In den letzten zwei Jahren hat Belarus Trägersysteme erworben, welche Minsk die Fähigkeit zum Einsatz von Nuklearwaffen verschaffen. Zwar behaupten Moskau und Minsk, dass sich mittlerweile russische Atomsprengköpfe auf belarussischem Boden befinden. Gesichert ist dies allerdings nicht, und manches spricht dagegen. Dabei dürften die beiden Regierungen unterschiedliche Motive für eine mutmaßliche Stationierung russischer Kernwaffen in Belarus haben. In erster Linie geht es offenbar darum, die Handlungsfreiheit der Nato gegenüber Belarus einzuschränken. Eine nukleare Bedrohung für Europa bedeuten solche Maßnahmen kaum. Deshalb sollte die Nato auch ihre Nuklearpolitik wegen einer solchen Verlegung nicht verändern. Belarus’ nukleare Aufwertung unterstreicht aber die wachsende Bereitschaft des Kremls, Kosten und Risiken in Kauf zu nehmen, um seine Ziele zu erreichen. Europa muss daher seine konventionellen militärischen Fähigkeiten weiter ausbauen.
Ende April 2024 verabschiedete Belarus eine neue Militärdoktrin. Darin wird die Stationierung russischer Atomwaffen in Belarus als »wichtiges Element der präventiven Abschreckung potentieller Gegner vor einem bewaffneten Angriff« bezeichnet. Im Mai und Juni 2024 ließ Minsk Raketen und Kampfflugzeuge inspizieren und führte Übungen durch, um die Planung für den Einsatz von Nuklearsprengköpfen zu überprüfen. Fast drei Jahrzehnte nach dem Abzug sowjetischer Atomsprengköpfe und Trägersysteme aus Belarus scheinen nun solche Waffen oder zumindest eine gewisse Fähigkeit, sie einzusetzen, in das Land zurückgekehrt zu sein. Wie es dazu kam, welche Beweggründe die Entscheidungsträger in Minsk und Moskau hatten und welche militärischen und politischen Implikationen sowie rechtlichen und normativen Konsequenzen sich daraus ergeben, ist ausschlaggebend dafür, wie Europa und die Nato reagieren sollten.
Zögerliche Entscheidungsfindung
Seit mehreren Jahren wird in Moskau und Minsk über die potentielle Stationierung russischer nuklearfähiger Systeme in Belarus diskutiert. Konkretere Entscheidungen scheinen jedoch erst schrittweise im Krieg Russlands gegen die Ukraine gefallen zu sein.
Im November 2021 ermunterte Aljaksandr Lukaschenka, der autoritäre Präsident von Belarus, Moskau erstmals öffentlich, russische Atomwaffen in Belarus zu stationieren. Wenig später, fast gleichzeitig mit der großangelegten russischen Invasion der Ukraine, schuf Minsk die rechtlichen Grundlagen für einen solchen Schritt. Er werde Russland aber nur dann um die Verlegung von Atomwaffen nach Belarus bitten, wenn der Westen solche Waffen in Polen oder Litauen stationiere, sagte Lukaschenka im Februar 2022.
Schließlich kristallisierte sich im Laufe des Sommers 2022 heraus, dass Belarus zwei Typen nuklearfähiger Trägersysteme zur Verfügung gestellt werden sollten: Erstens sollten belarussische Su-25-Kampfflugzeuge umgerüstet und belarussische Piloten dafür in Russland ausgebildet werden. Zweitens sollten russische Iskander-M-Systeme, mit denen sich sowohl konventionell als auch nuklear bewaffnete ballistische Raketen und Marschflugkörper starten lassen, nach Belarus verbracht werden. Ende 2022 erklärte die belarussische Regierung, die Iskander-M-Systeme seien nun verlegt und für den Kernwaffeneinsatz zertifiziert. Offizielle Verlautbarungen sowie militärische Anpassungen und Übungen deuten darauf hin, dass Belarus in der Lage sein will, einige Dutzend russische Atomwaffen mittels eigener Trägersysteme einzusetzen. Moskau indes betonte im Juni und im Dezember 2022, eine Verlegung russischer Nuklearsprengköpfe in Friedenszeiten nach Belarus sei ausgeschlossen.
