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US-Rüstungskontroll- und Militärpolitik in Europa – Erwartungen an Biden

Der Ton wird freundlicher, Interessenunterschiede werden bleiben

SWP-Aktuell 2020/A 104, 18.12.2020, 8 Seiten

doi:10.18449/2020A104

Forschungsgebiete

Mit Präsident Trumps »America first«-Politik haben die USA der multilateralen Ordnung den Rücken gekehrt, internationale Abkommen verlassen, Rüstungskontrollverträge gekündigt und die Nato in Frage gestellt. Gegen Deutschland wollte Trump nationale In­teressen mit Sanktionen durchsetzen. Dort sind die Erwartungen hoch, dass es unter dem künftigen Präsident Biden gelingt, die tiefe Vertrauenskrise in den deutsch-ame­ri­kanischen Beziehungen zu überwinden. Der Ton im Umgang miteinander dürfte verbindlicher werden. Interessenunterschiede werden aber nicht einfach ver­schwin­den. Dagegen sprechen die Konstanten in der Außen- und Sicherheitspolitik der USA ebenso wie die begrenzten Handlungsspielräume des gewählten Präsidenten. Die Rüstungskontrolle wird zwar wieder einen höheren Stellenwert einnehmen. Fort­schritte aber werden zähes Verhandeln und höhere Beiträge Deutschlands zur Bünd­nisverteidigung erfordern.

Unter der Trump-Administration sind die USA aus dem Abkommen zur Eindämmung des iranischen Atomprogramms (JCPOA), dem Vertrag über das Verbot landgestützter Mittelstreckenraketen (INF) und dem Ver­trag über den Offenen Himmel (Open Skies) ausgetreten. Zudem zögert Washington, den New-START-Vertrag zur Begrenzung strategischer Atomwaffen zu verlängern, weil es technische Anpassungen und Chinas Beitritt erzwingen will.

Blockiert haben die USA auch den deutschen Ansatz, durch einen Strukturierten Dialog in der OSZE die konventionelle Rüstungskontrolle wiederzubeleben. Dabei konnte sie – wie bei den Sanktionen gegen das Nord-Stream-2-Projekt – auf die Unter­stützung der Nato-»Frontstaaten« zählen.

Zudem hat Trump einen Teilabzug von US-Truppen aus Deutschland angeordnet, um Berlin dafür zu bestrafen, dass es seine »Rech­nung für die Verteidigung« bei den USA und der Nato nicht beglichen habe.

Der gewählte Präsident Biden hat angekündigt, die transatlantische Allianz zu stärken und auch der Rüstungskontrolle neue Impulse zu geben. Doch seine Spiel­räume dafür werden durch zwei Faktoren begrenzt: die Notwendigkeit, die Polarisierung in den USA zu überwinden, und die interessengeleiteten Konstanten der ame­ri­kani­schen Außen- und Sicherheitspolitik.

Will der gewählte Präsident die gespaltene Nation versöhnen, muss er auf die Repu­blikanische Partei zugehen, die über ein großes und weiterhin mobilisierbares Wäh­lerpotential verfügt. Im Repräsentantenhaus ist sie gestärkt worden, und die Senats­mehrheit dürfte nach den Stichwahlen in Georgia am 5. Januar 2021 knapp ausfallen. Um wichtige nationale Projekte voranzutreiben, muss Biden parteiübergreifende Mehrheiten im Kongress organisieren.

Für den Beitritt oder die Rückkehr zu internationalen Verträgen ist die Ratifika­tion im Senat mit einer Zweidrittelmehrheit nötig. Dies lässt Biden die Wahl, in der Außen- und Sicherheitspolitik durch exeku­tive Anordnungen mit begrenzter Reich­weite zu agieren oder Kompromisse einzu­gehen, um Senatsmehrheiten zu gewinnen.

In vielen außen- und sicherheitspolitischen Fragen dürften Biden Kompromisse aber nicht schwerfallen. Zwar hat er sich zum Multilateralismus bekannt, die Rück­kehr zum Klimaabkommen und in die Welt­gesundheitsorganisation angekündigt und die Erneuerung der transatlantischen Part­nerschaft auf die Agenda gesetzt. Große überparteiliche Kongruenz besteht indes bei vitalen nationalen Interessen. Sie be­trifft vor allem die Großmachtrivalität mit China, die Eindämmung Russlands, den Schutz Israels und die Lastenteilung in der Nato. Im Kongress gibt es parteiübergreifen­den Wider­stand gegen Trumps Pläne, US-Militär aus Deutschland abzuziehen. Daher ist hier eine Revision eher zu erwarten als bei Lasten­teilung und Rüstungskontrolle.

