In der Slowakei haben die Parlamentswahlen vom 29. Februar einen Machtwechsel eingeläutet. Die von der sozialdemokratischen Smer-SD geführte Regierungskoalition wurde abgewählt, die Antikorruptionsbewegung OĽaNO obsiegte. Deren Vorsitzender Igor Matovič, der künftige Ministerpräsident, hat nach kurzen Verhandlungen eine Mitte-rechts-Koalition aus vier Parteien geformt. Übergeordnetes Ziel der neuen Regierung, die noch im März antritt, soll der Kampf gegen Korruption, intransparente Finanzinteressen und den Einfluss von Oligarchen sein. Angesichts der Verbreitung des Corona-Virus werden jedoch auf absehbare Zeit gesundheitliches und wirtschaftliches Krisenmanagement im Vordergrund stehen. An der europafreundlichen Grundhaltung der Slowakei dürfte sich wenig ändern, ebenso an ihrer Kooperation mit Polen, Tschechien und Ungarn in der Visegrád-Gruppe.
Igor Matovič und seine sogenannte Bewegung der gewöhnlichen Menschen und unabhängigen Persönlichkeiten (OĽaNO) sind Sieger der achten Parlamentswahlen, die in der Slowakei seit ihrer Unabhängigkeit 1993 stattfanden. Die sozialdemokratische Partei Smer – Sociálna demokracia (Smer-SD), die seit 14 Jahren federführend an fast allen Regierungen beteiligt war, muss in die Opposition. Bei OĽaNO handelt es sich nicht um eine Partei im herkömmlichen Sinne, sondern um einen losen Zusammenschluss unterschiedlicher Personen und Verbände, die sich politisch rechts der Mitte verorten, deren gemeinsame Forderung aber der Kampf gegen Korruption und Ämterpatronage ist. Der Aufstieg der Bewegung zur stärksten Kraft vollzog sich innerhalb weniger Monate. Lag sie bei Umfragen im vergangenen November noch bei einem Stimmenanteil von etwa 7 Prozent, erreichte sie jetzt 25 Prozent.
Dieser Erfolg ist vor allem auf Matovičs öffentlichkeitswirksame Aktionen gegen Ende des Wahlkampfs zurückzuführen, die sich gegen korrupte Machenschaften seitens der Smer-SD und deren Nähe zu oligarchischen Strukturen richteten. Ein von Matovič produziertes Video etwa zeigte, wie er die Villa des ehemaligen Finanzministers Jan Počiatek im südfranzösischen Cannes aufsucht und am Einfahrtstor mehrere Zettel mit der Aufschrift »Eigentum der Slowakischen Republik« anbringt – die Botschaft lautete, dass der Smer-SD-Politiker sein Vermögen auf unlauterem Wege erworben habe. Ein ähnlicher Clip galt dem Sitz einer Briefkastenfirma der tschechisch-slowakischen Finanzgruppe Penta auf Zypern. Beide Videos verbreiteten sich viral. Auf diese Weise gelang es Matovič, sich als engagiertester Gegner der Smer-SD und einer als grassierend empfundenen politischen Korruption im Land zu profilieren.
Im slowakischen Parlament sind nun sechs Parteien vertreten (siehe Tabelle, S. 4). Die Smer-SD kam mit ihrem Spitzenkandidaten, dem bisherigen Premier Peter Pellegrini, auf 18,3 Prozent und wurde so zweitstärkste Kraft. Auf dem dritten Platz steht Boris Kollár mit seiner rechtsnationalen Partei Sme Rodina (Wir sind eine Familie), die im Wahlkampf weniger mit nationalistischen Parolen als mit einem Programm umfangreicher Sozialleistungen punktete. Die sogenannte Volkspartei Unsere Slowakei (ĽSNS), eine neofaschistische Kraft, schnitt mit knapp 8 Prozent etwas schwächer ab als bei den letzten Parlamentswahlen 2016. 6,2 Prozent entfielen auf die wirtschaftsliberale Partei Sloboda a Solidarita (SaS, Freiheit und Solidarität). Der Mitte-rechts-Partei Za ľudí (Für die Menschen) von Ex-Präsident Andrej Kiska gelang, weniger als ein Jahr nach ihrer Gründung, mit 5,8 Prozent der Einzug ins Parlament.
