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Von ›Global Britain‹ zur Realpolitik – die aktualisierte »Integrated Review«

Wie sich das Vereinigte Königreich als verlässlicher Partner im globalen Systemwettbewerb positionieren will

SWP-Aktuell 2023/A 27, 05.04.2023, 6 Seiten

doi:10.18449/2023A27

Forschungsgebiete

Knapp zwei Jahre nach der Veröffentlichung der »Integrated Review« hat die briti­sche Regierung ihre Sicherheitsstrategie aktualisiert. Diese ›Auffrischung‹ soll vor allem der schnell voranschreitenden Entwicklung zu einer umkämpften und zersplitter­ten Welt­ordnung Rechnung tragen. Ohne ein radikales Umdenken er­ken­nen zu lassen, präzi­siert die Strategie die britische Antwort auf China und Russland und legt einen beson­deren Fokus auf die Rolle von Partnern sowie auf nationale Resi­lienz. Nach dem Wechsel in der britischen Regierung hin zu Rishi Sunak steckt das Papier zudem einen deutlich pragmatischen Rah­men für die zukünf­tige Zusammen­arbeit mit der Europäischen Union (EU) ab. Um konkrete Initiativen zur Um­setzung der »Integrated Review« voran­zubringen und die euroatlantischen Beziehungen zu stärken, sollten Deutschland und die EU das Momen­tum nutzen und ihre Kooperation mit London vertiefen.

Am 16. März 2021 veröffentlichte die bri­tische Regierung ihre Vision für die Rolle des Vereinigten Königreichs (VK) in der Welt für das kommende Jahrzehnt. Die sogenannte »Integrated Review« (IR21) hat die zuvor getrennten Bereiche internatio­nale Entwicklung, nationale Sicherheit sowie Außen- und Verteidigungspolitik in einer Strategie zusammengefasst. Flankiert wurde sie durch das Defence Command Paper, das den Beitrag des Verteidigungssektors zur britischen Sicherheitsstrategie bemisst. Dass die britische Regierung nach so kurzer Zeit und in derselben Legislatur­periode eine Aktualisierung vorgenommen hat, hat vor allem zwei Gründe:

So haben die folgenschweren globalen Ereignisse, allen voran Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine, Chinas zunehmend aggressives Auftreten im Südchinesischen Meer und in der Straße von Taiwan sowie die Folgen der Covid‑19-Pandemie, die bereits 2021 ausgemachten Trends beschleunigt und verschärft. Nicht explizit im Dokument benannt, aber eben­so relevant für die Aktu­a­lisierung der Stra­tegie sind die innen­poli­tischen Veränderungen im VK: Seit dem Brexit hat es keine vollständige Legislaturperiode in Westminster gegeben. Statt­des­sen gab es zwei vorgezogene Neuwahlen sowie die Rück­tritte von zwei Premier­minis­tern und zwei Premierministerinnen.

Die IR21 war vom Brexit und dem von Boris Johnson voran­getriebenen Leitbild eines ›Global Britain‹ geprägt und hat die EU als Partner voll­kommen aus­geblendet. Dem­gegenüber hatte Kurz­zeitpremier­minis­terin Liz Truss zu­nächst ins Auge gefasst, das Papier mit dem Ziel zu überarbeiten, China gegenüber schärfer auf­zutreten. Unter dem außenpolitisch prag­matischeren Rishi Sunak verzichtet die Aktualisierung (IR23) weit­gehend auf voll­mundige An­sprüche eines die Welt anfüh­renden ›Global Britain‹. Statt­dessen zeichnet die neue briti­sche Regie­rung ein nüchterneres Bild eines Ver­einig­ten Königreichs, das gemeinsam mit seinen Partnern im Wes­ten unter Druck geraten ist und sich einer wesentlich stär­ke­ren geo­strategischen Kon­kurrenz stellen muss.