US-Truppenabzug aus Deutschland

Seit Ende des Kalten Krieges haben alle US-Präsidenten die Personalstärke der US-Statio­nie­rungs­truppen in Deutschland und Euro­pa ver­min­dert. Unter George H. W. Bush und Bill Clin­ton sank sie zwischen 1990 und 2001 von 278 000 um über die Hälfte. 2003 um­fassten US-Heeres- und Luftwaffen­kräfte in Europa noch etwa 100 000 Angehörige.

Der sicherheitspolitische Hintergrund erlaubte und erforderte dies. Der Warschau­er Pakt hatte sich aufgelöst, frühere Mit­gliedstaaten traten der Nato bei, die UdSSR war zerfallen, und Russland hielt die Ab­rüstungsverpflichtungen des Vertrags über Konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE) vollständig ein. Das Bedrohungsbild des Kalten Krieges war geschwunden. Nun kon­zentrierten sich die USA und ihre Verbündeten auf neue Herausforderungen jenseits der europäischen Peripherie.

Nach dem Irakkrieg 2003 setzte sich der US-Truppenabzug aus Europa unter den Präsidenten George W. Bush und Barack Obama fort, auch nach der Intervention Russlands 2014 in der Ukrai­ne. Zu Beginn der Präsidentschaft Trumps betrug die Personalstärke der US-Heeres- und Luft­waffenkräfte in Europa noch 55 000, davon 36 000 in Deutschland.

Truppenreduzierungen sind also kein Novum. Sie waren regelmäßig sicherheitspolitisch begründet und vorher bilateral und bündnisgemeinsam abgesprochen wor­den. Dies hat sich unter Präsident Trump ge­ändert. Er hatte im Frühjahr 2020 öffent­lich angekündigt, 12 000 Soldaten aus Deutschland abzuziehen, als Strafe, dass es seinen »Zahlungsverpflichtungen« für die Verteidigung nicht nach­komme. Dabei spielte er auf die Vereinbarung des Nato-Gipfels von Wales 2014 an, dass die Ver­bündeten ihre Verteidigungsausgaben bis 2024 auf die Zielmarke von 2% des Brutto­inlandsprodukts (BIP) zubewegen sollten. Statt politischer Konsultationen informierten die USA die Alliierten über bereits beschlossene Truppenverschiebungen.

Zudem kritisierte Trump, mit dem Nord-Stream-2-Projekt erhöhe Berlin die deutsche Ab­hängigkeit von russischem Erdgas, wäh­rend die USA Deutschland ver­tei­digten. US-Sanktionen sollten Berlin zwin­gen, das Pro­jekt aufzugeben und stattdes­sen amerikanisches Flüssiggas zu kaufen.

Dagegen erklärte das Pentagon vor dem US-Kongress, es gebe wichtige militärpoli­tische Gründe dafür, 6 400 Soldaten in die USA zurückzuholen und 5 600 innerhalb Europas zu verlegen. Es gehe darum, die Allian­zen zu stärken, Russland und China abzu­schrecken, den Schutz der Al­liierten zu sichern, die strategische Flexi­bilität zu ver­bessern und die familiären Belastungen der Soldaten zu mindern.

So soll das US-Streitkräftekommando für Europa (USEUCOM) in Stuttgart-Vaihin­gen an den Sitz des Obersten Kommandos der Alliierten Kräfte in Europa (SHAPE) ins belgi­sche Mons verlegt werden, um Effizienz­gewinne zu erzielen. Die Aufgabenbereiche seien redundant, zumal ein ameri­kani­scher General in Personalunion Befehls­haber beider Hauptquartiere ist.

Ferner sollen drei Brigadekommandos, ein Flugabwehr- und ein Pionier­batail­lon nach Belgien verlegt werden. Die F-16-Jagd­bomberstaffel in Spangdahlem soll künftig vom italienischen Aviano aus fle­xibler im Schwarzmeerraum und im östlichen Mittel­meer operieren können.

Kernstück des Stationierungskonzepts ist die Rückverlegung der gepanzerten Stryker-Brigade (2. Kavallerieregiment) aus dem bayerischen Vilseck in die USA. Dies soll größere strategische Flexibilität für Einsätze in Europa oder Asien schaffen und so die globale Abschreckung stärken. Vor­rang habe aber weiterhin ihr rotierender Einsatz in den Nato-Frontstaaten.