Größte Überraschung des Wahlabends war wohl, dass das Zwei-Parteien-Bündnis aus sozialliberaler Progresívne Slovensko (PS, Progressive Slowakei) und liberalkonservativer Spolu – Občianska demokracia (Zusammen – Bürgerliche Demokratie) trotz günstiger Vorhersagen um 0,04 Prozentpunkte an der Sperrklausel scheiterte. Diese liegt nach slowakischem Recht für Wahlbündnisse bei 7 Prozent, ansonsten bei 5 Prozent. Auch die christdemokratische KDH verpasste mit 4,7 Prozent knapp den Sprung ins Parlament. Weit abgeschlagen sind die bisherigen Koalitionspartner der Smer-SD, die Slowakische Nationalpartei (SNS) mit 3,2 Prozent und die ungarische Partei Most-Híd mit 2,1 Prozent.
Matovič sprach nach seinem Wahlsieg von einer »dritten Revolution«, die die Slowakei in ähnlichem Maße verändern werde wie die Samtene Revolution 1989 und das Ende von Premier Vladimír Mečiar 1998. Dankesworte richtete er auch an die Wähler seiner erklärten Gegner ĽSNS und Smer-SD – er versprach, sie mit einer neuen politischen Kultur der Rechenschaft und Verantwortung zu überzeugen. Zu Matovičs zentralen Anliegen gehören eine transparente Haushaltsführung der Regierung, Nulltoleranz gegenüber Korruption und mehr Beteiligung der Bürger an politischen Prozessen, etwa durch nationale Konsultationen nach dem Vorbild Ungarns.
Der Wahlkampf: Gegen Korruption und Extremismus
Der politische Wandel, der sich jetzt in der Niederlage von Smer-SD manifestierte, hatte bereits 2018 seinen Anfang genommen. Am 21. Februar des Jahres wurden der Investigativjournalist Ján Kuciak und seine Verlobte Martina Kušnírová in ihrem Haus im westslowakischen Ort Veľká Mača erschossen. Die Nachricht vom Tod der beiden jungen Menschen löste landesweit Bestürzung aus und markierte den Beginn einer anhaltenden politischen Krise. Durch die Affäre wurde rasch ein undurchsichtiges Beziehungsgeflecht zwischen Geschäftsleuten, Justiz, Personen aus dem Dunstkreis der Smer-SD und gar der italienischen Mafiaorganisation ’Ndrangheta zutage gefördert.
In den Wochen nach den Morden fanden auf Initiative der neuen Bürgerplattform Za slušné Slovensko (Für eine anständige Slowakei) landesweit Protestaktionen statt, die größten seit 1989. Neben einer zügigen Aufklärung des Verbrechens forderten die Demonstranten auch personelle Konsequenzen in der Führungsriege des Staates. Robert Fico, der Chef von Smer-SD, trat im März 2018 als Premier zurück, installierte Pellegrini als Nachfolger und wendete so vorzeitige Neuwahlen ab. Dennoch konnte die Partei den Eindruck nicht entkräften, dass der Staat, den sie in den letzten zwölf Jahren geführt hatte, bis in höchste Kreise in Mafia-Machenschaften verstrickt sei und gemeinsame Sache mit Oligarchen mache. Die neue Regierung steht vor der Aufgabe, das Vertrauen der Bürger in Justiz und Rechtsstaat wiederherzustellen. Nirgendwo sonst in Europa glauben so wenige Menschen an die Integrität der Polizei wie in der Slowakei. Demnächst steht zudem die Wahl eines neuen Generalstaatsanwalts an.
Für eine Mobilisierung der Zivilgesellschaft sorgte neben der Korruption, wenngleich weniger stark, auch die politische Radikalisierung im Land, wie sie an guten Umfrage-Ergebnissen der neofaschistischen ĽSNS sichtbar wurde. In vielen Städten gab es Demonstrationen gegen deren Wahlkampfveranstaltungen; auch die Parteien PS/Spolu und Za ľudí beteiligten sich daran. Medien, Universitäten und NGOs positionierten sich gegen Rechtsextremismus, ebenso Vertreter der Kirchen und ein Zusammenschluss führender Persönlichkeiten der slowakischen Kultur. Matovič hingegen verurteilte die Proteste – er wolle ĽSNS-Anhänger nicht verunglimpfen, sondern ihnen ein besseres Angebot machen.