Dem Anspruch eines ›integrierten Ansatzes‹ folgend, soll die IR die gesamte Regie­rungspolitik unter eine gemeinsame stra­te­gische Leitlinie bringen. Da die Überarbeitung der IR21 direkt vom Büro des Premier­minis­ters geleitet wurde, gelang es der briti­schen Regierung, sie in relativ kurzer Zeit durchzuführen. Primär stützte sich das Cabi­net Office auf Beiträge aus dem Ver­teidi­gungs­ministerium und dem Foreign, Com­monwealth and Development Office (FCDO) sowie auf Bewertungen des Gemein­samen Nach­richtendienstausschusses und von ex­ter­nen Expertinnen und Experten.

Neupositionierung im System­wettbewerb

Die IR23 antwortet in erster Linie auf den verschärften globalen Wettbewerb und hebt die Rolle inter­nationaler Partner in einem kompetitiven und konfliktreichen geostrategischen Um­feld hervor. Dabei nennt die britische Regie­rung nicht mehr das Ziel, die internationale regelbasierte Ordnung zu verteidigen, son­dern vielmehr, den aus ihrer Sicht unaufhaltbaren Wandel im internationalen System nach britischen Interessen mitzugestalten. Hierzu gehört immer noch, langfristig ein offenes und regel­basiertes internationales System auf­zu­bauen, das auf Wettbewerb und Zusam­men­arbeit sou­verä­ner Staaten fußt. In Kon­kur­renz sieht sich das Vereinigte König­reich dabei vor allem mit Russland und China.

Russland als direkte Bedrohung

Bereits die IR21 hat Russland als die aku­teste staatliche Bedrohung für die Sicherheit des Vereinigten Königreichs identifiziert. Die IR23 verstärkt dies noch, indem Russ­land als die größte nu­kleare und kon­ventio­nelle militärische Be­drohung für die Sicher­heit in Europa eingestuft wird. Ein wesent­licher Teil der IR23 befasst sich mit der bri­ti­schen Unterstützung der Ukraine bei der Wiedererlangung ihrer Souveränität im Krieg gegen Russland, wobei das Ziel klar darin besteht, Russland jeglichen strategischen Nut­zen aus seiner Invasion zu ver­wehren. Das heißt, dass die IR23 eine direkte Ver­bin­dung zwischen der kollektiven Sicher­heit Großbritanniens und Europas einer­seits und dem Ausgang von Russlands Angriffs­krieg gegen die Ukraine andererseits herstellt.

Schon vor der IR23 hatte sich London auf dieser Basis als entschiedener Unterstützer der Ukraine positioniert. Unter Boris Johnson hatte das Vereinigte Königreich noch vor Beginn des Krieges Waffen an Kyjiw gelie­fert und ukrainische Streitkräfte ausgebildet. Stand März 2023 ist das Land nach den USA der größte Geber von Militär­hilfe an die Ukra­ine, unterstützt Kyjiw mit Geheimdienst­informationen und bildet in größerem Stil ukrainische Soldatinnen und Sol­da­ten aus. Diese Unterstützung wird partei­über­grei­fend getragen, sodass es keine Ände­run­gen bei den letzten beiden Wech­seln an der Regierungsspitze gab. Ebenso wenig innen­politisch um­strit­ten war die Ent­schei­dung, Panzer an die Ukraine zu liefern, die die bri­ti­sche Regie­rung vor allen anderen west­lichen Ver­bün­deten im Januar 2023 ge­trof­fen hat. Gleich­zeitig hat sich Lon­don da­mit – trotz des Brexits – als verläss­licher Sicher­heits­partner für nord-, mittel- und ost­­europä­i­sche Staaten in geographischer Nähe zu Russ­land präsentiert, sowohl im Rahmen der Nato oder der Joint Expedi­tion­ary Force (JEF) als auch bilateral.