Wohin das US-Afrikakommando aus Stuttgart verlegt werden soll, ist unklar. Maß­geblich für den Abzug ist offenbar nur die Personalobergrenze von 24 000, die der Präsident für Stationierungskräfte in Deutsch­land angeordnet hat. Kein Thema waren die in die Kritik geratenen Drohneneinsätze in Afrika und im Nahen Osten.

Im August 2020 vereinbarten die USA zudem bilateral mit Polen, ein Vorauskom­mando des V. US-Korps in Posen einzurichten und die 4 500 US-Soldaten im Lande um zusätzliche 1 000 aufzustocken. Dies soll die schnelle Truppenverstärkung aus den USA um bis zu 20 000 erleichtern.

Der Rückgriff auf den Bilateralismus statt auf bündnisgemeinsames Handeln ist nicht neu. Schon Präsident George W. Bush und sein Verteidigungsminister Donald Rums­feld haben 2003 versucht, das »neue« gegen das »alte« Europa auszuspielen, als es darum ging, eine »Koalition der Willigen« für den An­griff auf den Irak zu bilden.

2007 informierte die Bush-Administra­tion die Verbündeten über die rotierende Stationierung von Kampfelementen des Heeres und der Luftwaffe in den Nato-Beitrittsstaaten Rumänien und Bulgarien. Dies hatte negative Folgen für die Haltung Russlands zum KSE-Vertrag, da beide Län­der der »östlichen Gruppe« der Vertrags­staaten angehören. Gleichwohl war das Bündnis nicht vorab konsultiert worden.

Mit Polen und Tschechien vereinbarte die Bush-Regierung 2007 ebenfalls bilateral, dort Elemente der stra­tegischen Raketenabwehr zu stationieren. Erst Präsident Obama kehrte 2010 zum bündnisgemeinsamen Handeln beim Aufbau einer euro­päischen Nato-Raketenabwehr zurück.

Prinzipiell wird auch die künftige Biden-Regierung – wie schon die Obama-Admini­stration – das Ziel verfolgen, Trup­pen in die USA zurückzuholen oder mit Blick auf Ostasien umzugruppieren. Das galt aber vor allem den Interventionskräften in den Kon­fliktgebieten des Mitt­leren Ostens. Trump will den Abzug aus Afghanistan und Irak be­schleunigen, um noch während seiner Präsi­dentschaft Erfolge vorweisen zu können.

Der von Trump angeordnete Teilabzug aus Deutschland fügt sich jedoch nur schein­bar in dieses Konzept ein. Zweifel weckt besonders die Begründung des Pentagon für die Verlegung der Stryker-Brigade. In Bayern verfügt sie über modern­ste Ausbildungseinrichtungen. Von dort aus kann sie schneller in die Einsatzräume in Osteuropa gebracht werden als von einer Basis in den USA. Auch die Rechtfertigung für den Aufbau eines Korpskommandos in Polen steht im Wider­spruch zu dem Konzept. Für einen Einsatz im Westpazifik ist der luftbeweg­liche Ver­band bisher nicht vorgesehen.

Die Zusammenlegung von USEUCOM mit SHAPE und die Verlegung der F-16-Staffel waren mit Blick auf Krisen im Nahen Osten schon 2013 erwogen, aber nicht verwirklicht worden. Washington hatte erkannt, dass die US-Truppen in Deutschland in erster Linie amerikanischen Interessen dienen, denn dort befindet sich die logistische Dreh­scheibe für Einsätze in Europa, Afrika oder im Nahen und Mittleren Osten. Seit­her hat sich die Risikoeinschätzung der Nato wieder auf Europa konzentriert.

Zwar mag es gute Gründe für die Straffung der Führungsstruktur und Personaleinsparungen geben. Doch mit seiner Erklä­rung bezweckte das Pentagon offenbar auch, die öffentliche Ankündigung des Prä­siden­ten als strategisch folgerichtig darzustellen. Im US-Kon­gress hat dies nicht überzeugt. Dort regt sich parteiübergreifender Wider­stand. Im National Defence Authorization Act für 2021 hat er im Dezem­ber 2020 dem Prä­sidenten eine Frist von 120 Tagen gesetzt, um die Vor­teile des Abzugs für die Sicher­heit der USA dar­zulegen. So lange bleibt er ausgesetzt.

