Die wirtschaftliche Lage im Westbalkan ist verheerend, die EU-Beitrittsperspektive nur noch wenig glaubwürdig. Die Teilnehmer der Westbalkan-Konferenz Ende August sollten daher Investitionsprogramme beschließen, anstatt erneut nur Worthülsen zu verbreiten, meint Dušan Reljić.
Kurz gesagt, 20.08.2015 ForschungsgebieteDie wirtschaftliche Lage im Westbalkan ist verheerend, die EU-Beitrittsperspektive nur noch wenig glaubwürdig. Die Teilnehmer der Westbalkan-Konferenz Ende August sollten daher Investitionsprogramme beschließen, anstatt erneut nur Worthülsen zu verbreiten, meint Dušan Reljić.
Immer hohler klingen die Beteuerungen der Regierenden im Westbalkan von der EU-Beitrittsperspektive ihrer Länder; die Brüsseler Bürokratie und Politiker der EU-Mitgliedsländer stimmen unbeirrt ein. Auch bei der zweiten Westbalkan-Konferenz am 27. August in Wien werden wohl ähnlich fadenscheinige Bekundungen zu hören sein. Indessen ist die Beitrittsperspektive zu einem politischen Beruhigungsmittel für diesen seit drei Jahrzehnten krisengeschüttelten Teil Südosteuropas geworden. Ihre Glaubwürdigkeit allerdings hat sie weitgehend eingebüßt. Und so haben auch die Ärmsten unter den Armen im Westbalkan die Hoffnung auf bessere Zeiten und ein menschenwürdiges Leben in der Heimat bereits aufgegeben: Mehrere Zehntausend Roma und Albaner haben im letzten Jahr ihre Herkunftsländer verlassen und versuchen, in Deutschland und anderswo in Westeuropa Fuß zu fassen.
Ökonomische Stagnation und politische Verwerfungen
Die erste Westbalkan-Konferenz fand, angeregt von der deutschen Bundesregierung, vor einem Jahr in Berlin statt. Politisch Verantwortliche und Wirtschaftsvertreter aus der Region, der EU sowie den EU-Mitgliedstaaten kamen damals mit dem vorrangigen Ziel zusammen, die ökonomische Zusammenarbeit der Westbalkanstaaten untereinander sowie mit der EU zu vertiefen. Dieses Zusammenwirken, so das Kalkül der Initiatoren, müsse die Kandidaten schneller zum EU-Beitritt befähigen, die unkontrollierte Migration aus der Region eindämmen, ihre politische Stabilität insgesamt fördern und die vom Westen unerwünschte Einmischung dritter Staaten wie Russland, der islamistischen Regime oder der Türkei in der Region aufhalten. Die Zahlen erzählen jedoch eine andere Geschichte: Seit dem Ausbruch der Wirtschafts- und Finanzkrise in der EU vor sieben Jahren ist das Wachstum in den südosteuropäischen Beitrittsländern gesunken oder zum Stillstand gekommen; die politischen Verwerfungen nehmen zu. Daran haben die Bekundungen der Westbalkan-Konferenz 2014 wenig geändert.
Offenbar deuten die Migranten die sozioökonomische Lage realistischer als die Regierenden im Westbalkan und viele ihrer ausländischen Berater. Im Jahr 2014 bewegte sich das Bruttosozialprodukt der Westbalkanstaaten einschließlich Kroatiens noch immer 10 Prozent unter dem Niveau des Jahres 1989, als der Zerfall Jugoslawiens begann. Nach Angaben der Economist Intelligence Unit erreichte das Pro-Kopf-Einkommen gerade einmal 27 Prozent des EU15-Durchschnitts und etwa die Hälfte des Wertes der Länder, die zwischen 2004 und 2007 der EU beigetreten sind. Ein Viertel der erwachsenen Bevölkerung und 50 Prozent der Jugendlichen sind arbeitslos, Investitionen erfolgen spärlich, die Nachfrage bei den zwei wichtigsten Handelspartnern, Deutschland und Italien, nach Produkten und Dienstleistungen ist verhalten, die staatliche Verschuldung steigt ebenso wie die Auslandsmigration, und die extreme Armut, vor allem in Kosovo, breitet sich aus.
Diese ökonomische Verkümmerung führt zum Auszug der besser gebildeten jungen Menschen und zum Schwund der sozialen Basis für liberale und fortschrittliche politische Optionen. Populisten aller Couleur, von denen einige persönlich Schuld tragen an der nationalistischen Hetze während der jugoslawischen Nachfolgekriege 1991-2001, haben längst wieder die Oberhand gewonnen. Sie alle bekennen sich zwar zu einer künftigen EU-Mitgliedschaft ihrer Länder, aber die Ergebnisse ihrer Politik sind verheerend; es gelingt ihnen nicht, mehr Beschäftigung und eine gerechtere Verteilung des Einkommens zu sichern. Zum Teil liegt das sicherlich an den Auswirkungen der Wirtschaftskrise in der EU auf den Westbalkan. Dass die Regierenden aber davor zurückschrecken, Macht abzugeben, verschlimmert die Lage: Sie scheuen Reformen, die Wirtschaft und Gesellschaft von der staatlichen Bevormundung entlasten und die Machthaber rechenschaftspflichtig machen würden. So sinkt der Lebensstandard weiter, die politischen Institutionen verfallen, die Macht konzentriert sich in den Händen einzelner politischer Führer und entzieht sich jeglicher Kontrolle, der ethnische Chauvinismus erstarkt und die Meinungs- und Pressefreiheit nimmt Schaden.
Ohne wirtschaftliches Wachstum bleiben politische Reformen Makulatur
Lösungen für diese Misere wird es nicht allein aufgrund von Reformen der politischen und wirtschaftlichen Institutionen sowie durch bessere Regierungsführung geben können, wie sie von den EU-Verantwortlichen in der Regel mit wenig Bezug zur ökonomischen Schwäche der Beitrittsländer gefordert werden. Wie kann, beispielsweise, der Arbeitsmarkt weiter liberalisiert werden angesichts der geringen Beschäftigungsquote? Kann der Staat noch »schlanker« werden, ohne weitere Zehntausende Menschen zur Arbeitslosigkeit zu verdammen? Ohne wirtschaftliches Wachstum müssen politische Reformen Makulatur bleiben. Dass die Westbalkanstaaten allein nicht in der Lage sind, dieses zu generieren, ist offensichtlich. Sollen die Staaten der Region mittelfristig tatsächlich Teil der EU werden, sind deshalb arbeitsbeschaffende Investitionen unabdingbar, die von der EU und ihren Mitgliedstaaten angeregt und abgesichert werden. Darüber hinaus muss den Kandidatenländern mehr Zugang zum Arbeitsmarkt der EU gewährt werden, um der unkontrollierten Auswanderung Herr zu werden. Zudem sollten die Westbalkanstaaten in möglichst viele Politikfelder der EU wie Energie, Transport, Umwelt, Klima und Landwirtschaft umfassend einbezogen werden. Ansonsten wird der andauernde ökonomische und gesellschaftliche Krebsgang den schon offensichtlichen Verfall der Demokratie und den Einbruch der Stabilität in Südosteuropa beschleunigen.
Der Text ist auch bei Zeit.de, Handelsblatt.com und EurActiv.de erschienen.
Massenarbeitslosigkeit und Armut in Kosovo werden auf lange Sicht nicht überwunden werden können. Nur eine geregelte Migration ins Ausland kann die Region stabilisieren, meint Dušan Reljić.
Beitrag zu einer Sammelstudie 2013/S 09, 24.04.2013, 106 Seiten, S. 11–19