Knapp zwei Jahre nach der Veröffentlichung der »Integrated Review« hat die britische Regierung ihre Sicherheitsstrategie aktualisiert. Diese ›Auffrischung‹ soll vor allem der schnell voranschreitenden Entwicklung zu einer umkämpften und zersplitterten Weltordnung Rechnung tragen. Ohne ein radikales Umdenken erkennen zu lassen, präzisiert die Strategie die britische Antwort auf China und Russland und legt einen besonderen Fokus auf die Rolle von Partnern sowie auf nationale Resilienz. Nach dem Wechsel in der britischen Regierung hin zu Rishi Sunak steckt das Papier zudem einen deutlich pragmatischen Rahmen für die zukünftige Zusammenarbeit mit der Europäischen Union (EU) ab. Um konkrete Initiativen zur Umsetzung der »Integrated Review« voranzubringen und die euroatlantischen Beziehungen zu stärken, sollten Deutschland und die EU das Momentum nutzen und ihre Kooperation mit London vertiefen.
Am 16. März 2021 veröffentlichte die britische Regierung ihre Vision für die Rolle des Vereinigten Königreichs (VK) in der Welt für das kommende Jahrzehnt. Die sogenannte »Integrated Review« (IR21) hat die zuvor getrennten Bereiche internationale Entwicklung, nationale Sicherheit sowie Außen- und Verteidigungspolitik in einer Strategie zusammengefasst. Flankiert wurde sie durch das Defence Command Paper, das den Beitrag des Verteidigungssektors zur britischen Sicherheitsstrategie bemisst. Dass die britische Regierung nach so kurzer Zeit und in derselben Legislaturperiode eine Aktualisierung vorgenommen hat, hat vor allem zwei Gründe:
So haben die folgenschweren globalen Ereignisse, allen voran Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine, Chinas zunehmend aggressives Auftreten im Südchinesischen Meer und in der Straße von Taiwan sowie die Folgen der Covid‑19-Pandemie, die bereits 2021 ausgemachten Trends beschleunigt und verschärft. Nicht explizit im Dokument benannt, aber ebenso relevant für die Aktualisierung der Strategie sind die innenpolitischen Veränderungen im VK: Seit dem Brexit hat es keine vollständige Legislaturperiode in Westminster gegeben. Stattdessen gab es zwei vorgezogene Neuwahlen sowie die Rücktritte von zwei Premierministern und zwei Premierministerinnen.
Die IR21 war vom Brexit und dem von Boris Johnson vorangetriebenen Leitbild eines ›Global Britain‹ geprägt und hat die EU als Partner vollkommen ausgeblendet. Demgegenüber hatte Kurzzeitpremierministerin Liz Truss zunächst ins Auge gefasst, das Papier mit dem Ziel zu überarbeiten, China gegenüber schärfer aufzutreten. Unter dem außenpolitisch pragmatischeren Rishi Sunak verzichtet die Aktualisierung (IR23) weitgehend auf vollmundige Ansprüche eines die Welt anführenden ›Global Britain‹. Stattdessen zeichnet die neue britische Regierung ein nüchterneres Bild eines Vereinigten Königreichs, das gemeinsam mit seinen Partnern im Westen unter Druck geraten ist und sich einer wesentlich stärkeren geostrategischen Konkurrenz stellen muss.
Dem Anspruch eines ›integrierten Ansatzes‹ folgend, soll die IR die gesamte Regierungspolitik unter eine gemeinsame strategische Leitlinie bringen. Da die Überarbeitung der IR21 direkt vom Büro des Premierministers geleitet wurde, gelang es der britischen Regierung, sie in relativ kurzer Zeit durchzuführen. Primär stützte sich das Cabinet Office auf Beiträge aus dem Verteidigungsministerium und dem Foreign, Commonwealth and Development Office (FCDO) sowie auf Bewertungen des Gemeinsamen Nachrichtendienstausschusses und von externen Expertinnen und Experten.