China als »epochale Heraus­forderung«

Innenpolitisch umstrittener ist die britische Positionierung gegenüber China. Während London zu Beginn der 2010er Jahre noch »ein goldenes Zeitalter« der britisch-chine­sischen Beziehungen erreichen wollte, hat die britische Regierung bereits in den letz­ten fünf Jahren – auch in Anlehnung an die USA – schrittweise eine konfrontativere Haltung gegenüber China eingenommen. Selbst wenn einige einflussreiche Abgeordnete der Konservativen Partei fordern, Groß­britannien solle sich noch klarer gegen China positionieren, bleibt das britische Ver­hältnis zu dem Land sowohl durch Ab­hän­gigkeiten als auch durch Wettbewerb gekennzeichnet. Anders als seine Vorgängerin Liz Truss verfolgt Rishi Sunak aber einen prag­matischen Ansatz gegenüber China. So wird es als »epochale Herausforderung« und systemischer Wettbewerber, nicht aber als akute Bedrohung eingestuft. Damit er­kennt das VK die Notwendigkeit an, selbst resilienter zu werden, und setzt seine Grat­wanderung zwischen dem Schutz natio­naler Sicherheit und der Sicherung seines wirtschaft­lichen Wohlstands fort.

Einerseits möchte sich das Vereinigte Königreich auf bilateraler Ebene und in internationalen Foren direkt mit China aus­einandersetzen, um Raum für offene und konstruktive Bezie­hungen zu schaffen. Andererseits sieht London eine Gefahr in den Bestrebungen der Kommunis­tischen Partei, eine auf China ausgerichtete inter­nationale Ordnung aufzubauen, die auf Zwangspraktiken beruht und die Rechte und Freiheiten des Einzelnen untergräbt. Vor diesem Hintergrund will die britische Regierung die nationale Sicher­heit und den Wohlstand des Landes besser schützen, weil China aus ihrer Sicht für beide eine Bedrohung dar­stellt. Dazu soll die gesamte Regierung Wissen über und Kompetenzen für den Umgang mit China erwerben; die Mittel dafür sollen verdoppelt werden. Diesen An­satz unterstützen weitere Sofort­maßnahmen wie die Einrichtung der Natio­nalen Agentur für Schutz und Sicherheit sowie neue Maßnahmen zur wirtschaft­lichen Sicher­heit.

Im Gegensatz zur IR21, welche die Tai­wan-Frage weitgehend aus­geklam­mert hat, bekräftigt die Aktualisierung, dass sich das VK für eine friedliche Lösung einsetzt, und reagiert somit auf Chinas zu­neh­mend ag­gres­sives Auftreten in Bezug auf Taiwan. Per­spektivisch stellt sich die Frage, ob das VK seine Sicherheitsinteressen auch gegenüber einem konfrontativer und machtbewusster agierenden China durchsetzen kann.

Bemerkenswert ist ferner, dass die Regie­rung Sunak nicht nur, aber insbesondere, wenn es um China geht, sehr viel stärker auf Partnerschaften setzt. So stellt die IR23 fest, dass London alleine nicht die Mittel habe, auf China einzu­wir­ken, und daher mit Ver­bündeten welt­weit zusammenarbeiten müsse. Hierbei wird explizit auf die Zusammenarbeit mit Frank­reich, Deutschland, der EU und anderen europäischen Partnern im Indo-Pazifik ver­wiesen. Auf dem britisch-fran­zösischen Gipfel im März 2023 haben die beiden Regierungen ver­einbart, die Ein­richtung einer gemeinsamen europäischen Flugzeugträgergruppe zu prüfen. Gleich­zeitig achtet die Regierung Sunak darauf, sich in der Rhe­torik gegen­über China nicht von den Ver­bündeten ab­zusetzen; was die ›Härte‹ gegenüber Peking betrifft, ordnet sie sich zwischen den USA und EU-Partnern wie Deutschland und Frank­reich ein.