Die Parlamentswahlen von März 2016 waren von der Flüchtlingskrise dominiert worden; dabei ging es auch um Fragen nach der Solidarität – bzw. deren Grenzen – im Verhältnis zu anderen EU-Staaten. Im letzten Wahlkampf hingegen spielten außen- und europapolitische Themen nur eine untergeordnete Rolle. Neben der Korruptionsbekämpfung widmeten sich die Parteiprogramme vor allem sozialpolitischen Anliegen. Wirtschaftlich steht die Slowakei gut da, auch aufgrund ihrer starken Autoindustrie. Die Arbeitslosigkeit erreichte 2019 einen historischen Tiefstand. Doch häufen sich Beschwerden über niedrige Löhne und Sozialleistungen bei steigenden Mietpreisen; kritisiert wird auch der desolate Zustand öffentlicher Einrichtungen. Gesundheitssystem und Bildungswesen des Landes gelten als reformbedürftig.
Parteienlandschaft im Wandel
Durch die Wahlen hat sich die politische Landschaft der Slowakei einmal mehr gründlich verändert. Das Parteiensystem ist weiterhin hochgradig volatil, die Bindung der Wähler an ein konstantes Stimmverhalten gering und die Lebensdauer einzelner Gruppierungen begrenzt. Popularitätszyklen sind kurz getaktet, was nicht nur der große Zuspruch für OĽaNO in den letzten Wochen verdeutlicht, sondern auch das Schicksal der PS/Spolu-Allianz, die nach einer Hochphase mit zweistelligen Umfragewerten den Sprung ins Parlament doch verpasste. Und mit OĽaNO gab es zwar einen klaren Sieger, ansonsten aber vor allem viele Verlierer. Zu ihnen zählen die Smer-SD, ebenso die ĽSNS, die mehr erwartet hatte, und zahlreiche Parteien, die an der Sperrklausel scheiterten. Ein Novum ist, dass keine ungarische Partei im Parlament vertreten ist – erstmals seit 1989.
Wie bei vielen früheren Wahlen in der Slowakei haben unkonventionelle Parteien, die sich gängigen weltanschaulichen Kategorien entziehen, besonders stark abgeschnitten, wie auch Gruppierungen mit polarisierender Botschaft. Bestes Beispiel ist die OĽaNO, die als Antikorruptionsbewegung inhaltlich eine Art »single-issue party« darstellt, zugleich christlich-konservative Elemente aufweist und in ihren Handlungsformen an die italienische Fünf-Sterne-Bewegung erinnert. Geschwächt wurden dagegen die Parteien der hergebrachten europäischen Mitte. Keines der vier slowakischen Mitglieder der Europäischen Volkspartei (EVP) – KDH, Spolu, SMK und Most-Híd – ist nach der Wahl im Parlament von Bratislava vertreten, ebenso wenig die liberale PS. Die unterlegene Smer-SD geht ohnehin ihren eigenen Weg einer eher konservativen Sozialdemokratie. Was sich ansonsten in der politischen Arena bewegt, sind weniger Parteien mit flächendeckenden Strukturen als vielmehr One-Man-Shows, lockere Konglomerate oder Projekte politischer »Entrepreneurs«.
Dies alles bedeutet, dass die neue Regierungskoalition wie auch das Oppositionslager recht uneinheitlich sein werden. Auf Regierungsseite kooperiert die schwer zu verortende OĽaNO mit der marktwirtschaftlichen, euro-skeptischen SaS, der nationalkonservativen Sme Rodina und der zentristischen Za ľudí. Die Opposition und damit eine mögliche künftige Alternative zu OĽaNO besteht aus der zwar grundsätzlich europafreundlichen, aber demagogischen Smer-SD und der rechtsradikalen ĽSNS. Beide Parteien rivalisieren miteinander, pflegen aber eine selektive Zusammenarbeit, die sie ausbauen könnten. Innenpolitik wie Parteienlandschaft der Slowakei werden so auch künftig von Fragmentierung und Fluidität geprägt sein. Ein näherer Blick auf die einzelnen Gruppierungen unterstreicht das.