Neupositionierung im Systemwettbewerb
Die IR23 antwortet in erster Linie auf den verschärften globalen Wettbewerb und hebt die Rolle internationaler Partner in einem kompetitiven und konfliktreichen geostrategischen Umfeld hervor. Dabei nennt die britische Regierung nicht mehr das Ziel, die internationale regelbasierte Ordnung zu verteidigen, sondern vielmehr, den aus ihrer Sicht unaufhaltbaren Wandel im internationalen System nach britischen Interessen mitzugestalten. Hierzu gehört immer noch, langfristig ein offenes und regelbasiertes internationales System aufzubauen, das auf Wettbewerb und Zusammenarbeit souveräner Staaten fußt. In Konkurrenz sieht sich das Vereinigte Königreich dabei vor allem mit Russland und China.
Russland als direkte Bedrohung
Bereits die IR21 hat Russland als die akuteste staatliche Bedrohung für die Sicherheit des Vereinigten Königreichs identifiziert. Die IR23 verstärkt dies noch, indem Russland als die größte nukleare und konventionelle militärische Bedrohung für die Sicherheit in Europa eingestuft wird. Ein wesentlicher Teil der IR23 befasst sich mit der britischen Unterstützung der Ukraine bei der Wiedererlangung ihrer Souveränität im Krieg gegen Russland, wobei das Ziel klar darin besteht, Russland jeglichen strategischen Nutzen aus seiner Invasion zu verwehren. Das heißt, dass die IR23 eine direkte Verbindung zwischen der kollektiven Sicherheit Großbritanniens und Europas einerseits und dem Ausgang von Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine andererseits herstellt.
Schon vor der IR23 hatte sich London auf dieser Basis als entschiedener Unterstützer der Ukraine positioniert. Unter Boris Johnson hatte das Vereinigte Königreich noch vor Beginn des Krieges Waffen an Kyjiw geliefert und ukrainische Streitkräfte ausgebildet. Stand März 2023 ist das Land nach den USA der größte Geber von Militärhilfe an die Ukraine, unterstützt Kyjiw mit Geheimdienstinformationen und bildet in größerem Stil ukrainische Soldatinnen und Soldaten aus. Diese Unterstützung wird parteiübergreifend getragen, sodass es keine Änderungen bei den letzten beiden Wechseln an der Regierungsspitze gab. Ebenso wenig innenpolitisch umstritten war die Entscheidung, Panzer an die Ukraine zu liefern, die die britische Regierung vor allen anderen westlichen Verbündeten im Januar 2023 getroffen hat. Gleichzeitig hat sich London damit – trotz des Brexits – als verlässlicher Sicherheitspartner für nord-, mittel- und osteuropäische Staaten in geographischer Nähe zu Russland präsentiert, sowohl im Rahmen der Nato oder der Joint Expeditionary Force (JEF) als auch bilateral.
China als »epochale Herausforderung«
Innenpolitisch umstrittener ist die britische Positionierung gegenüber China. Während London zu Beginn der 2010er Jahre noch »ein goldenes Zeitalter« der britisch-chinesischen Beziehungen erreichen wollte, hat die britische Regierung bereits in den letzten fünf Jahren – auch in Anlehnung an die USA – schrittweise eine konfrontativere Haltung gegenüber China eingenommen. Selbst wenn einige einflussreiche Abgeordnete der Konservativen Partei fordern, Großbritannien solle sich noch klarer gegen China positionieren, bleibt das britische Verhältnis zu dem Land sowohl durch Abhängigkeiten als auch durch Wettbewerb gekennzeichnet. Anders als seine Vorgängerin Liz Truss verfolgt Rishi Sunak aber einen pragmatischen Ansatz gegenüber China. So wird es als »epochale Herausforderung« und systemischer Wettbewerber, nicht aber als akute Bedrohung eingestuft. Damit erkennt das VK die Notwendigkeit an, selbst resilienter zu werden, und setzt seine Gratwanderung zwischen dem Schutz nationaler Sicherheit und der Sicherung seines wirtschaftlichen Wohlstands fort.
