Am 26. Oktober 2019 nahmen rund 200 000 Menschen am »Taiwan LGBT 2019 Pride« in Taipeh teil. Der größte Pride Asiens stand in diesem Jahr unter dem Motto »Together, Make Taiwan Better«. Gefeiert wurde, dass Taiwan am 17. Mai 2019, dem Internationalen Tag gegen Homo-, Bi-, Inter- und Transphobie, als erstes Land in Asien die Ehe für alle eingeführt hat. Deutschland und die EU sollten vor diesem Hintergrund den Austausch mit Taiwan suchen, um LGBTI*-Rechte in Asien effektiver zu fördern. Ein Blick in die asiatischen Nachbarstaaten zeigt, dass dort zum Teil ähnliche Hürden bestehen, wie Taiwan sie auf dem Weg zur Ehe für alle überwunden hat.
Wie in den Jahren zuvor nahmen Delegationen der Vertretungen der EU, Deutschlands und anderer Mitgliedstaaten der Union am Pride-Marsch 2019 teil. Damit zeigten sie ihre Solidarität und Unterstützung für LGBTI*(Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender, Intersex)-Rechte. Auch in anderen Ländern waren Vertretungen der EU und ihrer Mitgliedstaaten bei solchen Veranstaltungen zugegen. Über 50 Staaten, fast alle von ihnen in Europa oder Amerika, haben bislang gleichgeschlechtliche Ehen oder eingetragene Partnerschaften eingeführt. Die meisten Staaten, die Homosexualität noch kriminalisieren, liegen im Nahen Osten und in Afrika.
Indem es das Gesetz über die gleichgeschlechtliche Ehe verabschiedete, folgte Taiwans Parlament einem Urteil des Verfassungsgerichts vom Mai 2017. Die Richterinnen und Richter sahen die Beschränkung der Ehe auf einen Mann und eine Frau als Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz und die Freiheit der Eheschließung, wie sie die Verfassung garantiert. Der Fortschritt bestätigt Taiwans Status als »human rights leader in the Asia Pacific region«, so die Vertretung der EU in Taipeh in ihrem jüngsten Bericht über die bilateralen Beziehungen.
Die Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe ist das Ergebnis eines langen Ringens der LGBTI*-Bewegung um Gleichberechtigung, eng verknüpft mit dem Kampf für Demokratie und Menschenrechte auf der Insel.
Als 1987 das Kriegsrecht aufgehoben wurde, begann ein Prozess der Liberalisierung. Die ersten freien Wahlen fanden in den 1990er Jahren statt. Für die LGBTI*-Gemeinschaft in Taiwan eröffneten sich neue Freiräume. Während der 1990er und 2000er Jahre gründeten sich Menschenrechtsorganisationen, die sich für LGBTI*-Rechte einsetzten. Im Jahr 2003 wurde der erste LGBT Pride in Taipeh organisiert. Diese von da an jährlich stattfindende Veranstaltung entwickelte sich rasch zum größten Pride Asiens. 2004 führte die Regierung in allen Schulen »gender equity education« ein. Die Unterrichtseinheiten behandeln unter anderem Geschlechtergerechtigkeit und LGBTI*-Rechte. Ebenfalls in den 2000er Jahren wurden Gesetze verabschiedet, die Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung verbieten. Die erste Gesetzesinitiative einer Abgeordneten zur Einführung der Ehe für alle datiert aus dem Jahr 2006. Weitere folgten in späteren Jahren, fanden aber keine Mehrheit im Parlament.
Im Oktober 2015 verkündete die Präsidentschaftskandidatin Tsai Ing-wen, sie unterstütze die Ehe für alle. Drei Monate später wurde sie zur Präsidentin gewählt, als erste Frau in der Geschichte Taiwans. Ihre Partei, die Demokratische Fortschrittspartei (Democratic Progressive Party, DPP) errang zum ersten Mal die absolute Mehrheit der Parlamentssitze. Doch obwohl Tsai Ing-wen im Wahlkampf die Ehe für alle befürwortet hatte, unternahmen Präsidentin und Parlament keine Schritte, sie auch einzuführen. Zu groß war die Angst vor dem Widerstand konservativer Kräfte, zu wichtig waren andere politische Projekte.