Selbst ein Veto Trumps hätte in der kurzen verbleibenden Amtszeit keine ir­reversiblen Folgen mehr. Die Entscheidung über den Abzugsplan obliegt also Präsident Biden. Er wird ihn wahrscheinlich korri­gieren, aber nicht in Gänze verändern, zu­mal auch Biden die strategische Flexibilität gegenüber China stärken will. Einige Ele­mente dürften unangetastet bleiben, allen voran die zusätzliche Stationierungs­verein­barung mit Polen, die Präsident Duda am 9. November 2020 ratifiziert hat.

Ausgleich der Verteidigungslasten

Der Ruf aus Washington nach einer fairen Lastenteilung im Bündnis wurde schon wäh­rend des Kalten Krieges parteiübergreifend erhoben und vor Trump auch vom demo­kratischen Präsidenten Barack Oba­ma unter­stützt. Während dessen Amtszeit haben sich die Verbündeten in Wales 2014 darauf ge­einigt, ihre Verteidigungsausgaben bis 2024 der Zielmarke von 2% des BIP anzunähern.

Der Beschluss hat den Willen ausgedrückt, die Abschreckung zu stärken und die Lasten ausgewogener zu verteilen. Es ist aber zweifelhaft, ob dieser relative Wert das richtige Kriterium dafür ist. Die beweg­liche Zielmarke hängt von der schwankenden Entwicklung der jeweiligen Volkswirt­schaften ab. Prosperieren sie wie im Falle Deutsch­lands vor der Covid-19-Krise, laufen die Verteidigungsausgaben der Wirtschaftsentwicklung stetig hinterher, selbst wenn sie kontinuierlich erhöht wer­den. Gerät die Wirtschaft in die Krise, steigt der rela­tive Anteil der Verteidigungsausgaben, ohne dass ein Cent mehr ausgegeben wird.

So nahm Griechenland nach der Finanzkrise von 2009 einen Spitzenplatz in der Nato ein, weil seine Wirtschaftsleistung zurückging, während die Militärausgaben sich kaum veränderten. Deutschland hat seinen Militäretat zwischen 2014 und 2020 von 34,75 auf 51,54 Milliarden Euro ange­hoben, zu realen Preisen um 34,9%. Dies ist eine der höchsten Stei­gerungsraten welt­weit. Ihr relativer Anteil am BIP blieb je­doch 2019 bei etwa 1,38%, da die Wirtschafts­leistung ebenfalls stieg. Die Covid-19-Krise hat dies verändert. Sinkt die Wirtschaftskraft, könnte der Anteil der Militärausgaben am deutschen BIP 2020 auf 1,57% wachsen.

Relative BIP-Anteile sagen aber nichts über reale Verteidigungsleistungen aus. Die globale Rangliste werden die USA mit etwa 785 Milliarden US-Dollar, also fast 40% aller Militärausgaben, weiterhin anführen, mit deut­lichem Vorsprung vor China (über 260 Milliarden). Damit zeichnen die USA für fast 72% aller Verteidigungsausgaben der Nato verantwortlich, obwohl ihr Anteil an den kumulierten BIP der Allianzpartner nur etwa 52% beträgt. Diese Rechnung scheint auf ein eklatantes Ungleichge­wicht hinzu­weisen, geht aber an der Realität vorbei. Die USA geben diese Summe nicht nur für die Nato aus, sondern um ihre dominante Welt­machtstellung zu bewahren. Daher sind auch ihre Bündnisse in anderen Weltregionen zu betrachten, zu denen die Verteidigungsausgaben Japans, Südkoreas, Austra­liens, Israels und anderer Alliierter erheb­lich beitragen.

Doch auch Deutschland nimmt eine Spitzenposition bei den globalen Verteidigungsausgaben ein. Mit etwa 56 Milliarden US-Dollar dürfte es 2020 hinter den USA, China, Indien, Russland, Saudi-Arabien und Großbritannien, aber vor Frankreich liegen. Russlands Verteidigungs­etat ist 2019 auf rund 64 Milliarden US-Dollar gesunken. Wie bei China ist aber auch hier die höhere Inlandskaufkraft zu berücksichtigen.

Entscheidend für die Verbesserung der Verteidigungskraft sind jedoch die Ergeb­nisse von Militärausgaben. Dabei sind die jeweiligen Anteile für das Personal, den Betrieb und die Infrastruktur ebenso zu betrachten wie Investitionen in Forschung, Entwicklung und Beschaffung, um Kampf­kraft, Mobilität und Durchhaltefähigkeit zu erhöhen. Dafür hat die Nato einen Anteil von 20% der nationalen Verteidigungshaushalte vereinbart. Vor allem hat sie kon­krete Streit­kräfteziele gesetzt, um die operativen Aufgaben erfüllen zu können.