Angepasste geographische Prioritäten

Eine große Herausforderung in der Glo­bal­strategie des Vereinigten Königreichs sind seine geographisch breit gestreuten Priori­tä­ten bei begrenzten Ressourcen. Schon vor dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukra­ine lautete eine Kritik, das VK habe nicht die Ressourcen, um gleich­zeitig Euro­pa und den Indo-Pazifik in den Mittelpunkt zu stel­len. Wenngleich die Regierung John­son noch den »tilt« in Richtung Indo-Pazifik als neues Zentrum der Weltpolitik hervorhob, hat die IR21 beide Regio­nen als Schwerpunkte ausgemacht. Hingegen bezeichnet die IR23 klar die euro­atlantische Region als oberste Priorität für das VK, mit besonderem Fokus auf Nord­europa. Die Ukraine gegen die russi­sche Invasion zu unterstützen sowie Russland daran zu hindern, seine stra­tegischen Inter­essen in der Ukraine zu errei­chen, wird als aktuell oberstes strate­gisches Ziel definiert.

Dennoch weist die Strategie dem neuen Netzwerk der ›atlantisch-pazifischen Part­ner­schaften‹ ebenfalls eine wichtige Rolle zu und konsolidiert den »tilt« in Richtung Indo-Pazifik. Das zeigt auch die Bereitschaft des VK, sen­sible strategische Technologien mit seinen Verbündeten zu teilen, bei­spiels­weise nuklear­betriebene Angriffs-U‑Boote im Rahmen des mit den USA und Australien getroffenen AUKUS-Abkommens. Der be­schlos­sene Beitritt des VK zur Trans­pazi­fi­schen Part­nerschaft (CPTPP) bekräf­ti­gt diese Entwicklung. Die IR23 for­muliert den An­spruch, Vertei­digungs­beziehungen und neue Rah­men­werke im Indo-Pazifik zu ver­tiefen bzw. zu schaffen sowie eine lang­fris­tige strate­gische Präsenz in der Re­gion auf­zubauen.

Von nachgeordneter Priorität sind die weitere europäische Nachbarschaft, der Mittlere Osten, Afrika und die Arktis; in diesen Regionen will Großbritannien zwar weiterhin aktiv bleiben, aber eher in wirt­schaftlicher Partnerschaft mit Staaten vor Ort, während Einsätze wie im Irak oder in Afghanistan der Vergangenheit angehören. Den Widerspruch, gleich­zeitig die Präsenz in Europa und im Indo-Pazifik trotz nur marginal steigender Res­sourcen auszubauen, kann die IR23 damit nicht auflösen.

Bereits die IR21 hat konstatiert, dass London keinen bipolaren Wettbewerb der Systeme nach Muster des Kalten Krieges erwartet, sondern einen komplexeren geo­strate­gi­schen Wettbewerb, bei dem zuneh­mend »middle ground states« eine entschei­dende Rolle einnehmen. Das VK will sich dem ver­einfachten Diktum eines Wett­bewerbs zwischen Demo­kratien und Auto­kratien ent­ziehen und nicht aus­schließlich mit westlichen Partnern zusam­men­arbei­ten, sondern auch mit anderen Staaten, unabhängig von ihrer inneren Ver­fasstheit in Bezug auf Demokratie und Rechts­staat­lich­keit; Voraussetzung ist aller­dings, dass diese Staaten die Grund­pfeiler der Ordnung der Vereinten Nationen unterstützen.

Zukünftiges Verhältnis zur EU

Das veränderte Umfeld – der Krieg gegen die Ukraine ebenso wie die innen­politi­schen Ver­änderungen im Vereinigten König­reich – spiegelt sich am deutlichsten darin wider, wie sich das VK in Europa stra­tegisch posi­tio­niert. Die IR21 war das erste britische Stra­te­gie­dokument nach dem Brexit. Unter­füttert von der Ent­scheidung der Regierung Johnson, auf jed­wede strukturierte außen- und sicherheitspolitische Kooperation mit der EU zu ver­zichten, wurde die Union in der IR21 als außen­politischer Partner kom­plett ausgeblendet (siehe SWP-Aktuell 35/2021).