OĽaNO: Gruppierung neuen Typs
Tabelle Ergebnisse der Parlamentswahl in der Slowakei am 29. Februar 2020
Quellen: <https://www.volbysr.sk/sk/data02.html>; <http://volby.statistics.sk/nrsr/nrsr2016/>. |
Die siegreiche OĽaNO ist ein slowakisches Unikat und lässt sich nicht in herkömmliche Typologien einordnen. Sie ist eine Gruppierung, die ganz auf ihren Gründer und Spiritus rector Igor Matovič, den künftigen Ministerpräsidenten, zugeschnitten ist. Lange Jahre hatte OĽaNO nur vier Mitglieder. Nachdem sie sich gemäß dem slowakischen Parteiengesetz registrieren lassen musste, weist sie weiterhin nur die Mindestanzahl von 45 Mitgliedern auf. Matovič will so verhindern, dass der Gruppierung dubiose Figuren beitreten, sichert sich damit aber auch ein hohes Maß an Kontrolle. Es gehört zu den Stärken von OĽaNO (die gemeinsam mit drei Kleinparteien kandidierte), dass sie sich für diverse Milieus geöffnet hat und immer wieder interessante und fähige Personen einbinden konnte. Dies gilt für NGO-Aktivisten, Kommunalpolitiker und nicht zuletzt für katholische Kreise. Ein Übriges taten einige Celebrities, darunter ein ehemaliger Tennisstar.
Was Matovič auszeichnet, sind Aktionismus, kreative Ideen, aber auch Selbstbezogenheit und Sprunghaftigkeit. Ursprünglich als Eigentümer regionaler Werbeblätter in der Medienbranche tätig, stieg er 2010 mit OĽaNO auf der Liste der SaS in die Politik ein, trat danach aber selbständig bei Wahlen an. Zentrales Thema der Gruppierung sind Korruptionsbekämpfung und das Eindämmen oligarchischer Finanzinteressen. So fordert sie etwa, Richter einer Sicherheitsüberprüfung zu unterziehen, damit sich etwaige Kontakte zwischen Justiz und kriminellen Strukturen kappen lassen (hierfür ist eventuell eine Verfassungsänderung erforderlich, da ein entsprechender Vorstoß seitens der Smer-SD bereits vor dem Verfassungsgericht scheiterte).
Zwar sind in OĽaNO auch liberale Politiker aktiv, unverkennbar ist dort aber der Einfluss christlicher und katholischer Strömungen. Von 51 künftigen OĽaNO-Abgeordneten bezeichnen sich 25 als christlich. Sie sichern ihren Wählern zu, auf folgenden konservativen Standpunkten zu beharren: Ablehnung der registrierten Partnerschaft sowie des Adoptionsrechts für gleichgeschlechtliche Partner, Ablehnung des Übereinkommens des Europarats zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen (der sogenannten Istanbul-Konvention, die als Einfallstor für Genderpolitik und ähnliches gesehen wird), Ablehnung einer liberaleren Drogenpolitik und eine restriktive Linie bei der Migrationspolitik. Im Frühsommer 2019 wurde in den Reihen von OĽaNO eine christliche Plattform mit dem Namen Odvážne (Mutig) gegründet. Von Matovič, der selbst seine Ausrichtung an christlichen Werten betont, wurde sie als »zweites Standbein« – neben der Antikorruptionspolitik – der Gruppierung bezeichnet. Damit könnte OĽaNO zu einer wichtigen Kraft des politischen Katholizismus in der Slowakei werden, der über viele Parteien verteilt ist, von den Nationalisten über die Christdemokraten bis hin zu liberalen Kräften.
Sme Rodina: Nationalkonservative Anti-Partei
Die Sme Rodina, die der neuen Koalition angehört, ist eine Gruppierung des Unternehmers Boris Kollár. Ähnlich wie OĽaNO ist auch sie eher eine Anti-Partei ohne Strukturen und mit deutlicher Protestkomponente. Inhaltlich jedoch hat Sme Rodina, anders als OĽaNO, ein nationalkonservatives Profil. Die Gruppierung kooperiert im Europäischen Parlament mit Parteien, die in der rechtsgerichteten Fraktion Identität und Demokratie zusammengeschlossen sind. Im Frühjahr 2019 hatte Kollár unter anderem Marine Le Pen, die Chefin des französischen Rassemblement National, nach Bratislava eingeladen.