Anfang 2023 änderte Russland seine Haltung jedoch völlig. Im März verkündete der russische Präsident Wladimir Putin, die notwendigen Lagerstätten sollten Anfang Juli fertiggestellt sein, im Juni erklärte er, bis Ende des Jahres sollten Nuklearsprengköpfe nach Belarus gebracht werden. Auch sollten belarussische Luftstreitkräfte für einen potentiellen Atomwaffeneinsatz ausgebildet werden. Im April 2023 verbrachten belarussische Einheiten einige Wochen in Russland, um den Einsatz des Iskander-Systems zum Abschuss von Atomwaffen zu trainieren. Ende des Monats meldete das belarussische Verteidigungsministerium, fertig ausgebildete Luftstreitkräfte hätten mit Su-25-Flugzeugen geübt. Einen Monat später unterzeichneten die Verteidigungsminister der beiden Seiten ein Abkommen über die logistischen Details der Stationierung russischer Nuklearsprengköpfe in Belarus.
Russland habe schon die ersten Kernwaffen verlegt, sagte Putin Mitte Juni 2023. Zugleich behauptete Lukaschenka, die meisten der zu erwartenden Atomwaffen befänden sich schon in Belarus. Auch ließen US-Geheimdienste und britische Minister schon im Sommer 2023 durchblicken, Russland habe einige Nuklearwaffen in Belarus disloziert. Dies bestätigten mehrere westliche Offizielle im März 2024. Außerdem legt die russisch-chinesische gemeinsame Erklärung nach dem Treffen Putins mit Xi Jinping im Mai 2024 nahe, dass Moskaus Atomwaffen im Ausland stationiert seien.
Trotz dieser Erklärungen bleibt unklar, wie weit die Verlegung russischer Kernwaffen tatsächlich vorangeschritten ist. Satellitenbilder deuten darauf hin, dass an unterschiedlichen Stützpunkten Umbauarbeiten stattfinden. Das gilt besonders für das zentralbelarussische Assipowitschy, in dessen Nähe Iskander-Systeme aufgestellt wurden, und für den Luftwaffenstützpunkt Lida im Westen des Landes, wo anscheinend umgerüstete Su-25-Kampfflugzeuge stehen.
Doch lässt sich nicht mit Sicherheit feststellen, ob Nuklearwaffen sich schon dort befinden oder ob diese Umbaumaßnahmen der langfristigen Lagerung von Nuklearsprengköpfen dienen. Die meisten Unklarheiten ergeben sich daraus, dass die Ausbaustandards der Lagerstätten weit unter jenen liegen, die Russland normalerweise für Bunker seiner taktischen Atomwaffen verlangt. Auch müssten gemäß russischen Vorschriften für die Kontrolle der Gefechtsköpfe dauerhaft Truppen der 12. Hauptdirektion des russischen Verteidigungsministeriums (12. GUMO) in Belarus stationiert werden. Es gibt Hinweise darauf, dass sich solche Truppen in diesen Stützpunkten aufhalten. Dauer und Ausmaß dieser Verlegung sind indes nicht bekannt. Nicht zuletzt weist bei den beobachteten Übungen nichts darauf hin, dass die Iskander-Besatzungen das Zertifizierungsniveau erreicht haben, das Russland von seinen eigenen Truppen verlangt. Solange diese Bedingung nicht erfüllt ist, wäre eine Verlegung militärisch sinnlos. Das lässt darauf schließen, dass die entsprechenden Waffen möglicherweise noch nicht vor Ort sind.
Angesichts dieser Unklarheiten ist auch denkbar, dass die belarussischen Standorte hauptsächlich politische Zwecke erfüllen oder als Transitlager für russische Kernwaffen im Krisenfall vorgesehen sind und nicht als dauerhafte Lagerstätten. Selbst wenn Russland den Bau von Sprengkopflagern in Belarus vollendet, ist also nicht garantiert, dass Kernwaffen in Friedenszeiten überhaupt oder gar dauerhaft nach Belarus verlegt werden.
Minsk setzt wohl auf Abschreckung
Das Verhalten und die Äußerungen der Entscheidungsträger in Minsk gestatten nur vorläufige Rückschlüsse auf ihre Motive. Vieles lässt jedoch vermuten, dass defensive militärische Erwägungen im Sinne der Regimesicherheit die Hauptrolle für Belarus’ Verhalten gespielt haben. Auch eine Vertiefung der bilateralen Beziehung zu Russland in Anbetracht des Ukraine-Krieges und der innenpolitischen Unruhen kann eine Triebfeder gewesen sein.