Im Mai 2017 fällte das Verfassungsgericht das wegweisende Urteil, eingetragene Partnerschaften oder die Ehe für alle seien zu ermöglichen. Dem Parlament wurde auferlegt, das Urteil binnen zwei Jahren umzusetzen. Vorerst änderte sich aber nichts an der zögerlichen Haltung der Regierung. Sie fürchtete, von der Wählerschaft abgestraft zu werden, und konnte sich nicht einigen, ob eine Ehe oder nur eine eingetragene Partnerschaft eingeführt werden sollte. Das Gericht hatte offengelassen, welche Lösung zu bevorzugen sei.
Die Gegner der gleichgeschlechtlichen Ehe nutzten die Passivität der Regierung und des Parlaments und initiierten Referenden: Im November 2018 stimmten über 60 Prozent der Wahlberechtigten dafür, die Ehe Mann und Frau vorzubehalten und gleichgeschlechtlichen Paaren nur eingetragene Partnerschaften zu gestatten.
Kurz vor Ablauf der Frist, die das Verfassungsgericht gesetzt hatte, verabschiedete das Parlament schließlich das Gesetz über die gleichgeschlechtliche Ehe. Es soll den Positionen der Gegner ebenso Rechnung tragen wie der Forderung der LGBTI*-Bewegung nach Gleichberechtigung. Zum einen wurde der Begriff »Ehe« in Titel und Text des Gesetzes vermieden – bis auf eine einzige Erwähnung, die aber entscheidend für die offizielle Bezeichnung als Ehe ist. Zum anderen wurde das Recht auf Adoption begrenzt. Der eine Partner kann lediglich die biologischen Kinder des anderen adoptieren. Die Rechte der Ehepartner sind aber die gleichen wie bei heterosexuellen Ehen.
Warum ist Taiwan Asiens Pionier bei der Ehe für alle?
Es gibt vielfältige Gründe dafür, dass Taiwan als erstes Land in Asien die Ehe für alle eingeführt hat. Erstens sind die progressiven Richterinnen und Richter des Verfassungsgerichts zu nennen, die über Parteigrenzen hinweg die Ehe für alle ermöglicht haben. Die Hälfte derjenigen, die später für das Urteil stimmten, war von Präsidentin Tsai ernannt worden, die andere Hälfte von ihrem Vorgänger Ma Ying-jeou aus der Partei Kuomintang (KMT). Im Parlament war es am Ende die DPP, die mit ihrer Mehrheit die Einführung der Ehe für alle durchsetzte. Aber auch ein Viertel der oppositionellen KMT-Abgeordneten votierte für das Gesetz.
Zweitens galt Taiwan schon vor Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe als fortschrittlichstes Land bei LGBTI*-Rechten in Asien. Taiwans LGBTI*-Bewegung, zusammen mit Menschenrechts- und Frauenrechtsorganisationen, war die treibende Kraft in diesem Kontext.
Drittens konnte sich die LGBTI*-Bewegung auf Taiwans junge Generation stützen. Über 80 Prozent der Taiwanerinnen und Taiwaner unter 30 Jahren befürworten die Ehe für alle. Die Jugend war auch bereit, sich an zahlreichen Demonstrationen für die gleichgeschlechtliche Ehe zu beteiligen und aktiv für dieses Menschenrecht zu kämpfen.
Diese drei Gruppen, nämlich die progressiven Kräfte in Politik und Justiz sowie große Teile der Zivilgesellschaft und der jungen Generation, bilden die Säulen der Demokratie Taiwans. Demokratie und Menschenrechte sind integrale Bestandteile der taiwanischen Identität geworden. Die Befürworterinnen und Befürworter der gleichgeschlechtlichen Ehe konnten an diese Identität und ihre Werte anknüpfen. Laut Indizes wie Freedom of the World oder dem Democracy Index der Economist Intelligence Unit steht Taiwan zusammen mit Japan und Südkorea an der Spitze der Staaten Asiens, was den Grad von Demokratie sowie die Umsetzung bürgerlicher und politischer Menschenrechte betrifft.
