet

360 Grad, 20.02.2023 Forschungsgebiete

Ein Jahr nach dem massiven Angriff auf die Ukraine hält der Kreml an seinen Maximalzielen fest, eine Verhandlungslösung ist nicht in Sicht. Wie sich ein längerer Krieg auf Russland, die Ukraine und Belarus auswirken kann, wird in diesem 360 Grad analysiert. Die Koordination hat Margarete Klein übernommen.

Warum ein langjähriger Krieg wahrscheinlich ist

Russland ist derzeit weit davon entfernt, seine erklärten Kriegsziele in der Ukraine zu erreichen. Dabei geht es nicht nur um die Einnahme der völkerrechtswidrig von Russland annektierten, aber ukrainisch kontrollierten Gebiete. Der Kreml ist nach wie vor entschlossen, Kyjiw zu kontrollieren, denn er kann keinesfalls hinnehmen, dass die Ukraine unabhängig bleibt, sich wirtschaftlich erholt und gegen die existenzielle Gefahr aus Russland wappnet. Da eine Eroberung jedoch gegenwärtig Russlands militärische Möglichkeiten übersteigt, versucht der Kreml die Ukraine durch Terror gegen die Zivilbevölkerung zu destabilisieren. Zugleich arbeitet er weiter darauf hin, die wirtschaftliche und militärische Unterstützung des Westens für die Ukraine zu stoppen. Bislang haben beide Strategien aber nicht zum erhofften Erfolg geführt.

Innenpolitisch ist eine Fortführung des Krieges noch nicht bedrohlich für das russische Regime, trotz der immensen menschlichen und wirtschaftlichen Opfer. Momentan erscheint ein Weitermachen weniger riskant als ein Waffenstillstand vor Erreichen der Kriegsziele. Russland verfügt über genug Ressourcen, um jahrelang Angriffe auf die Ukraine zu lancieren. Und die angebliche Bedrohung von außen liefert dem Regime Vorwände dafür, die Fortsetzung von Putins Herrschaft zu legitimieren. Gleichzeitig ermöglicht die politische Ausnahmesituation noch einmal deutlich härtere Repressionen.

Angesichts der russischen Kriegsziele bleibt der Ukraine keine andere Wahl, als sich weiter zu verteidigen. Die Kyjiwer Regierung macht sich wenig Illusionen über einen Verhandlungsfrieden mit Putin. In Butscha und anderen ehemals besetzten Gebieten ist offenkundig geworden, was ein Kollaps der eigenen Abwehr für die ukrainische Bevölkerung bedeuten würde. Zudem hat die ukrainische Armee immer wieder gezeigt, dass sie die russischen Angreifer zurückdrängen kann.

Schließlich ist die erfolgreiche Selbstverteidigung der Ukraine auch für den Westen unverzichtbar geworden. Eine drohende ukrainische Niederlage könnte sowohl Nato als auch EU in eine tiefe Krise stürzen. Auch wenn die US-Wahlen 2024 ein Unsicherheitsfaktor sind, zeichnet sich nicht ab, dass die westliche Rückendeckung für die Ukraine bröckelt. Zum einen sind die tatsächlichen Kosten dieser Unterstützung im Verhältnis zur Größe der westlichen Volkswirtschaften gering. Zum anderen ist die Solidarität für die Ukraine in den meisten Gesellschaften des Westens noch immer groß.

Russlands Streitkräfte im Krieg: Personalaufwuchs, Proxys und Eskalationsdrohung

Russlands Führung bereitet die Streitkräfte auf einen längeren Krieg in der Ukraine vor. Die Teilmobilmachung von September 2022 diente noch dazu, die hohen Personalverluste der eigenen Armee auszugleichen, weitere Rückschläge wie in Cherson zu vermeiden und Fähigkeiten für eine neue Offensive aufzubauen. Dagegen verweisen die Vorschläge, die Verteidigungsminister Sergej Schojgu am 21. Dezember 2022 vorlegte, auf einen längeren Zeithorizont. So soll die Nominalstärke der Streitkräfte auf 1,5 Millionen Soldaten anwachsen und die Zahl der Zeitsoldaten auf 695.000 steigen; zudem sollen zwei Divisionen auf okkupiertem ukrainischen Gebiet neu geschaffen und sieben Brigaden in Russland zu Divisionen umgewandelt werden. Parallel sieht die Budgetplanung für 2023 eine massive Erhöhung der Verteidigungsausgaben vor.