Für Abschreckung als Hauptfaktor des Minsker Beschlusses spricht einiges. Erstens lautet die Maxime der Offiziellen in Minsk, der Westen müsse im Krisenfall vor konventionellen Angriffen auf Belarus abgeschreckt werden. In Äußerungen der Regierung und staatlichen Dokumenten wird die Dislozierung russischer Kernwaffen als Rückversicherung gegenüber der Nato und als Symbol russischer Sicherheitsgarantien für Belarus bezeichnet. Ein Indiz dafür ist auch der öffentliche Druck, den Lukaschenka auf Putin im Hinblick auf die Stationierung nuklearfähiger Systeme ausgeübt hat. Zudem entsprechen diese Beweggründe den Erwartungen, wie sich autokratische Staaten typischerweise verhalten: Ein Krieg könnte Lukaschenkas autoritäres Regime stärken, indem er die Bevölkerung gegen einen gemeinsamen Feind vereint. Wahrscheinlicher ist aber, dass ein externer Konflikt innenpolitische Umwälzungen und den Zusammenbruch des Regimes zur Folge hätte.
Zweitens sind Übungen und Simulationen Anzeichen dafür, dass Minsk einen begrenzten konventionellen Angriff westlicher Akteure auf das eigene Land befürchten könnte. Ferner erscheint es rational, dass die belarussische Führung versucht, den Westen von dieser Option abzuschrecken. Sollte zum Beispiel ein Konflikt des Westens mit Russland über die Ukraine eskalieren, hätten westliche Regierungen die Möglichkeit, gegen Moskaus Verbündete in Minsk ein Zeichen zu setzen, und müssten sich weniger über Vergeltung und nukleare Eskalation sorgen, als wenn sie russisches Staatsgebiet direkt angriffen. Auch wenn Russland Kernwaffen in der Ukraine einsetzen sollte, würde Minsk fürchten, dass der Westen eher bereit wäre, Gewalt gegen Belarus anzuwenden, als den Atomwaffenstaat Russland anzugreifen.
Drittens war Minsk stets bemüht, seine Fähigkeit zum Einsatz von Nuklearwaffen im Extremfall zu bekräftigen. So suggerierten Lukaschenka und sein Verteidigungsminister wiederholt, Belarus spiele eine Rolle im Entscheidungsmechanismus für den Einsatz von Atomwaffen, obschon das belarussische Außenministerium zuvor bestätigt hatte, dass Russland die Kontrolle über diese Waffen nicht an Minsk übergeben würde. Moskau hat diese Äußerungen – wohl um die Abschreckungsbemühungen Minsks nicht zu beeinträchtigen – nie allzu deutlich dementiert, aber mehrmals betont, dass Russland die volle Kontrolle behalten werde.
Die Plausibilität dieser Argumentation wird durch Probleme der erweiterten Abschreckung in Frage gestellt, welche die Entscheidungsträger und Entscheidungsträgerinnen in Westeuropa seit Jahrzehnten plagen. Solange Russland über die Kontrolle verfügt, ist ungewiss, ob eine bloße Stationierung auf belarussischem Boden und die Fähigkeit der Minsker Streitkräfte zum Atomwaffeneinsatz als ausreichende Abschreckung gelten können. Kaum jemand bezweifelt, dass eine Invasion wesentlich riskanter wäre. Aus belarussischer Sicht bleibt jedoch fraglich, wie viel Abschreckung gegen einen begrenzten konventionellen Angriff auf militärische Kräfte erreicht wird. Zudem ist Moskaus Nukleardoktrin zweideutig: Einerseits sollen Russlands Atomstreitkräfte auch zur Abschreckung von Aggressionen gegen Verbündete dienen. Andererseits legt sie nahe, dass Moskau den Atomwaffeneinsatz nur dann in Betracht zöge, wenn ein Verbündeter mit ballistischen Raketen oder mit Massenvernichtungswaffen angegriffen würde.
