Ursula von der Leyens Wiederwahl als EU-Kommissionspräsidentin fällt in eine schwierige Zeit, nicht zuletzt angesichts der provokanten ungarischen Reisediplomatie. Eine klare Abgrenzung gegenüber illiberalen Kräften ist dringend nötig – aber nicht primär Aufgabe der Kommission, meint Raphael Bossong.
Mit 401 von 707 Stimmen hat Ursula von der Leyen bei der Wahl am 18. Juli ein klares Mandat für ihre zweite Amtszeit als EU-Kommissionspräsidentin erhalten. Ihre Wiederwahl sendet ein wichtiges Signal der Stabilität, angesichts der politischen Turbulenzen in Frankreich und den USA. Und sie zeigt, dass eine handlungsfähige Koalition ohne Unterstützung rechtspopulistischer Kräfte möglich ist.
Die politischen Leitlinien von der Leyens für die nächsten fünf Jahre spiegeln die Zielsetzung wider, die Interessen der Mitte zu bedienen. Für die Liberalen und die führende EVP werden Wettbewerbsfähigkeit, Verteidigungspolitik und innere Sicherheit priorisiert. Gleichzeitig will von der Leyen mit angepassten Mitteln die Ziele des Green Deal weiterverfolgen – ein Zugeständnis, das sich unmittelbar politisch ausgezahlt hat, da die Grünen ausschlaggebend für ihre Wiederwahl waren. Auch den Sozialdemokraten machte sie neue Angebote, etwa mit europäischen Förderprogrammen zur Schaffung von bezahlbarem Wohnraum. Die meisten zentralen Wahlversprechen von der Leyens hängen an einer Ausweitung des EU-Haushaltsrahmens, um dem ab 2025 hart gerungen werden wird. Für die kommenden Monate ist jedoch die Eindämmung illiberaler Kräfte vordringlich.
Viktor Orbán provoziert
Viktor Orbáns konspirative Reisen zu Wladimir Putin, Xi Jinping und Donald Trump haben zu Beginn der ungarischen Ratspräsidentschaft für Aufregung gesorgt. Die offizielle Rolle der EU-Ratspräsidentschaft ist es, die interne EU-Agenda zu moderieren. Deshalb war die Annahme verbreitet, dass die ungarische Ratspräsidentschaft keinen großen Schaden anrichten könne, solange keine neue EU-Kommission steht und die Gesetzgebung wieder anläuft. In diese Übergangsphase ist Orban rabiat hineingestoßen: Er missbraucht die Präsidentschaft als außenpolitischen Pegelverstärker. Als Reaktion darauf kündigten die nordeuropäischen Mitgliedsstaaten und von der Leyen an, alle informellen Treffen mit Ungarn auf politischer Ebene vorerst zu boykottieren. Das neu zusammengetretene Europaparlament verurteilte die außenpolitische Irrfahrt Orbans auf das Schärfste.
Diese Situation erinnert an das Jahr 2000, als die EU versuchte, die damalige österreichische Regierung unter Beteiligung des Rechtspopulisten Haider auf diplomatischer Ebene zu isolieren, letztlich ohne Erfolg. Heute bestehen stärkere und formalisierte EU-Mechanismen: Vertragsverletzungsverfahren vor dem EuGH, das Einfrieren von europäischen Fördergeldern und das sogenannte Artikel-7-Verfahren, welches schwerwiegende politische Sanktionen nach sich ziehen kann. All das ist gegen Ungarn in Stellung gebracht worden – mit bisher bescheidenen Ergebnissen.
Politische Klärung statt neuer Instrumente
Die neuen politischen Leitlinien von der Leyens versprechen zwar eine Vertiefung der bestehenden EU-Politik zum Schutz der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Schon in den ersten 100 Tagen möchte sie ein »Defense of Democracy Shield« zur Bekämpfung von Desinformationskampagnen vorstellen. Zudem soll im nächsten mehrjährigen Finanzrahmen verankert werden, dass die EU bei Rechtsstaatlichkeitsdefiziten flächendeckend Fördergelder einfrieren kann.
Diese Ankündigungen erscheinen in der akuten Krise aber dennoch unzureichend. Grundsätzlich wäre es rechtlich möglich, die ungarische Ratspräsidentschaft frühzeitig zu beenden, und einen solchen Schritt haben Brüssel und Straßburg bereits erwogen. Dafür müssten sich die Mitgliedstaaten aber zu einer offenen Abstimmung gegen Ungarn durchringen, was über eine rein technische Anpassung der EU-Geschäftsordnung hinausgeht. Zumindest sollten die Mitgliedsstaaten aber eine klare Warnung an Ungarn gemäß Art.7(1) EU-Vertrag zur Gefährdung der europäischen Grundwerte aussprechen. Dafür ist eine Vier-Fünftel-Mehrheit nötig.
Alle weiteren Maßnahmen hängen von dieser seit Jahren überfälligen Positionierung ab. Über die EU hinaus muss das nächste Treffen der Europäischen Politischen Gemeinschaft in Budapest am 7. November, unmittelbar nach den US-Präsidentschaftswahlen, bedacht werden. Im Falle eines Sieges von Donald Trump wird Orban hier mehr denn je einen Führungsanspruch erheben. Nach dem Sommer gilt es also nicht nur, die neue Kommission aufzustellen. Dem rechtspopulistischen Lager der »Patrioten für Europa« muss eine belastbare politische Allianz in allen EU-Institutionen entgegentreten.