Der Personalaufwuchs der Streitkräfte wird sich nur mit staatlichem Druck umsetzen lassen. Bereits jetzt sind fast alle Rückstellungsgründe für den Wehrdienst gestrichen, die Altersgrenze für Einberufungen soll auf dreißig Jahre steigen. Darüber hinaus wird über eine Ausweitung der Wehrpflicht und eine zweite Mobilisierungswelle diskutiert. Russlands Streitkräfte kehren damit zum traditionellen Konzept von Masse zurück; zugleich werden sie an Einsatzerfahrung gewinnen.

Je mehr der Krieg sich zur Abnutzungsschlacht entwickelt, desto größer dürfte die Rolle formal nichtstaatlicher „Proxys“ – wie der Söldnergruppe „Wagner“ – werden. Sie liefern Kanonenfutter, ohne dass dem Kreml innenpolitische Kosten wie bei gefallenen Soldaten entstehen. Für politische Unternehmer wie Jewgenij Prigoschin, den Finanzier von „Wagner“, bietet der Krieg eine Chance, wirtschaftliche Gewinne mit politischem Prestigezuwachs zu kombinieren. Das Verhältnis zwischen Proxys und regulären Streitkräften dürfte daher neben Kooperation künftig verstärkt auch durch Wettbewerb geprägt sein.

Für Russlands Kriegsführung gegen die Ukraine ist aus zweierlei Gründen eine weitere Brutalisierung zu erwarten. Solange der angestrebte Personalaufwuchs nicht realisiert ist, werden die Streitkräfte verstärkt auf Schläge gegen zivile Infrastruktur und Wohngebiete als Teil der Zermürbungsstrategie setzen. Zugleich gehören Menschenrechtsverletzungen zum bewusst geförderten Image von „Wagner“; die Rekrutierungspraxis – etwa in Gefängnissen – tut ein Übriges.

Gegenüber dem Westen wird Moskau gezielt mit der Angst spielen, der Krieg könnte über die Ukraine hinaus eskalieren. Hier geht es insbesondere darum, von der Lieferung moderner Rüstungsgüter an Kyjiw abzuschrecken. Neben nuklearen Drohungen dürfte der Kreml bewusst auf Spillover-Effekte durch Migration und Terrorismus aus Krisenregionen setzen, in denen „Wagner“ an Bedeutung gewinnt – dies sind vor allem Nordafrika und der Sahel.

»Projekt 2024« – Die russische Präsidentschaftswahl im Schatten des Krieges

Russland ist weit davon entfernt, seine militärischen Ziele in der Ukraine zu erreichen. Derweil wachsen die innenpolitischen Herausforderungen für das Regime. Am 17. März 2024 stehen Präsidentschaftswahlen an – viele Entwicklungen der letzten Jahre müssen in diesem Licht gesehen werden. Die bedeutendste war die Verabschiedung einer neuen Verfassung 2020, die Putin den Weg für bis zu zwölf weitere Jahre im Kreml ebnete. Nach der Verfassung von 1993 wäre 2023 sein letztes Regierungsjahr.

Vergangenen Herbst verschob der Kreml einige wichtige öffentliche Auftritte des Präsidenten, wahrscheinlich aus Unsicherheit über die Entwicklungen. Nun ist die jährliche Ansprache vor der Föderalversammlung für den 21. Februar angekündigt, dem Jahrestag der „Anerkennung“ der „Volksrepubliken Donezk und Luhansk“. Putin hat am Silvesterabend den Ton vorgegeben: durchhalten, opferbereit sein, an den Führer glauben.

Putin verfügt über wenig Spielraum. Nicht zur Wahl anzutreten kann er sich kaum leisten – ein solches Zeichen der Schwäche könnte Kritik an seiner Kriegsführung aufflammen lassen und ihm innenpolitisch gefährlich werden. Ähnliches gilt für eine Verschiebung der Wahl. Dass es dazu kommt, ist nicht vollständig auszuschließen. Aber der Kreml wird diesen Schritt zu vermeiden suchen, um nicht eingestehen zu müssen, dass man die militärische Situation in der Ukraine nicht unter Kontrolle hat. Ein „schneller Sieg“ hätte für die Wahl 2024 genutzt werden können, der anhaltende Krieg hingegen ist eine schwere Hypothek. Die Regionalwahlen am 10. September 2023 gelten als Lackmustest für das „Projekt 2024“ des Kremls. Alles deutet im Moment darauf hin, dass die innenpolitischen Strategen von einem „Wahlkampf in Kriegszeiten“ ausgehen.