Es ist darum plausibel, dass Minsk den Einsatz instrumentalisierte, um die Beziehungen zu Moskau zu stärken – und zwar aus innen- wie außenpolitischen Gründen. Innenpolitisch könnte die angeschlagene Regierung versucht haben, Protesten im eigenen Land vorzubeugen, indem sie zeigte, dass Russland Belarus für wichtig genug hielt, um dort Atomwaffen zu stationieren, und daher nicht zögern würde, zum Schutz seiner bevorzugten Führung einzugreifen. Überdies könnte ein neues Maß an militärischer Stärke als Instrument gesehen werden, das Militär an Lukaschenka zu binden und die Führungsstärke der Entscheidungsebene zu demonstrieren. Auf außenpolitischer Ebene könnten die Entscheidungsträger in Minsk beabsichtigt haben, den Druck des Westens durch eine Annäherung an Moskau zu begrenzen und damit vor Augen zu führen, dass ein gewaltsamer Sturz des Lukaschenka-Regimes nicht gelingen kann und daher jede Unterstützung für die Opposition zwecklos wäre. Ein weiteres Ziel könnte gewesen sein, die Beziehungen zu Moskau vorteilhafter zu gestalten. Belarus’ Rolle als Russlands antiwestlicher Vorposten hatte Lukaschenka bereits Ende der 1990er Jahre erfolgreich inszeniert. Sinn und Zweck war, damit Forderungen des Kremls nach realen Integrationszugeständnissen abwehren zu können. Im Fall der Stationierung russischer Kernwaffen könnte der belarussische Staatschef ebenfalls versucht haben, sich für den Kreml unentbehrlich zu machen, um anderen Formen russischen Drucks zuvorzukommen.
Gegen diese Argumentation der Annäherung spricht, dass die Opposition im eigenen Land schwach ist, die Abhängigkeit Minsks von Moskau schon beträchtlich ist und die Bemühungen des Westens, einen Keil zwischen Russland und Belarus zu treiben, offenbar nur wenig Aussicht auf Erfolg haben. Eine umstrittene Regierung in Minsk könnte diese Einschränkungen indes anders wahrnehmen und die Risiken für ihr Überleben viel höher einschätzen.
Motivlage in Moskau
Die verfügbaren Informationen erlauben nur eine vorläufige Analyse der Überlegungen Russlands zur Kernwaffenstationierung in Belarus. Hauptmotive scheinen bündnispolitische Beweggründe, militärische Erwägungen, eine Signalwirkung gegenüber dem Westen und vielleicht auch Verhandlungsstrategien gegenüber den USA gewesen zu sein.
Erstens dürfte Russland, spiegelbildlich zu Minsks Entscheidungsgründen, eine Verlegung von Nuklearwaffen nutzen, um seinen Einfluss auf Belarus auszuweiten. Angesichts von Putins Bestreben, Belarus’ Unabhängigkeit einzuschränken oder gar aufzuheben, hatte Lukaschenka über zwei Jahrzehnte versucht, zwischen Ost und West zu lavieren. Doch seit den Straßenprotesten im Sommer 2020 sah Minsk keinen anderen Ausweg, als sich vermehrt auf Moskau zu verlassen. Gleichzeitig hat Belarus gute Gründe, die Annäherung Russlands zu fürchten. Moskaus Krieg könnte das Land in einen Konflikt mit dem Westen hineinziehen. Zumindest könnte Russland verlangen, an seiner Seite in den Krieg einzutreten. Ein russischer Sieg über die Ukraine könnte zu einem Präzedenzfall für russisches Handeln gegenüber Belarus werden. Deshalb hat Moskau ein Interesse daran, Lukaschenkas Bewegungsfreiheit zu verringern. Die Dislozierung sensibler Militäreinrichtungen auf belarussischem Territorium bietet hierfür konkrete, strategische und symbolische Mittel.