Sme Rodina stellte im Wahlkampf soziale Themen in den Vordergrund; so forderte sie unter anderem, 25 000 neue Wohnungen zu bauen und Zuzahlungsverpflichtungen bei Medikamenten für Kinder und Rentner abzuschaffen. In der Vergangenheit wurde Kollár nachgesagt, er habe Kontakte zur kriminellen Unterwelt. Entsprechende Altlasten könnten ein immenses Handicap für die neue Regierung werden.
Freiheit und Solidarität: Liberale Euro-Skeptiker
Die SaS mit ihrem Vorsitzenden Richard Sulík ist eine stark marktwirtschaftlich orientierte Partei mit ursprünglich liberalem Hintergrund. Ihre harte Haltung in der Eurokrise bewirkte aber, dass sie bezüglich der EU spürbar integrationskritisch wurde. Im Europäischen Parlament gehört sie der Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer (EKR) an. Die SaS folgt in weltanschaulich-kulturellen Fragen weiter einem liberalen Selbstverständnis, ihre Prioritäten sind die Wahrung unternehmerischer Freiheit und eine solide Finanzpolitik.
Smer-SD: Niederlage, aber kein Debakel
Das Ende der Smer-SD als dominanter Kraft der slowakischen Politik wurde mit den Morden an Kuciak und Kušnírová eingeläutet. Die Partei fand keine Kraft zu echter Erneuerung und schmolz auf einen Kernbestand ihrer Anhängerschaft ab. Doch hätte es für sie noch schlimmer kommen können. Dass sie entgegen allen Umfragen am Ende noch fast ein Fünftel der Stimmen holen konnte, hing wohl auch mit Wahlkampfgeschenken in letzter Minute zusammen. So stärkte die Smer-SD ihr soziales Profil, indem sie die Einführung einer 13. Monatsrente im Parlament verabschiedete. Dass dies mit Hilfe nationalistischer Parteien aus der Opposition beschlossen wurde, zeugte sowohl vom Machtpragmatismus der Partei als auch von ihrer Offenheit im Umgang mit derlei Kräften.
Das glimpfliche Abschneiden der Smer-SD hat aber noch einen tieferen Grund. Es ist der Partei gelungen, die Glaubwürdigkeit und Popularität von Ministerpräsident Pellegrini, der für einen sozialdemokratisch-europäischen Kurs steht, mit dem robusten Stil von Parteichef Fico zu verbinden, der auf sozialkonservative Wählergruppen abzielt. Die Smer-SD bleibt somit ein relevanter Faktor. Gleichwohl wird sie sich damit auseinandersetzen müssen, welche Rollen sie Fico und Pellegrini bzw. deren jeweiligen Umfeld zuweisen will. Zu klären ist, ob die beiden in einer Art Arbeitsteilung konstruktiv zusammenwirken können. Jedenfalls wird die Smer-SD alle Chancen nutzen, die sich ihr bieten. Scheitert die neue Koalition (wie die 2010–2012 amtierende Regierung von Iveta Radičová), würden sich die Sozialdemokraten kaum scheuen, in der einen oder anderen Weise auch mit nationalistischen und konservativen Gruppierungen zu kooperieren.
ĽSNS: Die Ultranationalisten
Die ultranationalistische ĽSNS stand in den Umfragen lange Zeit an zweiter Stelle, erhielt bei den Wahlen aber einen Dämpfer. Über die Jahre hat sich die Partei, an deren Spitze der ehemalige Lehrer Marian Kotleba steht, vor allem in den strukturschwächeren Gebieten der Zentral- und Ostslowakei etabliert. Seit Kotleba 2016 sein Mandat im Parlament annahm, konzentriert er seine Angriffe auf »Feinde« in den politischen Machtzentren von Bratislava und Brüssel – wie »arrogante Eliten«, »Ultraliberale« und NGOs. Überdies hantiert die ĽSNS mit einer dezidierten Anti-Roma-Rhetorik.
Zuletzt entdeckte sie neue Themen. Sie vermittelt als einzige Partei des Landes eine gewisse Sozialismus-Nostalgie und übt Kritik an sozialen Langzeitschäden, die in der Transformationszeit durch die Privatisierung entstanden seien. Abzuwarten bleibt, ob sich die ĽSNS allmählich mäßigen und auf nationalkonservative Positionen ausrichten wird, ähnlich wie dies bei der Slowakischen Nationalpartei der Fall war.