Einerseits möchte sich das Vereinigte Königreich auf bilateraler Ebene und in internationalen Foren direkt mit China auseinandersetzen, um Raum für offene und konstruktive Beziehungen zu schaffen. Andererseits sieht London eine Gefahr in den Bestrebungen der Kommunistischen Partei, eine auf China ausgerichtete internationale Ordnung aufzubauen, die auf Zwangspraktiken beruht und die Rechte und Freiheiten des Einzelnen untergräbt. Vor diesem Hintergrund will die britische Regierung die nationale Sicherheit und den Wohlstand des Landes besser schützen, weil China aus ihrer Sicht für beide eine Bedrohung darstellt. Dazu soll die gesamte Regierung Wissen über und Kompetenzen für den Umgang mit China erwerben; die Mittel dafür sollen verdoppelt werden. Diesen Ansatz unterstützen weitere Sofortmaßnahmen wie die Einrichtung der Nationalen Agentur für Schutz und Sicherheit sowie neue Maßnahmen zur wirtschaftlichen Sicherheit.
Im Gegensatz zur IR21, welche die Taiwan-Frage weitgehend ausgeklammert hat, bekräftigt die Aktualisierung, dass sich das VK für eine friedliche Lösung einsetzt, und reagiert somit auf Chinas zunehmend aggressives Auftreten in Bezug auf Taiwan. Perspektivisch stellt sich die Frage, ob das VK seine Sicherheitsinteressen auch gegenüber einem konfrontativer und machtbewusster agierenden China durchsetzen kann.
Bemerkenswert ist ferner, dass die Regierung Sunak nicht nur, aber insbesondere, wenn es um China geht, sehr viel stärker auf Partnerschaften setzt. So stellt die IR23 fest, dass London alleine nicht die Mittel habe, auf China einzuwirken, und daher mit Verbündeten weltweit zusammenarbeiten müsse. Hierbei wird explizit auf die Zusammenarbeit mit Frankreich, Deutschland, der EU und anderen europäischen Partnern im Indo-Pazifik verwiesen. Auf dem britisch-französischen Gipfel im März 2023 haben die beiden Regierungen vereinbart, die Einrichtung einer gemeinsamen europäischen Flugzeugträgergruppe zu prüfen. Gleichzeitig achtet die Regierung Sunak darauf, sich in der Rhetorik gegenüber China nicht von den Verbündeten abzusetzen; was die ›Härte‹ gegenüber Peking betrifft, ordnet sie sich zwischen den USA und EU-Partnern wie Deutschland und Frankreich ein.
Angepasste geographische Prioritäten
Eine große Herausforderung in der Globalstrategie des Vereinigten Königreichs sind seine geographisch breit gestreuten Prioritäten bei begrenzten Ressourcen. Schon vor dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine lautete eine Kritik, das VK habe nicht die Ressourcen, um gleichzeitig Europa und den Indo-Pazifik in den Mittelpunkt zu stellen. Wenngleich die Regierung Johnson noch den »tilt« in Richtung Indo-Pazifik als neues Zentrum der Weltpolitik hervorhob, hat die IR21 beide Regionen als Schwerpunkte ausgemacht. Hingegen bezeichnet die IR23 klar die euroatlantische Region als oberste Priorität für das VK, mit besonderem Fokus auf Nordeuropa. Die Ukraine gegen die russische Invasion zu unterstützen sowie Russland daran zu hindern, seine strategischen Interessen in der Ukraine zu erreichen, wird als aktuell oberstes strategisches Ziel definiert.
Dennoch weist die Strategie dem neuen Netzwerk der ›atlantisch-pazifischen Partnerschaften‹ ebenfalls eine wichtige Rolle zu und konsolidiert den »tilt« in Richtung Indo-Pazifik. Das zeigt auch die Bereitschaft des VK, sensible strategische Technologien mit seinen Verbündeten zu teilen, beispielsweise nuklearbetriebene Angriffs-U‑Boote im Rahmen des mit den USA und Australien getroffenen AUKUS-Abkommens. Der beschlossene Beitritt des VK zur Transpazifischen Partnerschaft (CPTPP) bekräftigt diese Entwicklung. Die IR23 formuliert den Anspruch, Verteidigungsbeziehungen und neue Rahmenwerke im Indo-Pazifik zu vertiefen bzw. zu schaffen sowie eine langfristige strategische Präsenz in der Region aufzubauen.