Zweitens kann Moskau Minsks Hilfe gut für seine militärischen und politischen Ziele in der Ukraine gebrauchen und dürfte nachdrücklich bestrebt sein, die Sicherheitsbedenken der belarussischen Führung zu zerstreuen. Russland nutzte belarussisches Gebiet, um im Februar 2022 in die Ukraine einzumarschieren. Belarus leistete logistische Unterstützung, bildete Truppen aus, stellte Waffen zur Verfügung, behandelte Verwundete und reparierte Ausrüstung – Maßnahmen, die teilweise bis heute anhalten. Zudem genießt Russland weitreichende militärische Privilegien in Belarus. Die Minsker Truppen nahmen aber nicht an den Kampfhandlungen teil – sie könnten Moskau allenfalls geringe taktische und vor allem symbolische Vorteile verschaffen. Dennoch müssten Moskaus Planer befürchten, dass Minsk im Krisenfall Angst vor westlichen Angriffen haben und den russischen Handlungsspielraum reduzieren könnte. Bis zu einem gewissen Grad scheint es möglich, diesen unerwünschten Entwicklungen durch Stationierung von nuklearfähigen Trägersystemen oder gar von Kernwaffen vorzubeugen.
Drittens könnten die Verlegungen ein weiteres Signal an die westlichen Staaten sein. Russland hat im Zuge des Krieges gegen die Ukraine eine Reihe nuklearer Signale gesendet, durch Aussagen ebenso wie durch Übungen. Damit wollte Moskau höchstwahrscheinlich sowohl westliche Akteure vor einem Angriff auf sich und seine Verbündeten abschrecken als auch den Westen dazu bewegen, seine Unterstützung für die Ukraine herunterzufahren. Russland nahm nicht nur normative und diplomatische Kosten in Kauf, wie bei seinen Anspielungen auf Atomschläge und Drohungen damit, sondern auch finanzielle und militärische Kosten und ein gewisses Maß an Unsicherheit (costly signaling) durch die Übergabe der Iskander-Systeme und die mutmaßliche Stationierung von Nuklearwaffen. Auf diese Weise wollte Russland womöglich seine Entschlossenheit unterstreichen, Eskalationsrisiken im Konflikt mit der Nato einzugehen.
Schließlich könnte Russland auch versuchen, die in Belarus stationierten Atomwaffen als Verhandlungsmasse in künftigen Rüstungskontrollverhandlungen mit den USA einzusetzen. Moskau hat in diesem Zusammenhang bereits kundgetan, dass die russischen Nuklearwaffen so lange in Belarus bleiben werden, bis die USA ihre eigenen Kernwaffen aus Europa abziehen. Diese Maximalforderung erscheint unrealistisch, zumal die Diskrepanz zwischen den rund 100 nichtstrategischen Nuklearwaffen der USA in Europa und den 1.000 bis 2.000 derartigen Waffen Russlands sehr groß ist. Gleichwohl ist denkbar, dass Russland das Stationierungsthema bei Verhandlungen über ein begrenztes Rüstungskontrollabkommen aufs Tapet bringt.
Bedenken im Kontext mit dem Erwerb von Atomwaffen durch Belarus scheinen keine Rolle gespielt zu haben. In der Vergangenheit haben Staaten häufig Kernwaffen im Ausland stationiert, um ihre Verbündeten von Proliferation abzuhalten – vor allem wenn der Verbündete dazu technisch in der Lage oder politisch entschlossen war. Allerdings deutet wenig darauf hin, dass hier dieser Mechanismus dahintersteckt: Belarus hat kein Interesse bekundet, selbst Nuklearwaffen zu besitzen, und es ist ungewiss, wie hoch die technologische Schwelle für Minsk wäre. Auch die überwältigende Abhängigkeit Minsks von Moskau spricht nicht gerade für diese Erklärung. Fehlende Beweise bedeuten jedoch nicht, dass diese Argumentation völlig ausgeschlossen werden kann.
Auswirkungen auf militärische Kräfteverhältnisse
Minsks nuklearfähige Trägersysteme und Moskaus vermutete Stationierung von Nuklearwaffen in Belarus verringern zwar den westlichen Handlungsspielraum. Sie erhöhen Russlands Offensivfähigkeit aber kaum und beeinflussen die Gefahr einer nuklearen Eskalation nur geringfügig.
Erstens wäre im Krisenfall, etwa bei einer nuklearen Eskalation des Krieges in der Ukraine, selbst ein begrenzter konventioneller Angriff des Westens auf Belarus mit deutlich höheren Risiken verbunden. Westliche Planer könnten wohl nicht gänzlich ausschließen, dass die Trägersysteme in Belarus mit Atomwaffen bestückt und diese eingesetzt werden. Damit stünden die erwähnten Stützpunkte und Nuklearlager vermutlich ganz oben auf der westlichen Zielliste, was die Eskalationsrisiken merklich erhöhen und abschreckend wirken würde.