Za ľudí – das neue Zentrum?
Andrej Kiska hatte sich in seiner Zeit als Präsident der Slowakischen Republik (2014–2019) viele Sympathien erworben, weil er die Proteste gegen die Regierung unterstützte, sich als entschlossener Gegner der Smer-SD zeigte und unter anderem Ficos Ernennung zum Verfassungsrichter blockierte. Auf seine im Sommer 2019 gegründete Partei Za ľudí wurden große Hoffnungen gesetzt – auch die, Kiska könnte Fico als Premier ablösen.
Viele Kommentatoren waren enttäuscht darüber, dass es trotz gemeinsamer Ziele nicht zu einer Einigung von Za ľudí mit den anderen Neulingen PS und Spolu kam, die es ermöglicht hätte, die Kräfte der politischen Mitte zu bündeln. Abträglich war auch die Entscheidung, sich im Wahlkampf nicht auf den Kampf gegen Smer-SD zu fokussieren. Sie verhinderte nicht, dass Kiska als etablierter Gegner der Sozialdemokraten zum Ziel zahlreicher persönlicher Angriffe wurde. Für die Partei wird es künftig nicht einfacher, denn Kiska ist gesundheitlich angeschlagen, was seine Rolle als aktiver Politiker in Frage stellt.
Die Gescheiterten
Aufgrund der starken Zersplitterung des politischen Spektrums in der Slowakei entfielen rund 28 Prozent der Stimmen auf Parteien, die nicht ins Parlament eingezogen sind. Dies betrifft auch das Bündnis der 2017 bzw. 2018 gegründeten Parteien PS und Spolu. Sie gingen mit einem pro-europäischen, gesellschaftsliberalen Profil und vielen Kandidaten aus der Zivilgesellschaft in den Wahlkampf. Damit wurde die Allianz in der Altstadt von Bratislava und unter den im Ausland lebenden Slowaken zur stärksten Kraft; außerhalb der Großstädte konnte sie jedoch nur wenige Wähler gewinnen. Der christlich-konservativen KDH wiederum hat wohl vor allem ihr vorab geschlossener »Nichtangriffspakt« mit PS/Spolu geschadet. Bei den Wählern führte dieses Zugeständnis gegenüber den Liberalen zu einem Vertrauensverlust.
Wie bei den vorangegangenen Wahlen traten auch diesmal zwei ungarische Gruppierungen an – die liberalkonservative Most-Híd und der neugegründete Zusammenschluss der ungarischen Gemeinschaft (MKÖ). Beide scheiterten an der 5‑Prozent-Hürde. Most-Híd zahlte den Preis für ihre bisherige Regierungsbeteiligung an der Seite der Smer-SD. Zudem hat die Partei, die sich eigentlich als interethnisch versteht, ihre slowakische Anhängerschaft weitgehend verloren. Der MKÖ war im Herbst gegründet worden, nachdem es in Verhandlungen nicht gelungen war, alle ungarischen Parteien gemeinsam antreten zu lassen. Ursächlich für deren Wahlschlappe war neben der Spaltung aber wohl auch ein Unbehagen gegenüber den eigenen politischen Eliten. Vor allem im liberaleren Teil der ungarischen Gemeinschaft wandten sich viele Wähler ethnisch slowakischen Parteien, insbesondere der OĽaNO, zu.
Europapolitische Implikationen
Was bedeutet Matovičs Wahlsieg für das Verhalten der Slowakei in der EU? Seine Reformagenda ist vornehmlich innenpolitisch ausgerichtet. Korruptionsbekämpfung und die Eindämmung privater Finanzinteressen sind das Band, das die neue Koalition verbinden soll. Europa- und Außenpolitik waren bislang keine Stärke der OĽaNO, abgesehen von Fragen einer transparenten Verwendung europäischer Gelder. Die neue Viererkoalition verfügt über eine verfassungsändernde Mehrheit. Der Abgang einzelner Parlamentarier oder sogar eines Koalitionspartners ließe sich so verkraften. Allerdings ist das Bündnis sehr heterogen, und der Kitt der Antikorruptionspolitik könnte angesichts weltanschaulicher Unterschiede schnell rissig werden.