Von nachgeordneter Priorität sind die weitere europäische Nachbarschaft, der Mittlere Osten, Afrika und die Arktis; in diesen Regionen will Großbritannien zwar weiterhin aktiv bleiben, aber eher in wirtschaftlicher Partnerschaft mit Staaten vor Ort, während Einsätze wie im Irak oder in Afghanistan der Vergangenheit angehören. Den Widerspruch, gleichzeitig die Präsenz in Europa und im Indo-Pazifik trotz nur marginal steigender Ressourcen auszubauen, kann die IR23 damit nicht auflösen.
Bereits die IR21 hat konstatiert, dass London keinen bipolaren Wettbewerb der Systeme nach Muster des Kalten Krieges erwartet, sondern einen komplexeren geostrategischen Wettbewerb, bei dem zunehmend »middle ground states« eine entscheidende Rolle einnehmen. Das VK will sich dem vereinfachten Diktum eines Wettbewerbs zwischen Demokratien und Autokratien entziehen und nicht ausschließlich mit westlichen Partnern zusammenarbeiten, sondern auch mit anderen Staaten, unabhängig von ihrer inneren Verfasstheit in Bezug auf Demokratie und Rechtsstaatlichkeit; Voraussetzung ist allerdings, dass diese Staaten die Grundpfeiler der Ordnung der Vereinten Nationen unterstützen.
Zukünftiges Verhältnis zur EU
Das veränderte Umfeld – der Krieg gegen die Ukraine ebenso wie die innenpolitischen Veränderungen im Vereinigten Königreich – spiegelt sich am deutlichsten darin wider, wie sich das VK in Europa strategisch positioniert. Die IR21 war das erste britische Strategiedokument nach dem Brexit. Unterfüttert von der Entscheidung der Regierung Johnson, auf jedwede strukturierte außen- und sicherheitspolitische Kooperation mit der EU zu verzichten, wurde die Union in der IR21 als außenpolitischer Partner komplett ausgeblendet (siehe SWP-Aktuell 35/2021).
Die IR23 lässt diesen ideologischen Ballast hinter sich und behandelt den Brexit als Fakt: Nach Vollzug des Austritts habe das VK weiterhin Interesse, mit der EU zusammenzuarbeiten. Diese pragmatischere Herangehensweise hat sich bereits seit Beginn des Krieges gegen die Ukraine abgezeichnet. Zum Beispiel hat sich London in der G7 eng mit der EU und den USA zu den Sanktionen gegen Russland abgestimmt. 2022 hat es sich einem Projekt der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit (PESCO) für militärische Mobilität angeschlossen. Im März 2023 hat die Regierung Sunak eines der Haupthindernisse für eine engere Kooperation mit der EU aus dem Weg geräumt, indem sie sich mit dieser über die Umsetzung des Nordirland-Protokolls einigte (Windsor Framework) – ohne dass es gegen diese neue Grundlage in London größeren Widerstand gegeben hätte. Mit ihrem expliziten Verweis auf das Windsor Framework bietet die IR23 neues Potential für die Zusammenarbeit mit der EU.
Dieses Potential sollte die EU ihrerseits ausloten. Die IR23 betont nicht zuletzt die Bereitschaft des VK, das vierte Treffen der neu geschaffenen Europäischen Politischen Gemeinschaft (EPG) im 2. Halbjahr 2024 auszurichten.
London positioniert sich dabei jedoch weiterhin als unabhängiger, zentraler europäischer Sicherheitsakteur, der durch seine entschiedene Unterstützung der Ukraine in Nord-, Mittel- und Osteuropa als Partner wieder stark an Attraktivität gewonnen hat. Auch wenn Großbritannien nun der EU gegenüber offener ist, liegt seine eigentliche Priorität in Europa – wenig überraschend – auf der Nato und dem Ausbau bilateraler Beziehungen. In diesem Sinne beteiligt sich das VK an dem von Deutschland angestoßenen und der Nato angegliederten Projekt ›European Sky Shield Initiative‹.