Zweitens verändern sich Moskaus militärische Optionen voraussichtlich nur marginal. Schon jetzt kann Russland mit seinen diversen nuklearfähigen Systemen Ziele in ganz Europa bedrohen. Auch stationiert Russland bereits Iskander-Systeme in der weit westlich gelegenen Exklave Kaliningrad und könnte im Kriegsfall auch eigene Raketensysteme einschließlich taktischer Nuklearwaffen aus Zentrallagern nach Belarus verlegen. Im Gegenteil dürfte es Russlands Fähigkeit zur Kriegsführung eher beeinträchtigen, dass Moskau seine knappen Raketensysteme schlechter ausgebildeten und weniger vertrauenswürdigen belarussischen Bedienern überlässt.
Militärisch bringt auch die Entscheidung für die Su-25 fast nichts. Die belarussischen Flugzeuge könnten Russland eine gewisse Redundanz bieten. Sie können aber nur Gravitationsbomben einsetzen und wären gegen moderne westliche Luftverteidigungssysteme wahrscheinlich wirkungslos. Zudem kann Russland den belarussischen Luftraum schon seit langem für den Einsatz eigener, wirkungsvollerer Kampfflugzeuge nutzen. Alternativ hätten auch die neueren belarussischen Su-30-Kampfflugzeuge umgerüstet werden können, was Lukaschenka selbst vorgeschlagen hatte. Dies wäre aber wahrscheinlich teurer und langwieriger gewesen. Da Schnelligkeit und Wirtschaftlichkeit Vorrang vor militärischer Wirksamkeit hatten, dürfte Russland diese Systeme in erster Linie für politische Zwecke und weniger für militärische Operationen vorgesehen haben.
Drittens dürfte sich die Wahrscheinlichkeit eines absichtlichen, irrtümlichen oder versehentlichen Nuklearwaffeneinsatzes allein durch das russisch-belarussische Arrangement nur geringfügig erhöhen.
Ein russischer Kontrollverlust im Krisenfall kann nicht völlig ausgeschlossen werden. Einerseits wären die belarussischen Streitkräfte nicht zwangsläufig in der Lage, einen nuklearen Sprengkopf einzusetzen, selbst wenn sie die Kontrolle über alle seine physischen Komponenten erlangten und ihn zusammenbauen könnten. Russische nichtstrategische Nuklearsprengköpfe sind durch Sicherheitsvorrichtungen (permissive action links) verriegelt, die zum Entsperren Codes erfordern. Andererseits schließen verschiedene Experten nicht aus, dass diese Systeme mit genügend Aufwand geknackt werden könnten. Dies würde das Risiko einer absichtlichen Eskalation etwas erhöhen, da Minsk weit mehr zu verlieren hätte als Moskau.
Zu einer irrtümlichen Eskalation kann es kommen, wenn beispielsweise die Gegenseite bestimmte Schritte missversteht und dadurch zu einer eskalativen Reaktion angespornt wird. Theoretisch ist denkbar, dass die Nato bei einer Verlegung russischer Nuklearsprengköpfe nach Belarus oder innerhalb des Landes im Krisenfall Schwierigkeiten hätte, die genauen Absichten Moskaus oder Minsks zu verstehen. Ein derartiger Schritt ließe sich als bloßes Signal, aber auch als Vorbereitung auf einen möglichen Atomwaffeneinsatz interpretieren. Sollten die heute verfügbaren Kommunikationskanäle nicht zur Deeskalation beitragen und sich die Situation aufschaukeln, ist eine militärische Reaktion des Westens vorstellbar.
Eine derartige Dynamik wäre aber stark kontextabhängig und auch mit den in Russland gelagerten nichtstrategischen Kernwaffen denkbar. Daher ist fraglich, ob das Risiko einer irrtümlichen Eskalation allein aufgrund des russisch-belarussischen Arrangements steigt. Verschlechtern würde sich die Situation jedoch, sobald Belarus die Kontrolle über die russischen Waffen übernähme.