Die russische Gesellschaft bleibt unterdessen atomisiert und apathisch. Viele politisch Aktive haben das Land verlassen, weitere Abwanderungswellen werden folgen. Russland ist seit dem 24. Februar 2022 eine Diktatur mit faschistischen und totalitären Tendenzen. Veränderungen von unten sind unter solchen Bedingungen nicht zu erwarten. Putin war zuletzt gezwungen, Personalwechsel in den Kommandostrukturen der Streitkräfte vorzunehmen und Jewgenij Prigoschin, Finanzier der Söldnergruppe „Wagner“, in die Schranken zu weisen. Noch scheint er dazu ohne größere Widerstände in der Lage. Absetzbewegungen auf der Ebene der Eliten könnten Räume für gesellschaftlichen Protest schaffen; sehr wahrscheinlich ist das 2023 aber nicht. Weiterhin hängt alles vom Verlauf des Krieges ab. Militärische Erfolge der Ukraine könnten Wandel in Russland beschleunigen.

Je länger der Krieg dauert, umso schwerer wiegen die Sanktionen

Russlands Wirtschaft ist im Jahr 2022 weniger stark eingebrochen als in den ersten Prognosen erwartet. Zwar fiel das Bruttoinlandsprodukt (BIP) während der ersten Monate der Sanktionen um 6 Prozent, erholte sich aber in der Folge leicht und lag im Dezember nur noch 5 Prozent unter dem Vorjahresniveau. Ein wichtiger Faktor dabei war die boomende Rüstungsindustrie. Dazu kamen die wachsenden Ölexporte, die bis zum Inkrafttreten des EU-Embargos im Dezember 2022 kaum direkt von Sanktionen betroffen waren. Die eingenommenen Devisen halfen Russland, die Wirkung der Sanktionen abzufedern. Russische Unternehmen gaben dieses Geld vor allem in China aus, dessen Exporte nach Russland zuletzt merklich gestiegen sind.

Dennoch wird immer offensichtlicher, dass der Krieg gegen die Ukraine viele Ressourcen verschlingt. Ende 2022 verkündete der russische Staatspräsident Wladimir Putin, es gebe keinerlei Einschränkung für die Finanzierung der Armee. Der russische Staatshaushalt bestätigt das, denn im Jahr 2022 wurden statt der geplanten 23,7 Billionen insgesamt 31,1 Billionen Rubel ausgegeben. Dem standen indes gestiegene Einnahmen gegenüber. Große Sondergewinne brachten vor allem die hohen Gaspreise in Europa, die der Energiekonzern Gazprom durch die Drosselung seiner Lieferungen selbst verursacht hatte. So blieb das russische Defizit auf 2,3 Prozent des BIP begrenzt.

Inzwischen hat sich das Blatt gewendet. Die Gaseinnahmen aus Europa sind größtenteils versiegt. Das Ölembargo zwingt Russland, sein Öl zu erheblich niedrigeren Preisen zu verkaufen. Im Haushalt klafft deshalb eine große Lücke. Bisher jedoch sind die Defizite für den Kreml nicht bedrohlich, denn das Finanzministerium könnte mit Hilfe des Wohlfahrtsfonds und neuer Staatsanleihen auch weit größere Fehlbeträge für zwei bis drei Jahre verkraften. Als letzter Ausweg bliebe das Gelddrucken, das den Haushalt noch etwas länger über Wasser halten könnte. Sollte allerdings auch Russlands Handelsbilanz in ein Defizit kippen, drohen Rubelentwertung und hohe Inflation.

Die Sanktionen können also nicht verhindern, dass Russland seinen Krieg gegen die Ukraine fortsetzt, erschweren aber die Kriegsführung. Noch trägt das stabile makroökonomische Gerüst, das Putins Technokraten in den vergangenen zwanzig Jahren errichtet haben. Doch erste Risse sind erkennbar. Mit jedem Kriegsjahr wird es der russischen Führung schwerer fallen, die notwendigen Ressourcen für weitere Angriffe aufzutreiben. Langfristig ist das Regime gezwungen, seine Kriegsausgaben zu verringern, damit die wirtschaftlichen Probleme nicht in Instabilität münden.

