Die durch das Regime von Machthaber Alexander Lukaschenko herbeigeführte Krise an der polnisch-belarussischen Grenze ist der Versuch, mit dem Leid von Flüchtenden politischen Druck auf die EU auszuüben und sie zu spalten. Mitnichten handelt es sich dabei aber um hybride Kriegsführung, meint Marco Overhaus.
Tausende Menschen harren an der Grenze zwischen Belarus und Polen aus und hoffen auf Einreise in die EU. Der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko hat sie als Vergeltung für Sanktionen gegen sein Land gezielt aus Krisengebieten einfliegen lassen. Spitzenpolitiker in Berlin und Brüssel sprechen von einem »hybriden Krieg«, die baltischen Staaten warnen vor einem Angriff auf das Bündnisgebiet, mit dem sich die Nato befassen müsse. Auch Lukaschenko und Russlands Präsident Wladimir Putin befeuern diese Kriegsrhetorik. Beide Länder spiegeln Besorgnis über eine vermeintliche Nato-Truppenkonzentration an der Grenze zu Belarus vor. Berichten zufolge patrouillierten jüngst nuklearwaffenfähige russische Bomber auf belarussischer Seite. Die deutsche Politik sollte nicht in diese Falle einer herbeigeredeten Militarisierung tappen.
Jeder Disput wird zum Großmachtkonflikt erhoben
Der häufige Rückgriff auf den Begriff der »hybriden Kriegsführung« passt zu einer Entwicklung, die zunehmend den sicherheits- und verteidigungspolitischen Diskurs in Deutschland und anderen EU- beziehungsweise Nato-Staaten prägt. Es gehört mittlerweile zum Allgemeinplatz, dass die Grenzen zwischen Krieg und Frieden verschwimmen. Überall herrscht scheinbar Krieg – so ist die Rede nicht nur von hybriden Kriegen, sondern auch von Informationskriegen, Cyberkriegen und Wirtschaftskriegen. Nahezu jeder internationale Disput wird im Lichte des allgegenwärtigen Paradigmas der »neuen Großmachtkonflikte« gedeutet – mit dem Potential einer militärischen Eskalation.
Nicht alles davon ist falsch – und vieles davon ist auch nicht wirklich neu. Aber Krieg ist und bleibt im Kern die organisierte Anwendung von militärischer Gewalt, um politische Ziele zu erreichen. Dabei haben Staaten und nicht-staatliche Akteure immer auch nicht-militärische Mittel flankierend eingesetzt, um die Propagandaschlacht zu gewinnen oder um den Willen des Gegners zu schwächen, dessen Gesellschaften zu spalten. Die technologischen und gesellschaftlichen Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte haben dies enorm erleichtert. Auch wirtschaftliche Instrumente wie Sanktionen oder Boykotte können flankierend zu militärischen Mitteln angedroht oder eingesetzt werden. Die grundlegende Definition von hybrider Kriegsführung ist jedoch, dass es sich um den integrierten Einsatz von militärischen und nicht-militärischen Mitteln oder Taktiken im Rahmen eines übergeordneten Ziels beziehungsweise Plans handelt.
Krieg hat politische und rechtliche Folgen
Dieses Kriterium erfüllt die aktuelle Situation an der polnisch-belarussischen Grenze nicht. Selbst wenn diese Krise vom Kreml ausgeheckt wurde – von einem integrierten Einsatz von Migranten in Belarus sowie von prorussischen Separatisten und russischen Truppen in der Ostukraine im Rahmen eines Gesamtplans zu sprechen, überspannt den argumentativen Bogen dann doch.
Die Situation als hybriden Krieg zu bezeichnen hat konkrete Folgen, denn ein Krieg rechtfertigt politisch und rechtlich andere Regeln und Mittel als Frieden. Durch die Verwendung des Kriegsbegriffs steigt die Gefahr, dass damit die menschenrechtswidrige Behandlung von Flüchtenden gerechtfertigt wird. Aus Krieg folgt eine große Dringlichkeit zum Handeln, während zugleich der politische Spielraum schwindet. Es stellt sich auch die Frage, wer gegen wen Krieg führt. Belarus gegen Polen, so dass ein Nato-Bündnisfall vorliegt? Oder Russland gegen die Nato? Die Ausweitung des Kriegsbegriffs verwässert zudem die jeweiligen Verantwortungsbereiche und Handlungsfelder von inneren Sicherheits- wie von Streitkräften. Sollte dann nicht auch die Bundeswehr an der deutsch-polnischen Grenze eingesetzt werden oder die Nato ihre schnelle Eingreiftruppe an die polnisch-belarussische Grenze schicken?
Die Politik muss Grenzen zwischen Krieg und Frieden ziehen
Der Umstand, dass die Grenzen zwischen Krieg und Frieden immer mehr verschwimmen, wird nicht nur von abstrakten sicherheitspolitischen Entwicklungen und strukturellen internationalen Veränderungen verursacht, sondern ist ganz wesentlich auch das Ergebnis der Sprache und des Handelns von politischen Akteuren, auch im Westen. Die Politik steht deshalb in der Verantwortung, weiterhin Grenzen zwischen Krieg und Frieden zu definieren. Die Migrationskrise an der polnisch-belarussischen Grenze ist bislang kein Krieg. Es kann nicht sicher ausgeschlossen werden, dass sie militärisch eskaliert. Politikerinnen und Politiker in Deutschland und der EU sollten einer solchen Entwicklung jedoch nicht rhetorisch den Weg bereiten und auf entsprechende Provokationen aus Minsk und Moskau auch nicht eingehen. Sie sollten der Herausforderung durch Migration und Flüchtlinge mit politischen Mitteln begegnen – auch und gerade wenn ein Staat sie als Druckmittel einsetzt. Neben weiteren wirtschaftlichen Sanktionen der EU gegen Belarus wäre der Aufbau einer funktionierenden Asylpolitik in der Europäischen Union ein wesentlicher Schritt dazu.
Die Bundesregierung sollte Lukaschenkos Erpressung ins Leere laufen lassen, indem sie zeigt, dass sie eine solche Zuwanderung bewältigen kann. Sie sollte sich auch für humanitäre Hilfe, neue Sanktionen und für Informationskampagnen in den Herkunftsländern einsetzen, meinen Steffen Angenendt, David Kipp und Janis Kluge.
Zur Einordnung einer aktuellen Erscheinungsform des Krieges