Schließlich gilt das Gleiche für die versehentliche Eskalation, die etwa durch eine technische Panne ausgelöst werden kann. Auch hier dürfte sich nicht viel ändern, solange Russland seine nuklearen Sicherheits- und Sicherungsstandards im Zusammenhang mit der Stationierung in Belarus nicht absenkt. Dennoch wäre die Situation im Krisenfall wesentlich schwerer berechenbar.
Rechtliche und normative Dimensionen
Darüber hinaus stellt sich aus rechtlich-normativer Perspektive die Frage, ob die mutmaßliche Stationierung russischer Nuklearwaffen mit dem Völkerrecht vereinbar ist und welche Implikationen sie für das nukleare Nichtverbreitungsregime haben könnte.
Schon zu Zeiten der Sowjetunion stationierte Moskau in der damaligen Belarussischen Sozialistischen Sowjetrepublik unterschiedliche Nuklearwaffensysteme. Nach dem Zerfall der Sowjetunion setzten sich sowohl Russland als auch der gesamte Westen dafür ein, dass die in Belarus, Kasachstan und der Ukraine verbliebenen Atomwaffen an Russland übergeben werden. Im Budapester Memorandum über Sicherheitsgarantien für Belarus verpflichtete sich Minsk 1994, als Gegenleistung für Sicherheitszusagen seitens der ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates der Ver einten Nationen diese Waffen an Russland zurückzugeben.
Das Memorandum wurde von Lukaschenkas Vorgänger Stanislau Schuschkewitsch ausgehandelt. Dieser hatte das Land bereits im Juli 1993 als erstes postsowjetisches Land, welches Nuklearwaffen geerbt hatte, mit dem Status eines Nichtnuklearwaffenstaats in den Nichtverbreitungsvertrag (NVV) geführt. Lukaschenka, der im Sommer 1994 zum Präsidenten gewählt wurde, hatte erst nach erheblichem Druck der USA und Russlands einer Rückgabe der in Belarus stationierten Kernwaffen zugestimmt. Die letzten von ihnen wurden bis Ende 1996 zurück nach Russland gebracht.
So stellt sich die Frage der rechtlichen Vereinbarkeit einer erneuten Stationierung von Nuklearwaffen in Belarus. Bei dem Memorandum handelt es sich nur um ein politisch bindendes Dokument, weshalb es schwierig ist, eine Rechtsverletzung festzustellen.
Der NVV hingegen verpflichtet Nuklearwaffenstaaten, keine Kernwaffen und keine sensiblen Technologien an Nichtnuklearwaffenstaaten weiterzugeben, während Letztere verbindlich erklärten, keine solchen Waffen zu entwickeln. Der Vertrag verbietet jedoch nicht die Stationierung von Nuklearwaffen in Drittstaaten, solange die Kontrolle darüber bei den eigentlichen Besitzern verbleibt. Diese Praxis verfolgt auch die Nato mit der nuklearen Teilhabe, in deren Rahmen die USA seit Jahrzehnten Atomwaffen in derzeit fünf europäischen Staaten lagern. Trotz gegenteiliger politischer Erklärungen aus dem globalen Süden dürfte es nicht leicht sein, einen mit der nuklearen Teilhabe der Nato vergleichbaren Mechanismus zwischen Russland und Belarus als völkerrechtswidrig darzustellen.
Dennoch: Sollte Moskau tatsächlich dafür gesorgt haben, dass russische Kernwaffen nach Belarus gebracht wurden, scheint es damit gegen den eigenen langjährigen Anspruch zu verstoßen und ein höchst inkonsistentes Narrativ zu präsentieren. Seit 2015 kritisiert Russland regelmäßig die nukleare Teilhabe der Nato als Verstoß gegen den Nichtverbreitungsvertrag – ungeachtet dessen, dass sich Washington mit Moskau während der Verhandlungen zum NVV in den 1960er Jahren detailliert über die Vereinbarkeit der nuklearen Teilhabe mit dem Vertrag verständigt hatte. Moskau scheint die Verlegung von Atomwaffen nach Belarus mit dem Verweis auf den Unionsstaat rechtfertigen zu wollen, den Minsk und Moskau 1999 gegründet haben. Dies kann freilich nicht überzeugen, da der Unionsstaat kein international anerkanntes Völkerrechtssubjekt ist. Gleichzeitig verglich Putin die Stationierung von Atomwaffen in Belarus direkt mit der nuklearen Teilhabe der Nato und untergrub damit sein eigenes Unionsargument.