Sie sind der Maßstab, an dem sich die deutschen Verteidigungsausgaben messen lassen müssen. Angesichts ihrer Höhe mag verblüffen, dass hier noch immer großer Nachholbedarf besteht. Das zeigt, dass Geld nicht alles ist, wenn es nicht zielgerichtet ausgegeben wird. Dazu bedarf es einer effi­zienten und schlanken Streit­kräftestruktur, welche die Kopflastigkeit zugunsten von mehr Kampfkraft verändert, die Verantwortung für Auftrag, Personal und Material wieder in eine Hand legt und organisch ein­satzfähige, bewegliche und durchhaltefähige Großverbände schafft.

Wie seine Vorgänger wird der gewählte Präsident Biden auf einem höheren deut­schen Verteidigungsbeitrag bestehen, wenn auch im Ton konzilianter als Trump. Dabei kann Berlin auf die Steigerungsraten seines Verteidigungsetats verweisen. Es sollte aber auch an die bedeutenden Bei­träge zur Stabi­li­sierung von Krisengebieten in Europa und außerhalb erinnern sowie an seine zentrale Rolle als logistische Drehscheibe und Sitz wichtiger Kommandobehörden. Dennoch muss Deutschland Umfang und Qualität seiner realen Beiträge zur Bündnisverteidigung erhöhen. Dazu müssen die drei Divisio­nen des Heeres voll ausgestattet und zum Einsatz befähigt werden. Andern­falls wird Berlin die Alliier­ten kaum von seiner Rüs­tungskontrollagenda überzeugen können.

Konventionelle Rüstungskontrolle

Während die konventionelle Rüstungskontrolle seit zwei Jahrzehnten erodiert, haben die militärischen Spannungen in den geo­graphischen Berührungszonen zwischen der Nato und Russland seit 2014 besorgniserregend zugenommen, vor allem im Balti­kum. Der KSE-Vertrag kann dort aus vier Gründen nicht sta­bilisierend wirken. Erstens konzentrierte sich der Begrenzungs­ansatz von 1990 auf die Trup­pen­entflechtung zwi­schen den dama­ligen Blöcken in Deutschland. Zweitens verhinderten die USA, dass das Anpassungsabkom­men von 1999 in Kraft trat. Drittens suspendierte Russland den Vertrag Ende 2007. Viertens kehrten die baltischen Staaten nicht in den Vertrag zurück, als sie 2004 der Nato beitraten.

Deshalb hat der deutsche OSZE-Vorsitz 2016 einen Strukturierten Dialog in der OSZE eingeleitet. Damit soll die konventionelle Rüstungskontrolle in Europa erneuert und den aktuellen politischen und techno­logischen Entwicklungen an­gepasst werden. Der Ansatz wird von einer Grup­pe gleich­gesinnter Staaten unter­stützt. Die USA und Nato-Frontstaaten dagegen ­lehnen ihn ab, denn die Allianz habe sich in Wales 2014 entschieden, die Sicherheits­kooperation mit Russland abzu­brechen, bis es seine Inter­vention in der Ukraine und die Annexion der Krim beendet hat (no busi­ness as usual).

Gleichwohl will die Nato das politische Wiener Dokument der OSZE »modernisieren«, um russische Großübungen trans­parenter und berechenbarer zu machen. Das Dokument hat den Zweck, die Sicher­heitskooperation und die konventionelle Rüs­tungskontrolle in Europa und Zentral­asien durch zusätzliche vertrauens- und sicher­heitsbildende Maßnahmen (VSBM) zu stär­ken. Sie umfassen den Sicherheitsdialog, Informationsaustausche, Überprüfungs­besuche, Inspektionen und Maß­nahmen zur Risikoreduzierung. Um über­raschende Trup­penaufmärsche zu verhin­dern, müssen größere Übungen angekün­digt und beob­ach­tet werden, wenn sie defi­nierte Schwellenwerte überschreiten.

Das Dokument kann den rechtsverbindlichen KSE-Vertrag aber nicht ersetzen. Es sieht keine Begrenzungen für die ständige Dislozierung von Kampftruppen und Waffensystemen vor, erfasst nur einen Teil moderner militärischer Kräfte und Fähig­keiten, erlaubt Ausnahmen für Alarmübungen und lässt nur wenige Quoten für die Verifikation zu. Die USA traten bisher zwar dafür ein, die Schwellenwerte zu sen­ken und die Verifikationsquoten anzuheben. Doch lehnten sie ab, das Dokument zu er­weitern, um moderne Fähigkeiten etwa von Seestreitkräften und weitreichenden Rake­ten und Marschflugkörpern zu erfassen. Genau daran aber ist Russland interessiert.