Die IR23 lässt diesen ideologischen Bal­last hinter sich und behandelt den Brexit als Fakt: Nach Vollzug des Austritts habe das VK wei­terhin Inter­esse, mit der EU zusam­men­zu­arbeiten. Diese pragmatischere Heran­gehens­weise hat sich bereits seit Be­ginn des Krie­ges gegen die Ukraine abge­zeichnet. Zum Bei­spiel hat sich London in der G7 eng mit der EU und den USA zu den Sanktionen gegen Russland abge­stimmt. 2022 hat es sich einem Pro­jekt der Ständi­gen Strukturierten Zusam­menarbeit (PESCO) für militärische Mobi­li­tät an­geschlossen. Im März 2023 hat die Regie­rung Sunak eines der Haupthinder­nisse für eine engere Kooperation mit der EU aus dem Weg geräumt, indem sie sich mit dieser über die Umsetzung des Nord­irland-Proto­kolls einigte (Windsor Framework) – ohne dass es gegen diese neue Grundlage in Lon­don größeren Widerstand gegeben hätte. Mit ihrem expliziten Verweis auf das Windsor Framework bietet die IR23 neues Potential für die Zusammen­arbeit mit der EU.

Dieses Potential sollte die EU ihrerseits aus­loten. Die IR23 betont nicht zuletzt die Bereit­schaft des VK, das vierte Treffen der neu geschaffe­nen Europäischen Politischen Gemeinschaft (EPG) im 2. Halb­jahr 2024 auszurichten.

London positioniert sich dabei jedoch weiterhin als unabhängiger, zentraler euro­päischer Sicherheitsakteur, der durch seine entschiedene Unterstützung der Ukraine in Nord-, Mittel- und Osteuropa als Partner wieder stark an Attraktivität gewonnen hat. Auch wenn Großbritannien nun der EU gegenüber offener ist, liegt seine eigentliche Priorität in Europa – wenig überraschend – auf der Nato und dem Ausbau bilateraler Beziehungen. In diesem Sinne beteiligt sich das VK an dem von Deutschland angestoße­nen und der Nato angegliederten Projekt ›Euro­pean Sky Shield Initiative‹.

Zudem hat das VK seit 2021 seine bi­late­ralen Abkommen mit fast allen euro­päi­schen Staaten ausgeweitet, wobei Nord- und Mitteleuropa im Vordergrund stehen (siehe SWP-Aktuell 16/2022). Als Schlüs­selpartner in der Außen- und Sicher­heitspolitik in Europa identifiziert die IR23 Frankreich. Fast zeitgleich mit der Veröffentlichung haben Rishi Sunak und Emma­nuel Macron auf dem ersten britisch-fran­zösischen Gipfel seit dem Brexit ver­einbart, ihre Zu­sam­men­arbeit wieder zu intensivieren, ins­beson­dere in außen- und sicher­heits­poli­tischen Fragen. Abstimmen möchte man sich etwa bei der Entsendung von Flug­zeug­trägern, zu Nuklear­waffen oder im Cyber­bereich. An zweiter Stelle folgt Polen als bedeu­ten­der Partner in Mitteleuropa.

Aus Berliner Sicht bedenkenswert ist, dass Deutschland in der Außen- und Sicher­heits­politik nahezu ausschließlich als Part­ner in multilateralen Kontexten wie der G7, der transatlantischen Quad (Deutschland, Frank­reich, USA, VK) oder den E3 (Deutschland, Frankreich, VK) erwähnt wird. Denn während Deutschland in London in der Europapolitik als Schlüsselpartner gilt, man­gelt es in der Sicherheits- und Verteidigungs­politik an konkreten bilateralen Initiativen.