Der Start der neuen Exekutive steht im Zeichen der Corona-Krise. Die Regierung muss sich im Kampf gegen die Ausbreitung des Virus bewähren und überdies die Wirtschaft des Landes stabilisieren. Wie brisant die Lage ist, zeigt der Umstand, dass VW – größter Arbeitgeber des von der Autoproduktion abhängigen Landes – angekündigt hat, alle Werke in der Slowakei bis auf weiteres zu schließen. Maßnahmen gegen Korruption werden so gegenüber dem Krisenmanagement in den Hintergrund treten.
Unabhängig davon wird Matovič langfristig damit beschäftigt sein, den Zusammenhalt der Koalition zu managen. Erste Kontroversen zwischen den Partnern haben sich schon unmittelbar nach den Wahlen gezeigt. Neben persönlichen Animositäten geht es auch um inhaltliche Differenzen – etwa zwischen marktliberalen Forderungen der SaS und eher sozialpolitischen Anliegen von Sme Rodina. Matovič versucht, zumindest einigen Konflikten vorzubauen. Er kündigte an, die Austragung »kultureller Kriege« vermeiden zu wollen; bei strittigen Themen wie dem Abtreibungsrecht oder gleichgeschlechtlichen Partnerschaften solle es Abgeordneten der Koalition erlaubt sein, nach ihrem Gewissen zu stimmen.
In der slowakischen Europapolitik ist kein genereller Kurswechsel zu erwarten, jedoch sind einige neue Akzente möglich. Sollte der erfahrene Diplomat Ivan Korčok Außenminister werden, dürfte die europafreundliche Grundausrichtung des Landes bestehen bleiben. Bei der Diskussion um die Zukunft der EU könnte sich niederschlagen, dass drei Parteien der neuen Koalition, nämlich OĽaNO, SaS und Sme Rodina, mehr oder minder souveränistische Standpunkte vertreten. Doch besteht im Regierungslager ein hohes Maß an Unbedarftheit bei internationalen Fragen. Auf diesem Gebiet spielen Außen- und Verteidigungsministerium mit den europa- bzw. sicherheitspolitisch kundigen Ressortchefs weiterhin eine entscheidende Rolle.
In der europäischen Migrationspolitik wird die Slowakei obligatorische Verteilungsquoten weiterhin kategorisch ablehnen und Außengrenzschutz sowie Kooperation mit Drittländern betonen. Die Kontinuität auf diesem Feld dürfte sich zum einen daraus ergeben, dass mit OĽaNO, SaS und Sme Rodina drei Gruppierungen den Ton angeben werden, die gegen eine elastische Asylpolitik sind. Zum anderen ist die Stimmung in der slowakischen Gesellschaft migrationspolitisch unverändert restriktiv.
Zur Herausforderung könnte die Haltung der Slowakei werden, sollte ein Land der Eurozone in wirtschaftliche Schieflage geraten, was angesichts der Corona-Krise vielleicht bald auf der Tagesordnung steht. Strikt fiskalkonservative Positionen vertritt im Regierungslager nicht nur die SaS, die 2012 mit ihrem rigiden Auftreten gegen Griechenland-Hilfen die Regierung Radičová zu Fall brachte. Auch in der Reformdebatte zur Eurozone wird Bratislava Solidaritätsmechanismen konsequent von Konsolidierungsvorgaben abhängig machen.
Zu beachten gilt, wie die Politik von Good Governance durch die Slowakei praktisch umgesetzt wird. Sollte die Regierung Matovič Erfolge bei der Korruptionsbekämpfung erzielen, würde sich das nicht nur positiv auf die administrative und wirtschaftliche Performanz des Landes auswirken, sondern wäre auch ein Signal im EU-Rahmen. Andererseits können weitreichende Umbaumaßnahmen in Justiz und Verwaltung leicht politisch instrumentalisiert werden, vor allem wenn die Regierung über eine Verfassungsmehrheit verfügt. Entscheidend ist, wie die neue Mannschaft in Bratislava ihre Transparenzpolitik implementiert. Auf EU-Ebene dürfte die slowakische Haltung zur Brüsseler Rechtsstaatspolitik gegenüber Mitgliedstaaten einem »Ja, aber« entsprechen: Zustimmung dazu, dass die EU transparenzfördernde Schritte unterstützt (etwa durch einen neuen Review-Mechanismus für alle Mitglieder), aber Ablehnung weitreichender Eingriffs- und Sanktionsmaßnahmen gegen einzelne EU-Staaten.