  • Sebastian Hoppe

Russlands Regionen als Stützen der Kriegswirtschaft

Der Einmarsch in die Ukraine traf die russischen Regionen unvorbereitet. Mittlerweile jedoch sind die Föderationssubjekte zu wichtigen Stützen der Kriegsanstrengungen geworden. Regionale Administrationen sind unmittelbar darin involviert, Soldaten zu mobilisieren, zivile wie militärische Güter für die Armee zu organisieren und die Kriegswirtschaft zu optimieren. Je länger der bewaffnete Konflikt andauert, desto mehr werden sich die dem Krieg entsprungenen Ad-hoc-Maßnahmen zu einem institutionellen Gefüge verfestigen. Schon jetzt hat die Zentralregierung neue Gesetze erlassen, die es erlauben, „besondere Maßnahmen“ in den Regionen anzuwenden.

Neue Gremien zeichnen vor, wie sich die Beziehungen zwischen dem Kreml und den Föderationssubjekten künftig entwickeln dürften. Dazu gehört der am 21. Oktober 2022 von Präsident Wladimir Putin geschaffene und von Ministerpräsident Michail Mischustin geführte Militärrat, der die föderalen und regionalen Aktivitäten zur Unterstützung des Krieges koordinieren soll. Zu erwarten sind mehr zentrale Kontrolle sowie direkte Eingriffe in regionale Wirtschaftskreisläufe. Die föderale Aufsicht über die regionale Logistik des Krieges wird zunehmend institutionalisiert. Zusammen mit dem umfänglichen Sanktionsregime des Westens wird dies den Fokus der Regionalverwaltungen nachhaltig verschieben: weg von ziviler Entwicklung auf infrastrukturellem und sozioökonomischem Gebiet, hin zur Produktion für den militärischen Bedarf und zur repressiven Sicherstellung politischer Stabilität. Davon könnten Regionen mit kriegsdienlichen Produktionskapazitäten und Rohstoffsektoren durchaus profitieren. Allerdings leiden viele Firmen unter sanktionsbedingten Verlusten, die sich auch durch eine tiefere Integration in die Kriegswirtschaft nicht kompensieren lassen.

Die vier ukrainischen Territorien Luhansk, Donezk, Saporischschja und Cherson, deren Annexion der Kreml proklamiert hat, werden mittlerweile (wie die 2014 annektierte Halbinsel Krim) als reguläre russische Regionen behandelt. Deshalb ist immer mehr bürokratisches Personal auch aus entfernteren Regionen Russlands durch „Arbeitsbesuche“ darin eingebunden, das beanspruchte Gebiet zu verwalten und die Kriegsanstrengungen zu unterstützen. Im Ergebnis werden Tausende Beamtinnen und Beamte und ihre Familien mit der Realität des russischen Besatzungsregimes in Berührung kommen. Sollte Moskau diese Territorien langfristig halten können, wird dies auch zur sukzessiven Normalisierung der Besatzung in den regionalen Verwaltungen und Gesellschaften führen.

Die westliche Politik hat so gut wie keine Möglichkeiten, Einfluss auf die innerrussischen Neujustierungen im Verhältnis zwischen Moskau und den Regionen zu nehmen. Solange der Krieg und damit die westlichen Sanktionen anhalten, werden die russischen Regionen in die sich zunehmend konsolidierende Kriegswirtschaft des Landes integriert sein.

Konsolidierung und Trauma in der ukrainischen Gesellschaft

Der Krieg hat die ukrainische Gesellschaft zusammengeschweißt. Umfragen zeigen, dass die überwiegende Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger an einen ukrainischen Sieg glaubt und für ihn arbeitet. Sie helfen bei der Ausstattung der Streitkräfte, organisieren Wohnraum für Binnenflüchtlinge, verteilen humanitäre Hilfsgüter. Dies passiert oft spontan, auf informeller Ebene und nicht unbedingt in etablierten zivilgesellschaftlichen Strukturen. Die allermeisten identifizieren sich stark mit dem ukrainischen Staat und sind stolz darauf, Ukrainer und Ukrainerinnen zu sein.

Dennoch geht mit dem Krieg eine Reihe von gesellschaftlichen Problemen einher, die sich mit der Zeit verschärfen werden. Viele Bürgerinnen und Bürger sind durch ihre Kriegserfahrungen traumatisiert. Zudem wird die Polarisierung zunehmen: zwischen jenen, die in von Russland besetzten Gebieten leben, und denen, die auf dem Territorium leben, das die Ukraine kontrolliert. Ebenso schwierig ist die Frage, wie mit den Personen umgegangen werden soll, die die russische Besatzungsmacht unterstützt haben bzw. unterstützen und als Kollaborateure angesehen werden. Die Grenze zwischen erzwungener und freiwilliger Kollaboration ist oft fließend.

