Die sogenannte Finnlandisierung als Lösungsansatz für die Situation der Ukraine ist fehlgeleitet in vielen Punkten. Nicht zuletzt, weil sie gegen alle Prinzipien der KSZE-Schlussakte verstößt, meint Minna Ålander.
Am vergangenen Mittwoch verhandelte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron stundenlang mit seinem russischen Amtskollegen Wladimir Putin. Ein Journalist, der ihn begleitet hatte, berichtete über das Treffen und erwähnte, der französische Präsident habe die »Finnlandisierung« der Ukraine als eine Option bezeichnet. Später bestritt Macron, den Begriff genutzt zu haben – es war aber zu spät: Die Idee machte bereits Schlagzeilen.
Die aktuell durch die Medien zirkulierenden Definitionen setzen den Begriff häufig mit genereller Bündnisneutralität gleich. Sie würde aber nicht nur einen Verzicht auf die Nato-Mitgliedschaft bedeuten. Eine Finnlandisierung als Lösungsansatz für die Situation der Ukraine ist deshalb fehlgeleitet in vielen Punkten.
Als Finnlandisierung wird eine politische Kultur bezeichnet, die in Finnland während des Kalten Krieges vorherrschte, als das Land die Interessen der benachbarten Sowjetunion sowohl außen- als auch innenpolitisch gewissermaßen freiwillig berücksichtigte. Sie ging deutlich über eine reine Neutralitätspolitik hinaus, so wie sie beispielsweise Schweden verfolgt, und entwickelte sich als eine Überlebensstrategie neben einem übermächtigen Nachbarn. Es war das kleinere Übel zum Verlust jeglicher Souveränität als Teil der Sowjetunion. Der finnisch-sowjetische Freundschaftsvertrag von 1948 war zwar nicht eine vertragliche Grundlage, die Finnland zur Berücksichtigung der sowjetischen Interessen verpflichtete. Er hatte aber insbesondere in den sechziger und siebziger Jahren eine starke symbolische Funktion in der Finnlandisierungsrhetorik, in der die finnisch-sowjetische Freundschaft stets beschworen wurde.
Aufgrund der eigentümlichen Rhetorik und der politischen Alternativlosigkeit hatte die Finnlandisierung Auswirkungen auf viele Bereiche der Politik und des gesellschaftlichen Lebens. Wenn Finnland Handel mit dem Westen betrieb, durfte der sogenannte »Osthandel« nicht darunter leiden, die Sowjetunion dadurch nicht benachteiligt werden. Eine Westintegration war für Finnland sowohl politisch als auch militärisch bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion unmöglich. Nur die Mitgliedschaft in der Europäischen Freihandelsassoziation EFTA wurde von der Sowjetunion toleriert. Der »Osthandel« war ein lukratives Geschäft, in dem viele politische Akteure wirtschaftliche Interessen hatten. Der Zugang zur politischen Macht hing weitgehend davon ab, wie gut man in Moskau gestellt war. Der Zusammenbruch der Sowjetunion und somit des finnischen »Osthandels« trug in Finnland Anfang der neunziger Jahre zu der schlimmsten Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit bei.
Eine innenpolitische Folge der Finnlandisierung war die starke Konzentration der Macht auf die Person des Präsidenten Urho Kekkonen. Er galt aufgrund seiner guten Beziehungen zur Sowjetführung als unentbehrlich für den Erhalt der finnischen Unabhängigkeit und war ab 1956 für mehr als 25 Jahre Staatspräsident. Kekkonen profitierte von der Finnlandisierung und verfestigte sie als eine unangefochtene außenpolitische Linie. Der gesellschaftliche Konsens über die Notwendigkeit der Finnlandisierung führte zu einer weitgehenden medialen und literarischen Selbstzensur, in der kritische Aussagen gegenüber der Sowjetunion vermieden wurden. Deshalb ist der Begriff in Finnland stark negativ konnotiert.
Finnlandisierung ist also kein Konzept, das Orientierung außerhalb des Kontextes des Kalten Krieges bieten kann. Darüber hinaus gibt es aber einen weiteren, noch dringlicheren Grund, warum sie für die Ukraine nicht in Frage kommt: Eine Finnlandisierung der Ukraine würde gegen alle Prinzipien der Schlussakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) stoßen, die 1975 in Helsinki unterzeichnet wurde und die Basis für die Sicherheitsordnung in Europa bildet. Es war kein Zufall, dass sich Finnland damals als Gastgeber anbot: Dem Land war dringlich daran gelegen, dass auch die Sowjetunion Prinzipien wie die Achtung der souveränen Gleichheit aller Teilnehmerstaaten, Enthaltung von der Androhung oder Anwendung von Gewalt, Unverletzlichkeit der Grenzen und territoriale Integrität sowie die Gleichberechtigung und das Selbstbestimmungsrecht der Völker anerkennt. Obwohl die Schlussakte keinen verbindlichen Vertragscharakter hatte, bilden die darin enthaltenen Prinzipien die Grundlage für die aus der KSZE entstandenen Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE).
In einer Zeit, in der der Handlungsspielraum Finnlands zwischen den Fronten des Kalten Krieges stark eingeschränkt war, ermöglichte die Finnlandisierung das Fortbestehen seiner staatlichen Souveränität. Mit dem Ende des Kalten Krieges endete auch die Zeit der Finnlandisierung und Finnland schloss sich der europäischen Integration an. Das Wiederbeleben des Begriffs in Bezug auf die Ukraine ist fehlgeleitet, weil Finnlandisierung nicht außerhalb des historischen Kontextes universell anwendbar ist. Für die Ukraine würde eine hieran orientierte Linie starke Einschränkungen in unvorhersehbarem Ausmaß mit Blick auf ihre innen- und außenpolitische Unabhängigkeit bedeuten. Vor allem aber lenkt der Begriff aus dem Kalten Krieg von der Tatsache ab, dass die Ukraine ein unabhängiger Staat ist, dessen Souveränität völkerrechtlich zweifelsfrei feststeht.
Sicherheitsvereinbarungen und Rüstungskontrolle müssen wiederbelebt werden
doi:10.18449/2022A11
Moskau fordert Rücksicht auf seine Sicherheitsinteressen, aber Helsinki und Stockholm erinnern an ihre freie Bündniswahl. Die Drohpolitik ist kontraproduktiv. Der Westen sollte das Momentum für neue Initiativen nutzen, meint Michael Paul.
Finnland und Schweden auf der Suche nach einer neuen Sicherheitsstrategie