Schließlich gab es einen positiven, wenn auch nicht entscheidenden internationalen Einfluss. So war es hilfreich, dass Staaten wie die USA, Deutschland, Frankreich und das Vereinigte Königreich (Nordirland ab 2020) die Ehe für alle eingeführt haben und dass die EU und ihre Vertretungen Unterstützung für die Anliegen der LGBTI* signalisierten. Viele Mitglieder der taiwanischen Elite haben Teile ihrer Ausbildung in westlichen Ländern erhalten und verfolgen die menschenrechtlichen Fortschritte dort.
Der Ausgang der Referenden hat aber auch gezeigt, dass traditionelle Vorstellungen über Ehe und Familie sowie Skepsis gegenüber LGBTI*-Rechten in Taiwan nach wie vor weit verbreitet sind. Der aktivste Widerstand gegen die Einführung der Ehe für alle kam in Taiwan von der christlichen Gemeinschaft, die weniger als fünf Prozent der Bevölkerung ausmacht. Diese Gruppe ist zwar klein, aber gut organisiert und erhält zum Teil finanzielle Unterstützung von evangelikalen Gruppen aus den USA. In ihrer Argumentation gegen die Ehe für alle konnten christliche Gruppen an traditionelle konfuzianische Einstellungen anknüpfen, die vor allem unter Älteren viele Anhänger haben. Die Fortführung der Familienlinie über einen männlichen Nachkommen ist eine zentrale Verpflichtung im Konfuzianismus und mit der gleichgeschlechtlichen Ehe schwer vereinbar.
Die Konfliktlinien (»cleavage«) bei der Ehe für alle verlaufen in Taiwan zwischen den Generationen sowie zwischen religiös-traditionell und liberal eingestellten Gruppen, weniger zwischen den Parteien. Diese orientieren sich vor allem entlang der zentralen Konfliktlinie, wie das Verhältnis zu Festlandchina und die Identität Taiwans aussehen sollen. Andere klassische Konfliktlinien, wie konservative versus liberale Orientierungen, spielen eher eine Nebenrolle und erstrecken sich nicht strikt entlang der Zugehörigkeit zu DPP und KMT. Die junge Generation wählt vor allem die DPP. Diese zeigt sich recht offen für menschenrechtliche Forderungen, da sie selbst aus dem Kampf gegen die frühere Diktatur der KMT entstanden ist. Allerdings unterhält die DPP auch enge Beziehungen zu vielen kirchlichen Gemeinden im Süden des Landes, die sich überwiegend gegen die gleichgeschlechtliche Ehe wandten. Daher war diese in der DPP umstritten. Die KMT wiederum wird oft von älteren Menschen gewählt, die häufig skeptisch gegenüber der Ehe für alle eingestellt sind.
Die Vertreterinnen und Vertreter asiatischer Religionen und Philosophien, wie Buddhismus, Daoismus, Konfuzianismus und lokaler Volksreligionen, hielten sich in der Debatte um die Ehe für alle in Taiwan weitgehend zurück. Anders als in den monotheistischen Religionen gibt es in diesen Glaubensrichtungen keine Vorstellung von Homosexualität als Sünde. In jenen Staaten, deren Bevölkerung mehrheitlich diesen Religionen angehört und die nicht westlich kolonialisiert waren, war Homosexualität deshalb in der Regel nicht verboten. Japan, Südkorea und Taiwan sind Beispiele dafür.
Taiwan als Wegbereiter für seine Nachbarn?
Um Fortschritte bei LGBTI*-Rechten in Staaten einzuschätzen, sind das Niveau an Demokratie und der Respekt vor Menschenrechten, vor allem Frauenrechten, ein passabler Gradmesser. Konservative Auslegungen von Religionen und Traditionen indes beeinträchtigen die Gewährung von LGBTI*-Rechten.