Gegenüber den Nachbarländern in Mitteleuropa und in der Visegrád-Gruppe ist viel Kontinuität zu erwarten. Auch Matovič wird das Sonderverhältnis der Slowakei zur Tschechischen Republik pflegen. Mit Polen und Ungarn dürfte sich bald Einvernehmen in grundlegenden Fragen einstellen. Zwar ist OĽaNO weder mit der polnischen PiS noch mit dem Fidesz in Ungarn zu vergleichen, doch hat sie insofern Anknüpfungspunkte zu beiden Parteien, als sie christliche Werte hervorhebt und eine Präferenz für Nationalstaatlichkeit zeigt. Ein wichtiger Faktor in den bilateralen Beziehungen ist das Verhältnis Matovičs zur ungarischen Minderheit im Land – wie er ankündigte, wolle er deren Interessen berücksichtigen.
Ähnlich wie der Erfolg von Zuzana Čaputová bei den slowakischen Präsidentschaftswahlen von März 2019, der als pro-europäischer und liberaler Aufbruch fehlgedeutet wurde, erklärt sich der nun vollzogene Machtwechsel nicht zuletzt ex negativo. Matovičs Wahlsieg ist primär ein Aufstand gegen Korruption und Arroganz. Der Zuspruch für ihn verdankt sich geschicktem Marketing, politischem Aktionismus und dem Nimbus des Unverbrauchten. Seine Losung und sein Mandat ist eine Reset-Politik, die Klientelismus und Oligarchen das Wasser abgraben soll. Wenn die OĽaNO den Wahlausgang mit den Zäsuren von 1989 und 1998 vergleicht, erinnert das an die Regimewechsel-Rhetorik, die in Ungarn 2010 und in Polen nach 2015 erklang. Doch anders als in den Nachbarländern steht dahinter kein weltanschauliches Konzept, und auch die Machtverhältnisse ähneln sich nicht. Matovič wird damit beschäftigt sein, eine robuste Governance-Reform zu bewerkstelligen und seine Koalition zusammenzuhalten. Wenn ihm dies in Ansätzen gelingt und seine Regierung vier Jahre durchhält, könnte er das als Erfolg verbuchen.
Deutschland sollte versuchen, möglichst rasch auf die neue Regierung in Bratislava zuzugehen. Ein frühzeitiges Treffen der beiden Außenminister wäre ein Signal, dass beide Länder ihre engen Beziehungen und den europapolitischen Austausch auch künftig pflegen wollen. Auf diese Weise würde die Zusammenarbeit der Bundesrepublik mit dem einzigen Euro-Staat im Visegrád-Bereich hervorgehoben. Die slowakische Seite sollte dabei ermuntert werden, ihre Vorstellungen und Prioritäten bezüglich des Vertieften Dialogs – des bilateralen Kooperationsformats zwischen Berlin und Bratislava – zu nennen. Dort werden neben Fragen der Eurozone und der ökonomischen Stabilisierungspolitik der EU auch die Folgen der Corona-Krise für die deutsch-slowakischen Wirtschaftsbeziehungen zu thematisieren sein. Wichtig wäre überdies, den Kontakt zu Matovič selbst und seinem Umfeld zu suchen und ihn für außen- und europapolitische Themen zu gewinnen. Zudem könnten die Kontakte auf parlamentarischer Ebene belebt werden.
All diese Schritte sind vor dem Hintergrund zu sehen, dass der bilaterale Austausch innerhalb traditioneller Parteifamilien sehr begrenzt sein wird. Im slowakischen Parlament ist gerade noch eine Partei des pro-europäischen Mainstreams vertreten, nämlich die Smer-SD. Ohne Mandate in Bratislava sind hingegen alle vier slowakischen EVP-Mitglieder, ebenso wie Liberale und Grüne. Dieses Defizit gilt es durch enge persönliche und administrative Beziehungen jenseits von Parteigrenzen aufzufangen.
Dr. Kai-Olaf Lang ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe EU / Europa.
Eva-Maria Walther ist Doktorandin der Graduiertenschule für Ost- und Südosteuropastudien an der Universität Regensburg.
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doi: 10.18449/2020A21