Darüber hinaus gibt es weitere Bruchlinien zwischen denjenigen, die in ihren Wohnorten geblieben, und denjenigen, die geflohen sind, aber wieder zurückkommen. Mit der Flucht verbunden sind auch demografische Probleme, da viele gut ausgebildete Frauen mit ihren Kindern ins Ausland gegangen sind. Es wird nicht nur weniger Ukrainer und Ukrainerinnen geben, die in ihrem Staat leben, sondern auch Verzerrungen hinsichtlich Geschlecht, Alter und Bildungsstand.

Das alles sind Kontextfaktoren, die Deutschland und andere Staaten berücksichtigen müssen, wenn es um die weitere Unterstützung und den Wiederaufbau der Ukraine geht sowie um die notwendigen Reformen für ihren Beitritt zur Europäischen Union. Einerseits treffen sie auf eine hoch motivierte Gesellschaft mit erheblichen Kapazitäten, andererseits auf eine traumatisierte Gesellschaft, in der die demografischen Gegebenheiten sich ändern und neue Bruchstellen entstehen. Daher sollten Hilfsmaßnahmen für das Land die Bereiche soziale Kohäsion und psychische Gesundheit miteinschließen. Die Menschen im Westen können aber auch von der Aufopferungsbereitschaft der ukrainischen Bevölkerung lernen, die sich für ihre Werte einsetzt und einen ständigen Beitrag zum Aufbau eines wehrhaften Staates leistet. Selbst bei einem längeren Krieg ist davon auszugehen, dass die Unterstützung der Gesellschaft für den Staat und seine Streitkräfte nicht nachlassen wird.

Risiken der »neuen Normalität« ukrainischer Innenpolitik für die Demokratie im Land

Die Ukraine erzielte im ersten Kriegsjahr beachtliche Erfolge im Kampf gegen die russische Invasion. Dabei haben auch politische Institutionen, Verwaltung und Wirtschaftssubjekte Resilienz bewiesen. Dennoch beeinflussen Abwehrkampf und Kriegsrecht die innenpolitischen Verhältnisse. So hat sich im politischen System ein Trend zur Dominanz der Exekutive verstärkt, den Präsident Selenskyj schon vor dem russischen Einmarsch angestoßen hatte. Zwar kommt das Parlament seiner Funktion als Gesetzgeber nach, fasst aber Beschlüsse unter hohem Zeitdruck und tritt kaum noch als Kontrolleur der Regierung auf. Die parlamentarische Opposition schrumpfte, da prorussische Parteien sich auflösten oder verboten wurden. Alte Führungsfiguren wie Ex-Präsident Poroschenko haben viel an medialer Präsenz und gesellschaftlicher Bedeutung eingebüßt. Zudem hält sich das Gros des politischen Spektrums an die kurz vor dem russischen Angriff getroffene Vereinbarung, den ukrainischen Präsidenten im Kriegsfall zu unterstützen.

Sichtbares Zeichen für das wachsende Machtungleichgewicht zugunsten des Präsidenten ist, dass dieser den öffentlichen Raum und – seit Bündelung der wichtigsten TV-Kanäle im sogenannten Telemarathon – vor allem die Fernsehberichterstattung dominiert. An der Sollbruchstelle des politischen Systems, der Beziehung zwischen Zentrum und Regionen, wirken sich die schwindenden Ressourcen und das häufige Durchgreifen des Zentrums mittels Militärverwaltungen aus. Viele Bürgermeister befürchten, dass die Regierung den Moment ihrer Schwäche nutzen könnte, um die Ergebnisse der Dezentralisierung rückgängig zu machen. Im Schatten des Krieges spielt das große, 2014 vereinbarte Reformprogramm kaum noch eine Rolle, und die Korruption bleibt eine große Herausforderung. Der Nationale Wiederaufbauplan der Regierung, aber auch die avisierte tiefgreifende Verschlankung des Staatsapparates offenbaren, dass Präsident Selenskyj unverändert in machtpolitischen und populistischen Kategorien denkt. Seine Vision der ukrainischen Demokratie bleibt unklar.