Zudem hat das VK seit 2021 seine bilateralen Abkommen mit fast allen europäischen Staaten ausgeweitet, wobei Nord- und Mitteleuropa im Vordergrund stehen (siehe SWP-Aktuell 16/2022). Als Schlüsselpartner in der Außen- und Sicherheitspolitik in Europa identifiziert die IR23 Frankreich. Fast zeitgleich mit der Veröffentlichung haben Rishi Sunak und Emmanuel Macron auf dem ersten britisch-französischen Gipfel seit dem Brexit vereinbart, ihre Zusammenarbeit wieder zu intensivieren, insbesondere in außen- und sicherheitspolitischen Fragen. Abstimmen möchte man sich etwa bei der Entsendung von Flugzeugträgern, zu Nuklearwaffen oder im Cyberbereich. An zweiter Stelle folgt Polen als bedeutender Partner in Mitteleuropa.
Aus Berliner Sicht bedenkenswert ist, dass Deutschland in der Außen- und Sicherheitspolitik nahezu ausschließlich als Partner in multilateralen Kontexten wie der G7, der transatlantischen Quad (Deutschland, Frankreich, USA, VK) oder den E3 (Deutschland, Frankreich, VK) erwähnt wird. Denn während Deutschland in London in der Europapolitik als Schlüsselpartner gilt, mangelt es in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik an konkreten bilateralen Initiativen.
Begrenzte Steigerung der Verteidigungsausgaben
Einer der kritischsten innenpolitischen Konflikte um die IR23 war die Frage nach Umfang und Zeitplan bei der Steigerung der Verteidigungsausgaben. Das Vereinigte Königreich hat aktuell den größten Verteidigungshaushalt unter den europäischen Nato-Staaten und durchweg das 2‑Prozent-Ziel eingehalten. Gleichzeitig haben auch die britischen Streitkräfte nach zwanzig Jahre dauernden Einsätzen im Irak und in Afghanistan mit Ausstattungsproblemen zu kämpfen. Die strategische Präsenz sowohl in Europa als auch im Indo-Pazifik birgt die Gefahr einer Überdehnung. Hinzu kommt die militärische Unterstützung für die Ukraine: Großbritannien hat große Mengen an Panzer- und Flugabwehrraketen sowie Munition geliefert und darüber hinaus die Lieferung von Challenger‑2-Panzern in Aussicht gestellt – wobei noch ungeklärt ist, ob und wann diese ersetzt werden können.
Der britische Verteidigungsminister Ben Wallace hat daher gefordert, den britischen Verteidigungsetat deutlich anzuheben; langfristiges Ziel sollte ihm zufolge sein, dass 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) für Verteidigung ausgegeben würden. Rishi Sunak war nach dem Scheitern von Liz Truss aber gerade mit dem Anspruch angetreten, die britische Finanzpolitik zu stabilisieren und weniger neue Schulden zu machen.
Der zeitnah zur IR23 vorgestellte neue britische Haushalt sieht in der Konsequenz vor, den Verteidigungsetat in den nächsten beiden Jahren um 5 Milliarden GBP zu erhöhen. Das langfristige Ziel ist jetzt, einen Verteidigungshaushalt von 2,5 Prozent des BIP zu erreichen, »wenn die fiskalischen und wirtschaftlichen Umstände es zulassen«. Von den zusätzlichen Mitteln sollen knapp 3 Milliarden GBP in die nukleare Abschreckung fließen, einschließlich der Umsetzung der AUKUS-Vereinbarung; 2 Milliarden GBP sind eingeplant, um nach Hilfen an die Ukraine die Bestände aufzufüllen.
Zum Vergleich: Insgesamt hat das Vereinigte Königreich gemäß dem ›Ukraine Support Tracker‹ des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel bis März 2023 Militärhilfe in Höhe von circa 4,9 Milliarden Euro (ca. 4,3 Mrd. GBP) geleistet. Da der Großteil der zusätzlichen 5 Milliarden GBP der nuklearen Abschreckung zugutekommt, bleibt der Druck auf die britischen Streitkräfte hoch.