Begrenzte Steigerung der Verteidigungsausgaben

Einer der kritischsten innenpolitischen Kon­flikte um die IR23 war die Frage nach Um­fang und Zeitplan bei der Steigerung der Ver­teidigungsausgaben. Das Vereinigte König­reich hat aktuell den größten Ver­tei­digungshaushalt unter den europäischen Nato-Staaten und durchweg das 2‑Prozent-Ziel eingehalten. Gleichzeitig haben auch die britischen Streitkräfte nach zwanzig Jahre dauernden Ein­sätzen im Irak und in Afgha­nistan mit Ausstattungsproblemen zu kämp­fen. Die strategische Präsenz sowohl in Europa als auch im Indo-Pazifik birgt die Gefahr einer Überdehnung. Hinzu kommt die mili­tärische Unterstützung für die Ukra­ine: Großbritannien hat große Mengen an Pan­zer- und Flugabwehrraketen sowie Muni­tion geliefert und darüber hinaus die Liefe­rung von Challenger‑2-Panzern in Aus­sicht gestellt – wobei noch ungeklärt ist, ob und wann diese ersetzt werden können.

Der britische Verteidigungsminister Ben Wallace hat daher gefordert, den britischen Verteidigungs­etat deutlich anzuheben; lang­fristiges Ziel sollte ihm zufolge sein, dass 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) für Verteidigung ausgegeben würden. Rishi Sunak war nach dem Scheitern von Liz Truss aber gerade mit dem Anspruch ange­treten, die britische Finanzpolitik zu stabili­sieren und weniger neue Schulden zu machen.

Der zeit­nah zur IR23 vorgestellte neue britische Haushalt sieht in der Kon­sequenz vor, den Verteidigungsetat in den nächs­ten beiden Jahren um 5 Milli­ar­den GBP zu er­höhen. Das langfristige Ziel ist jetzt, einen Ver­teidigungshaushalt von 2,5 Pro­zent des BIP zu erreichen, »wenn die fiska­lischen und wirtschaftlichen Umstände es zulas­sen«. Von den zusätzlichen Mitteln sollen knapp 3 Milliarden GBP in die nukle­are Ab­schreckung fließen, einschließlich der Um­setzung der AUKUS-Verein­barung; 2 Mil­liar­den GBP sind einge­plant, um nach Hil­fen an die Ukraine die Bestände aufzufüllen.

Zum Vergleich: Insgesamt hat das Ver­einigte Königreich gemäß dem ›Ukraine Support Tracker‹ des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel bis März 2023 Militärhilfe in Höhe von circa 4,9 Milliarden Euro (ca. 4,3 Mrd. GBP) geleistet. Da der Großteil der zusätzlichen 5 Milliarden GBP der nuklearen Abschreckung zugutekommt, bleibt der Druck auf die britischen Streitkräfte hoch.

Rückkehr zur Realpolitik

Die Aktualisierung der »Integrated Review« durch die Regierung Sunak ist vor allem eine Abkehr von ›Global Britain‹ und stimmt das Vereinigte Königreich auf eine kompeti­tive inter­nationale Politik ein. Russ­land wird fort­während als akuteste staatliche Bedro­hung benannt, die Unter­stützung für die Ukraine klar priorisiert. Bei der China-Poli­tik orientiert sich London an den Ver­bün­de­ten und stuft das Land als »epochale Heraus­forderung« für die regel­basierte Welt­ord­nung ein, lässt aber noch Raum für Koope­ration in multilateralen Fragen. Dreh- und Angelpunkt der strate­gi­schen Bestandsaufnahme ist die gewachsene Konkurrenz, mit der sich das VK und seine west­lichen Part­ner auseinandersetzen müssen.