Die USA vertreten keine konsistente Hal­tung. Sie wollen ein Dokument überarbeiten, das der Sicher­heitskooperation dient, sperren sich aber gegen die Erneuerung der konventionellen Rüstungskontrolle, da die Sicherheitskooperation mit Russland nicht möglich sei. Aber auch Veränderungen des Wiener Dokuments können nur im Kon­sens der OSZE beschlossen werden, bedür­fen also der Zustimmung Russlands. Mos­kau wiederum blockiert diesen »Modernisierungs­ansatz«, denn die Nato betreibe eine russlandfeindliche Politik und die USA seien nicht bereit, die konventionelle Rüstungskontrolle zu erneuern und dabei moder­ne militärische Fähigkeiten einzubeziehen.

Der Strukturierte Dialog droht zwischen den wechselseitigen Blockaden zerrieben zu werden. So versuchen die USA und einige Nato-Frontstaaten, vom Kern des deutschen An­satzes, also der konventionellen Rüs­tungs­kontrolle, abzulenken und den Dialog auf vermutete Absichten oder hybride Akti­vitä­ten Russlands zu konzentrieren.

Der Regierungswechsel in Washington bietet Berlin die Gelegenheit, nicht nur für einen Kurswechsel der USA im Strukturierten Dialog der OSZE einzutreten, sondern auch für stabilisierende Maßnahmen in den Nato-Russland-Berührungszonen. Vorrangig geht es darum, die militärischen Spannungen abzubauen, Fehleinschätzungen der zahlreichen militärischen Aktivitäten zu verhindern, Zwischenfälle zu vermeiden und – falls nötig – zu deeskalieren.

Dazu ist es erforderlich, den militärischen Dialog im Nato-Russland-Rat wieder­aufzunehmen und direkte Verbindungen zwischen den operativen Hauptquartieren beider Seiten herzustellen. Für das Ver­hal­ten der Schiffs- und Flugzeugbesatzungen bei Zusammentreffen auf und über der Hohen See oder an den Landgrenzen sollten einheitliche Regeln vereinbart werden, um Zwischenfälle zu verhindern. Bisher gibt es dazu nur bilaterale Abkommen zwischen zwölf Nato-Staaten und Russland.

Vernünftig wäre auch, dem Trend zu weiteren Truppenstationierungen in den sensiblen geographischen Räumen ent­gegen­zuwirken, dort Umfang, Dauer und Häufigkeit größerer militärischer Übungen einzuschränken sowie die stän­dige oder vorübergehende Truppenpräsenz einem intrusiven Informations- und Verifikationsregime zu unterwerfen. Auch weitreichende Angriffswaffen sollte es erfa­ssen, wenn sie sich in Schlagdistanz befin­den.

Dafür reichen die Regeln des Wiener Dokuments nicht aus. Vielmehr sollte auf die Erfahrungen des KSE-Vertrags und des KSE-Anpassungsabkommens zurückgegriffen werden. Als Ausgangspunkt kann die Bestimmung der Nato-Russland-Grundakte von 1997 dienen, keine zusätzlichen sub­stantiellen Kampftruppen dauerhaft zu stationieren. Russland hat 1999 in der KSE-Schluss­akte und bilateral mit Norwegen reziproke Verpflichtungen für Teile des Militärbezirks West und die Regionen Kali­ningrad und Pskow übernommen. Diese Verpflichtungen bedürfen nun der Defi­ni­tion. Bilaterale Stationierungsabkommen sollten davon nicht ausgenommen werden.

Stabilitätsmaßnahmen zwischen der Nato und Russland stehen nicht im Wider­spruch zu den Vereinbarungen von Wales. Sie sind nicht »business as usual«, sondern notwendig, um in der aktuellen Krise eine weitere Eskalation zu verhindern und Kosten zu vermeiden, die einträten, wenn sich die Lage verschärft.

Für die Wiederaufnahme des militärischen Dialogs und stabilisierender Maß­nahmen zwischen der Nato und Russland scheint es im demokratischen Lager mehr Verständnis zu geben als unter der Trump-Administration. Das ist aber keineswegs ein Selbstläufer, gehört doch die geopolitische Rivalität mit Russland zu den parteiübergreifenden Konstanten der US-Sicherheits­poli­tik. Auch die Obama-Adminis­tration war skeptisch gegenüber dem deutschen Ansatz, die konventionelle Rüstungs­kontrolle in Europa wiederzubeleben.