Dauert der Krieg fort, wird dies einschneidende Folgen haben. Solange das Kriegsrecht gilt, werden keine Wahlen in der Ukraine stattfinden. Da der Krieg für die Ukrainer nach wie vor ein Kampf um die nationale Existenz ist, wird die Sonderrolle des Präsidenten weiter hohe Legitimität genießen. Interne Kritik wird vermutlich selten bleiben. Aus diesen Gründen besteht selbst ohne Zutun interessierter Akteure die Gefahr, dass die Demokratisierung Rückschläge erleidet und die Bevölkerung sich an die innenpolitischen Verwerfungen infolge des Kriegszustands gewöhnt. Ohne Druck von außen wird das die Umsetzung von Reformen beeinträchtigen, auch mit Blick auf einen möglichen EU-Beitrittsprozess.

Belarus: Bedrohte Souveränität

Russlands Angriff auf die Ukraine machte Belarus zum Co-Aggressor, weil das Land den russischen Streitkräften als Aufmarschgebiet diente. EU und USA verschärften daraufhin ihre Sanktionen gegen das Regime von Dauerherrscher Alexander Lukaschenka. Zudem verlor Belarus schlagartig den wichtigen ukrainischen Absatzmarkt, der bis dahin zum Ausgleich des traditionellen Handelsdefizits gegenüber Russland beigetragen hatte. Der Krieg verstärkte damit Lukaschenkas Abhängigkeit von Putin, der ihn 2020 während der Massenproteste gegen die gefälschten Präsidentschaftswahlen unterstützt und ihm so das politische Überleben gesichert hatte. Die nationale Souveränität von Belarus schien nur noch auf dem Papier zu bestehen.

Ein Jahr nach Kriegsbeginn wirkt Lukaschenkas Regime deutlich gefestigter. Der Rückgang des Bruttoinlandsprodukts ist mit offiziell 4,7 Prozent geringer als erwartet. Lukaschenka kontrolliert vollständig die innenpolitische Situation und treibt erfolgreich den Umbau des politischen Systems voran, der mit dem Verfassungsreferendum vom 27. Februar 2022 begann. Die fragile Stabilisierung verdankt sich insbesondere zwei Umständen. Erstens vermied Lukaschenka eine direkte Beteiligung seiner Armee an den Kampfhandlungen – und damit zumindest zeitweilig die Verhängung neuer westlicher Sanktionen. Gleichzeitig benötigt Moskau belarussische Unterstützung, etwa bei der Rekrutenausbildung, der Reparatur von Militärtechnik oder der Produktion technischer Güter, die der Westen nicht mehr liefert. Durch die fortgesetzte Präsenz des ukrainischen Botschafters in Minsk wahrte Lukaschenka zudem Chancen auf eine Vermittlerrolle.

Ein langanhaltender Stellungskrieg wäre für sein Regime ein durchaus vorteilhaftes Szenario. Die Aufmerksamkeit des Westens bliebe von der wachsenden Repression in Belarus abgelenkt, womit sich die 2024 anstehenden Parlaments- und Kommunalwahlen leichter kontrollieren ließen. Ein langer Krieg dürfte zudem Putins Machtstellung in Russland schwächen. Lukaschenka könnte gegenüber einem etwaigen Nachfolger im Kreml wieder selbstbewusster auftreten und weiter von der geopolitischen Ost-West-Konfrontation profitieren.

Je erfolgreicher die Ukraine militärisch ist, desto schwieriger wird die Situation für Lukaschenka. Denn Moskau könnte ihn doch noch zur aktiven Kriegsbeteiligung zwingen oder den Anschluss von Belarus an Russland als Kompensation für eine drohende Niederlage anstreben. Ein russischer Sieg hingegen würde Lukaschenka vollends der Willkür des Kremls ausliefern. Auch das derzeit unwahrscheinliche Szenario, dass Russland, die Ukraine und der Westen den Krieg durch Verhandlungen beenden, wäre für den ausgeschlossenen Lukaschenka von Nachteil. Denn der westliche Sanktionsdruck auf sein Regime bliebe bestehen. Nützen würde dies vor allem Russland, nicht aber der belarussischen Gesellschaft.

Zitiervorschlag

Zitiervorschlag 360 Grad gesamt:

Margarete Klein (Koord.), Was die Aussicht auf einen längeren Krieg für Russland, die Ukraine und Belarus bedeutet, Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, 20.02.2023 (360 Grad)

Zitiervorschlag einzelner 360 Grad-Beitrag:

Janis Kluge, „Warum ein langjähriger Krieg wahrscheinlich ist“, in: Margarete Klein (Koord.), Was die Aussicht auf einen längeren Krieg für Russland, die Ukraine und Belarus bedeutet, Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, 20.02.2023 (360 Grad)