Um den Gefahren entgegenzuwirken, stellt das VK die Rolle von Partnern sowie eine veränderte geographische Gewichtung in den Vordergrund. Zum einen konzent­riert sich London auf die euroatlantische Region und will sich als zentraler europäischer Sicher­heitsakteur positionieren. Gerade in Polen, im Baltikum, in Schweden und Finnland sowie in der Ukraine selbst hat das VK da­mit stark an Glaubwürdigkeit ge­wonnen – nicht zuletzt im Vergleich zu Deutschland und Frankreich, die aus Sicht von an Russ­land angrenzenden Staaten zögerlicher agie­ren. Dabei passt die IR23 auch die Gewich­tung der europäischen Partnerschaften des VK an. Während Deutschland zu­mindest in der Sicherheitspolitik eine weniger bedeu­tende Rolle zu­gesprochen bekommt, wer­den die Beziehungen zu Polen, den balti­schen Staa­ten und der Ukraine aufgewertet. Besonders viel Aufmerksamkeit erfährt die Zusam­men­arbeit mit Frankreich – auch mit Blick auf den indopazifischen Raum.

Zum anderen untermauert Großbritannien seine Präsenz im Indo-Pazifik: durch AUKUS, seinen Status als Dialogpartner der ASEAN-Staaten und indem es grünes Licht für seinen Beitritt zur CPTPP bekommen hat. Diese Region entwickelt sich damit zu einem Grundpfeiler der britischen Außen­politik, wobei deren Hauptmotiv darin liegt, die Part­nerschaft mit den USA zu stärken.

Darüber hinaus wird in der IR23 insbeson­dere das Verhältnis zur EU neu bewertet. Im Gegensatz zur IR21, welche die EU völlig ausge­klammert hat, unterstreicht die IR23, dass die aktu­elle briti­sche Regie­rung prag­ma­tisch mit der Union kooperieren möchte. Abge­sehen von der weiteren Zusammen­arbeit mit der Ukra­ine bleibt allerdings un­klar, wie die strate­gi­schen Ziele der IR23 um­gesetzt werden sollen. Ihrerseits sollte die EU das Momentum nutzen und sich mit dem VK über Ziele und Formen der Zusammen­arbeit verständigen. Zu empfehlen ist hier weiter­hin kein strukturierter formalisierter Ver­trag zur außen- und sicherheitspolitischen Abstimmung, sondern ein pragmatischer Weg, der die Kooperation schrittweise ver­tieft. Dies könnte zum Beispiel im Rah­men der EPG erfolgen. In Bezug auf Russ­lands Krieg gegen die Ukraine könnten Sank­tio­nen bi­lateral enger koordiniert und wei­tere Betei­ligungen des VK an PESCO-Projek­ten voran­gebracht werden.

Hier­für sollte aber auch die EU flexibler sein, wenn sie Drittstaaten in Projekte der Sicherheits- und Verteidigungspolitik ein­bindet: So beteiligt sich etwa Norwegen an der gemeinsamen Beschaf­fung von Muni­tion für die Ukraine und am Europäischen Verteidigungsfonds, allerdings ohne großes eigenes Mitspracherecht. Angesichts der wirtschaftlichen Bedeu­tung der britischen Verteidigungs­industrie müsste hier jedoch eine Sonder­lösung gefunden werden.

Im Hinblick auf die veränderte internatio­nale Sicherheitslage und den Wunsch des VK, seine nationale Resilienz zu stärken, sollte auch Deutschland intensiver mit ihm kooperieren, damit es ein wichtiger bilate­raler Partner des VK bleibt. Die Gemeinsame Absichtserklärung über die deutsch-briti­sche außenpolitische Zusammenarbeit aus dem Jahr 2021 bietet hierfür eine gute Basis.

Dr. Nicolai von Ondarza ist Leiter der Forschungsgruppe EU / Europa. Dominik Rehbaum ist Forschungsassistent der Forschungsgruppe EU / Europa.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2023

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