Daher müssen neue VSBM gut begründet und zäh verhandelt werden. Es sollte ver­deutlicht werden, dass sie Angriffsoptionen beschränken, die kollektive Verteidigung stärken und Alliierte nicht isolieren.

Open-Skies-Vertrag

Die USA haben den Vertrag über den Offe­nen Himmel (OHV) am 22. Mai 2020 gekün­digt und am 22. November 2020 verlassen. Das stieß im US-Kongress vor allem im demo­kratischen Lager auf Unverständnis. Der OHV erlaubt kooperative Be­obach­tungs­flüge über den Territorien der Ver­trags­staaten im OSZE-Raum zwischen Vancouver und Wladiwostok. Er bezweckt, die Trans­parenz militärischer Aktivitäten auch in Krisenzeiten zu gewährleisten und eine zu­sätzliche Verifikation von Rüstungs­kontroll­vereinbarungen zu ermöglichen. Damit trägt er zur Vertrauensbildung und zu einer realistischen Lagebeurteilung bei.

Washington wirft Moskau vor, es habe unzulässig die Flugstrecken über der Ex­kla­ve Kaliningrad auf 500 Kilometer begrenzt und einen zehn Kilometer breiten Streifen an den umstrittenen Grenzen Georgiens fest­gelegt, der nicht überflogen werden darf. Hintergrund ist der Konflikt um Abchasien und Südossetien. Seit 2017 haben auch die USA russische OH-Flüge über Alaska und den pazifischen Inseln eingeschränkt.

Zwar teilen die Nato-Verbünde­ten die Bedenken der USA, doch hat nur Geor­gien erklärt, es handle sich um einen substan­ti­ellen Vertragsbruch. Daher hat es 2012 den OHV gegenüber Russland einseitig suspen­diert. Aber noch im Februar 2020 fand ein Beobachtungsflug der USA über Kalinin­grad statt, an dem Beobachter aus zwei baltischen Staaten teilnahmen. Russland erlaubte eine (geringfügige) Ausdehnung der Flugstrecke über die einseitige Begrenzung hinaus.

Deutschland, Frankreich und mehrere andere Verbündete traten mit einer gemein­samen Erklärung am 22. Mai 2020 dafür ein, den OHV zu erhalten. Bei der Flug­quotenverteilung für 2021 und der Über­prüfungskonferenz Anfang Okto­ber 2020 bekannten sich alle verbleibenden 33 Ver­tragsstaaten einschließlich Russlands dazu, den OHV weiter zu implementieren.

Das Team um den gewählten Präsidenten Biden hat die Absicht verkündet, in den Ver­trag zurückzukehren. Es will geltend machen, dass die Kündigung nationalem Recht widersprach, da Trump sich nicht an die Auflagen des National Defense Authoriza­tion Act 2020 vom Dezember 2019 gehalten hat. Demnach hätte er die Alliierten kon­sultieren und dem Kongress mindestens 120 Tage vor der Kündigung berichten müs­sen, warum ein Verbleib im OHV nicht im nationalen Sicherheitsinteresse ist.

International hat das Argument jedoch keinen Bestand, da die USA den OHV regel­konform gekündigt haben und völkerrechts­wirksam aus dem Vertrag ausgetreten sind. Wenn die Biden-Administration ihm wieder beitreten will, muss sie neu über die Bei­trittsbedingungen verhandeln. Dabei könn­ten sich die ungelösten Dispute mit Russ­land über gegenseitige Flugstreckenbegrenzungen erneut als Hindernis erweisen. Ungewiss ist, ob Biden für die Ratifikation eines (Wieder-) Beitritts die nötige Zwei­drittelmehrheit im Senat erzielen kann. Er bleibt auf eine parteiübergreifende Mehr­heit dort angewiesen.

Zwar hinge die Mehrheitsbeschaffung auch von den Beitrittsbedingungen ab, doch käme es vor allem auf die Bereitschaft der Republikaner an, Entscheidungen der Trump-Regierung zu revidieren. Ein Ansatz­punkt dafür könnte die Erklärung von Außenminister Mike Pompeo vom 22. Mai 2020 sein. Demnach seien die USA bereit, die Kündigung zu überdenken, sollte Russ­land seine Implementierungsdefizite be­heben. Obwohl Moskau jüngst Flexibilität bei der Abstimmung der Flugstrecken zeigte, scheint es sich nun aber darauf ein­zurichten, Erfahrungen mit der Umsetzung des Vertrags ohne die USA zu sammeln.