Offen ist, welche Wirkung Taiwans Vorreiterrolle auf seine Nachbarstaaten haben wird. Japan und Südkorea teilen Taiwans demokratische Werte sowie den Einfluss des Konfuzianismus und weisen ein vergleichbares sozioökonomisches Entwicklungsniveau auf. Japans Gesellschaft ist allerdings konservativer und etwa bei der Gleichberechtigung von Mann und Frau nicht so fortschrittlich wie Taiwan. Seit den 1950er Jahren war zudem fast ununterbrochen die Liberaldemokratische Partei an der Macht. Sie vertritt traditionelle Vorstellungen von Ehe und Familie und lehnt die gleichgeschlechtliche Ehe ab. Japans Verfassungsgericht setzt nur äußerst selten Grundrechte gegen die Regierung und das Parlament durch, wie es in Deutschland und Taiwan gang und gäbe ist.
Südkorea wiederum verfügt über eine christliche Minderheit, die etwa 20 Prozent der Bevölkerung ausmacht und fast durchweg erzkonservativen Kirchen angehört. Entsprechend groß und entschlossen ist der Widerstand aus dieser Gruppe. Der gegenwärtige Staatspräsident Moon Jae-in ist zwar ein früherer Menschenrechtsanwalt, spricht sich aber gegen die Ehe für alle aus.
Festlandchina und Hongkong wären weitere Nachbarn, die Taiwans Kurs bei der gleichgeschlechtlichen Ehe folgen könnten. Die Volksrepublik betrachtet Taiwan als Teil Chinas. Deswegen werden Entwicklungen auf der Insel genau verfolgt. Allerdings gibt es bislang keine Diktatur, die eine gleichgeschlechtliche Ehe eingeführt hat. Minderheitenrechte werden vor allem in Demokratien geschützt und respektiert. Trotzdem bleiben Fortschritte in China möglich, denn das Thema ist politisch weit weniger sensibel als zum Beispiel Meinungs- oder Religionsfreiheit.
In Hongkong könnten die Gerichte die Ehe für alle einführen. Während der letzten Jahre wurden dort in juristischen Auseinandersetzungen einige Fortschritte für gleichgeschlechtliche Paare erkämpft, so bei der Erteilung von Aufenthaltsgenehmigungen für ausländische Partner. Wie in Taiwan ist auch in Japan, Südkorea und Hongkong die junge Generation mehrheitlich dafür, die Ehe für alle einzuführen.
In den demokratischen Nachbarstaaten Indonesien und Philippinen ist ein starker konservativer islamischer bzw. katholischer Einfluss zu verzeichnen. Die indonesische Regierung hat kürzlich eine Strafrechtsreform vorgeschlagen, die eine Kriminalisierung von außerehelichem Sex und damit auch von Homosexualität vorgesehen hätte. Erst nach massiven Protesten zog die Regierung den Entwurf zurück und kündigte eine Überarbeitung an. Das philippinische Verfassungsgericht wiederum wies im September 2019 eine Klage ab, welche die Einführung der Ehe für alle zum Ziel hatte.
In Südostasien ist Thailand traditionell ein vergleichsweise LGBTI*-freundliches Land. Dort gibt es beispielsweise Antidiskriminierungsgesetze, die auch die sexuelle Orientierung umfassen. Das Parlament debattiert zurzeit darüber, gleichgeschlechtliche Partnerschaften einzuführen.
Die Europäische Union und Deutschland zählen weltweit zu den energischsten Verfechtern der LGBTI*-Rechte. Deutschland gehört zur LGBTI*-Kerngruppe der Vereinten Nationen, die 29 Mitgliedstaaten umfasst, und zur Equal Rights Coalition mit ihren 42 Mitgliedstaaten, die sich global für LGBTI*-Rechte einsetzt.
Vor diesem Hintergrund sollte Deutschland sowohl mit Taiwans Regierung als auch mit seiner Zivilgesellschaft den Erfahrungsaustausch suchen. Dabei sollte über Strategien und »best practices« zur Förderung der Ehe für alle und von LGBTI*-Rechten, vor allem in Asien, diskutiert werden.
Dr. Frédéric Krumbein ist Gastwissenschaftler am European Union Centre der National Taiwan University in Taipeh.
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doi: 10.18449/2019A64