Rückkehr zur Realpolitik
Die Aktualisierung der »Integrated Review« durch die Regierung Sunak ist vor allem eine Abkehr von ›Global Britain‹ und stimmt das Vereinigte Königreich auf eine kompetitive internationale Politik ein. Russland wird fortwährend als akuteste staatliche Bedrohung benannt, die Unterstützung für die Ukraine klar priorisiert. Bei der China-Politik orientiert sich London an den Verbündeten und stuft das Land als »epochale Herausforderung« für die regelbasierte Weltordnung ein, lässt aber noch Raum für Kooperation in multilateralen Fragen. Dreh- und Angelpunkt der strategischen Bestandsaufnahme ist die gewachsene Konkurrenz, mit der sich das VK und seine westlichen Partner auseinandersetzen müssen.
Um den Gefahren entgegenzuwirken, stellt das VK die Rolle von Partnern sowie eine veränderte geographische Gewichtung in den Vordergrund. Zum einen konzentriert sich London auf die euroatlantische Region und will sich als zentraler europäischer Sicherheitsakteur positionieren. Gerade in Polen, im Baltikum, in Schweden und Finnland sowie in der Ukraine selbst hat das VK damit stark an Glaubwürdigkeit gewonnen – nicht zuletzt im Vergleich zu Deutschland und Frankreich, die aus Sicht von an Russland angrenzenden Staaten zögerlicher agieren. Dabei passt die IR23 auch die Gewichtung der europäischen Partnerschaften des VK an. Während Deutschland zumindest in der Sicherheitspolitik eine weniger bedeutende Rolle zugesprochen bekommt, werden die Beziehungen zu Polen, den baltischen Staaten und der Ukraine aufgewertet. Besonders viel Aufmerksamkeit erfährt die Zusammenarbeit mit Frankreich – auch mit Blick auf den indopazifischen Raum.
Zum anderen untermauert Großbritannien seine Präsenz im Indo-Pazifik: durch AUKUS, seinen Status als Dialogpartner der ASEAN-Staaten und indem es grünes Licht für seinen Beitritt zur CPTPP bekommen hat. Diese Region entwickelt sich damit zu einem Grundpfeiler der britischen Außenpolitik, wobei deren Hauptmotiv darin liegt, die Partnerschaft mit den USA zu stärken.
Darüber hinaus wird in der IR23 insbesondere das Verhältnis zur EU neu bewertet. Im Gegensatz zur IR21, welche die EU völlig ausgeklammert hat, unterstreicht die IR23, dass die aktuelle britische Regierung pragmatisch mit der Union kooperieren möchte. Abgesehen von der weiteren Zusammenarbeit mit der Ukraine bleibt allerdings unklar, wie die strategischen Ziele der IR23 umgesetzt werden sollen. Ihrerseits sollte die EU das Momentum nutzen und sich mit dem VK über Ziele und Formen der Zusammenarbeit verständigen. Zu empfehlen ist hier weiterhin kein strukturierter formalisierter Vertrag zur außen- und sicherheitspolitischen Abstimmung, sondern ein pragmatischer Weg, der die Kooperation schrittweise vertieft. Dies könnte zum Beispiel im Rahmen der EPG erfolgen. In Bezug auf Russlands Krieg gegen die Ukraine könnten Sanktionen bilateral enger koordiniert und weitere Beteiligungen des VK an PESCO-Projekten vorangebracht werden.
Hierfür sollte aber auch die EU flexibler sein, wenn sie Drittstaaten in Projekte der Sicherheits- und Verteidigungspolitik einbindet: So beteiligt sich etwa Norwegen an der gemeinsamen Beschaffung von Munition für die Ukraine und am Europäischen Verteidigungsfonds, allerdings ohne großes eigenes Mitspracherecht. Angesichts der wirtschaftlichen Bedeutung der britischen Verteidigungsindustrie müsste hier jedoch eine Sonderlösung gefunden werden.
Im Hinblick auf die veränderte internationale Sicherheitslage und den Wunsch des VK, seine nationale Resilienz zu stärken, sollte auch Deutschland intensiver mit ihm kooperieren, damit es ein wichtiger bilateraler Partner des VK bleibt. Die Gemeinsame Absichtserklärung über die deutsch-britische außenpolitische Zusammenarbeit aus dem Jahr 2021 bietet hierfür eine gute Basis.
Dr. Nicolai von Ondarza ist Leiter der Forschungsgruppe EU / Europa. Dominik Rehbaum ist Forschungsassistent der Forschungsgruppe EU / Europa.
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