Somit stellt sich die Frage, welche Optionen es unterhalb der Schwelle eines völker­rechtswirksamen Wiederbeitritts der USA gibt, um ihre künftige Beteiligung an OH-Beobachtungsflügen zu ermöglichen. Dass der Kongress dafür Mittel bereitstellt, ist ausgeschlossen, wenn er die Ratifikation verweigert. Zwar könnte der neue Präsident kostenfreie russische Beobachtungsflüge über den USA erlauben. Das erscheint aber unrealistisch, weil die Fragen der Reziprozität und der Immunitäten für die Inspektoren offenblieben.

Zudem hegt ein großer Teil des Kongresses den Verdacht, dass Russland den OHV zur Spionage nutzt. Dass der Argwohn unbegründet ist, weil die Flüge und die Nutzung der Sensoren gemeinsam geplant und kontrolliert werden, dürfte die repub­likanische Mehrheit nicht überzeugen.

Verbündete könnten erwägen, US-In­spek­toren an eigenen Beobachtungsflügen über Russland teilnehmen zu lassen. Dies dürfte allerdings daran scheitern, dass der Vertrag verbietet, Erkenntnisse aus OH-Beob­achtungsflügen an Nichtvertragsstaaten weiterzugeben. Dennoch bleibt es im Interesse Europas, den Vertrag zu erhalten.

Schlussfolgerungen

Die Biden-Admi­nis­tration hat nur begrenzte Optionen, den Open-Skies-Vertrag wieder anzuwenden. Das zeigt, wie schwer es für sie wird, sich vom Erbe der Trump-Ära zu lösen. Die innenpolitische Polarisierung wird auch ihr erklärtes Ziel behindern, die nukleare Rüstungskontrolle voranzubringen. Zwar kann sie den New-START-Vertrag in seiner derzeitigen Fassung noch vor dem Ende seiner Laufzeit am 5. Februar 2021 um bis zu fünf Jahre verlängern und auf die Zustimmung Russlands rechnen. Für die Ratifikation eines Folgevertrags indes braucht sie eine parteiübergreifende Mehr­heit im Senat. Da auch die Demokraten darauf beharren, künftig alle strategischen und sub­strategischen Angriffswaffen Russ­lands und Chinas ein­zubeziehen, wäre dies zumindest auf der Sachebene denkbar. Aber parteitaktische Erwägungen könnten dem im Wege stehen.

Sie könnten auch die Aussichten trüben, die konventionelle Rüstungskontrolle in Europa voranzubringen. Viel wird davon abhängen, ob und inwieweit sich die mili­tärischen Spannungen mit Russland in Europa abbauen lassen und eine weitere Eskalation ver­mieden werden kann. Um neue stabilisierende Maßnahmen zu för­dern, sollte Berlin nicht nur bei den gleich­gesinnten Staaten werben, sondern vor allem in Washington, Moskau und bei den Nato-Front­staaten. Die Bündnispartner werden nur zustimmen, wenn die aktuellen Konflikte eingedämmt und deutsche Streit­kräfte befähigt werden, glaubwürdig zur Bündnisverteidigung beizutragen.

Für die langfristige Zukunft der trans­atlantischen Allianz stellen sich jedoch strukturelle Fragen. Die nahezu gleich­gewichtigen Lager in den polarisierten Ver­einigten Staaten verfügen über eine Ver­hinderungsmacht, mit der sie die Handlungsfreiheit der jeweiligen Administration einschränken können. Eine Rückkehr Trumps oder eine künftige Administra­tion ähn­licher Couleur sind nicht ausgeschlossen.

Zudem gibt es parteiübergreifende Gemeinsamkeiten in der grundsätzlichen Orientierung der Außen- und Sicherheitspolitik der USA. Neben der Ein­dämmung Russlands, des Irans und Nord­koreas zählt dazu vor allem die geopolitische Rivalität mit China. Washington wird Europa dazu drängen, Partei zu ergreifen.

Die Interessen der USA werden sich daher auch künftig nicht in jedem Fall mit denen Deutsch­lands und Europas decken. Lang­fristig wird Europa seine politische Bewe­gungsfreiheit gegenüber nichteuro­päischen Mächten nur dann wahren kön­nen, wenn der Theoriediskussion über seine »strategische Autonomie« auch Taten folgen. Dafür ist die enge Zusammenarbeit Deutschlands mit Frankreich eine Conditio sine qua non. Berlin sollte sich für eine gemeinsame strategische Agenda öffnen.

Oberst a. D. Wolfgang Richter ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2020

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