Darüber hinaus halten sich die normativen Auswirkungen dieser Entwicklungen offenbar in Grenzen. Erstens scheint Russlands Drohgebaren im Krieg gegen die Ukraine eine weitaus größere Verletzung internationaler Normen im Bereich der Nuklearwaffenproblematik darzustellen als die Verlegung nach Belarus. Und doch scheint selbst dieses Verhalten die Nichtverbreitungsdiplomatie kaum zu beeinträchtigen. Zweitens haben Moskau und Peking zwar wiederholt die nukleare Teilhabe der Nato kritisiert. Doch diese Praxis besteht seit Jahrzehnten, sodass eher nicht damit zu rechnen ist, dass Russlands Nachahmung nuklearer Teilhabe das internationale Kernwaffenregime wesentlich beeinflusst. Drittens schließlich scheinen internationale Regelwerke vor allem durch negative Handlungen von Staaten beschädigt zu werden, welche diese Regeln und Normen zuvor nachdrücklich unterstützt haben. Russland aber hat in den letzten Jahren und erst recht seit dem Angriffskrieg gegen die Ukraine kaum mehr Interesse an Nichtverbreitung von Kernwaffen gezeigt und anderen Interessen klar Vorrang eingeräumt.
Aus diesen Gründen dürfte eine Stationierung russischer Atomwaffen in Belarus das Miteinander auf dem diplomatischen Parkett erschweren. Gravierende Folgen für das internationale Nuklearwaffenregime im Ganzen dürften indes nicht auftreten.
Empfehlungen für Europa und die Nato
Die mutmaßliche Verlegung von Kernwaffen nach Belarus ändert kaum etwas an Russlands nuklearen Fähigkeiten. Daher haben diese Schritte nur wenig direkte Konsequenzen für die militärische Sicherheit Europas. Es wäre verfehlt, als Reaktion auf Moskaus Maßnahmen die nukleare Abschreckung der Nato zu überdenken. Auch wenn das russische Vorgehen in Belarus viele dazu veranlassen wird, die Stationierung von Atomwaffen in Osteuropa zu verlangen, tut das Bündnis gut daran, diese Forderungen für sich separat zu bewerten.
Diese Analyse stützt jedoch die These, dass das russische Vorgehen in Belarus von Moskaus zunehmender Risikofreude zeugt. Im Vergleich zu all seinen nuklearbezogenen Äußerungen im Krieg gegen die Ukraine verursacht Moskaus Übergabe von Trägersystemen und mutmaßliche Stationierung von Atomwaffen in Belarus sowohl Kosten als auch Risiken. Sollten sich die Waffen tatsächlich in Belarus befinden, geht Russland das Risiko ein, dass Minsk irgendwann in der Zukunft die Kontrolle über diese Atomsprengköpfe erlangt oder sich weigert, sie zurückzugeben. Vor allem aber sind die Trägersysteme und die Lagerstätten der Sprengköpfe, die nahe der Westgrenze von Belarus stationiert sind, äußerst anfällig für westliche Aufklärung und Gegenmaßnahmen. Im Falle eines konventionellen Angriffs westlicher Akteure müssten sie daher entweder nach einer Vorwarnung eingesetzt werden oder den Angriff abfangen, was das Risiko einer nuklearen Krise erhöhen würde.
In Anbetracht von Russlands Risikobereitschaft und Entschlossenheit muss die Nato jetzt ihre konventionelle Verteidigung einschließlich Luftverteidigung, Raketenabwehr und Vergeltungsoptionen verstärken. Die europäischen Regierungen sollten eng mit Washington zusammenarbeiten, um neue konventionelle Strategien für ein gemeinsames Eskalationsmanagement zu entwickeln, während sie gleichzeitig ihre eigenen Rüstungsprogramme vorantreiben.
Dr. Liviu Horovitz ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik. Lydia Wachs promoviert in Stockholm. Das Aktuell entstand im Rahmen des Projekts STAND (Strategic Threat Analysis and Nuclear (Dis-)Order). Der Autor und die Autorin danken Karina Matvienko für die exzellente Forschungsassistenz.
Dieses Werk ist lizenziert unter CC BY 4.0
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ISSN (Online) 2747-5018
DOI: 10.18449/2024A28