Am 1. Januar 2022 wird Frankreich turnusgemäß die EU-Ratspräsidentschaft übernehmen. Wie erwartet, hat sich Paris dafür ambitionierte Ziele gesetzt. Fraglich ist jedoch, in welchem Maße diese umgesetzt werden können, denn der europäische Kontext ist schwierig und die anstehenden Präsidentschaftswahlen in Frankreich verkürzen den Zeitraum für entsprechende Aktivitäten. Ein Misserfolg würde sich nicht nur negativ auf Europa, sondern auch auf Deutschland und die deutsch-französischen Beziehungen auswirken. Es liegt daher im Interesse der neuen Bundesregierung, Frankreich beim Ratsvorsitz zu unterstützen. Auf diese Weise könnte sie dem Koalitionsvertrag Taten folgen lassen, in dem als Ziel formuliert ist, die EU handlungsfähiger zu machen, Europas strategische Souveränität zu erhöhen und die deutsch-französische Partnerschaft zu stärken.
Frankreich misst seiner Ratspräsidentschaft einen hohen Stellenwert zu. Erstens ist Präsident Emmanuel Macron überzeugt, dass dies vielleicht eine letzte günstige Gelegenheit sei, trotz vieler Hindernisse Weichenstellungen für ein stärkeres, handlungsfähigeres Europa vorzunehmen. Zweitens sieht sich Frankreich als führendes Land Europas – vor allem in der Domäne Sicherheit – und damit in der Pflicht, Impulse für die europäische Verteidigungspolitik zu geben. Drittens erhofft sich Macron von einer erfolgreichen EU-Politik positive Effekte für den kommenden Wahlkampf, denn bereits im April 2022 findet die französische Präsidentschaftswahl statt. Daher hat sich Paris unter dem Motto »Relance, Puissance, Appartenance« (Aufschwung, Kraft, Zugehörigkeit) ein umfangreiches Programm für die EU-Ratspräsidentschaft vorgenommen, vor allem im Bereich Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Bis Ende März sollen ein Verteidigungs- und Außenministertreffen, ein Verteidigungsgipfel, ein EU-Afrika-Gipfel, ein G5-Sahel-Meeting und ein Indo-Pazifik-Forum stattfinden.
Mit der Betonung europäischer Handlungsfähigkeit verstärkt Macron ein Leitmotiv, das er schon im September 2017 als frisch gewählter Präsident setzte. Damals hielt er an der Sorbonne-Universität eine vielbeachtete Rede, in der er seine »Initiative für Europa« vorstellte. Unter anderem forderte Macron für den Kontinent eine »autonome Handlungsfähigkeit«, die durch Herausbildung einer »gemeinsamen strategischen Kultur« entstehen solle. Seitdem hat der französische Staatschef immer wieder für die »strategische Autonomie« Europas geworben. Erreichen will Frankreich diese Autonomie durch eine Kombination verschiedener Mittel. Dazu gehören die Erhöhung der Verteidigungsetats der EU-Mitgliedstaaten; die Umsetzung der europäischen Verteidigungsinitiativen – Ständige Strukturierte Zusammenarbeit (PESCO) und Europäischer Verteidigungsfonds (EDF) –; der Ausbau einer gemeinsamen strategischen Kultur unter anderem durch die Europäische Interventionsinitiative (EI2); die Konsolidierung der verteidigungstechnologischen und -industriellen Basis Europas (European Defence Technology and Industrial Base, EDTIB).
Die französische Ratspräsidentschaft ist für Macron also von höchster Bedeutung, da sie ein wesentlicher Gradmesser seiner Europa-Bilanz sein wird. Die Ziele der Ratspräsidentschaft hat er am 9. Dezember 2021 bekannt gegeben, also erst kurz vor Beginn des Vorsitzes. Einige EU-Mitgliedstaaten hätten sich eine solche Wortmeldung früher gewünscht.
Eine (zu?) anspruchsvolle Agenda
Ziel der Ratspräsidentschaft ist laut Macron, von einem innerhalb der eigenen Grenzen kooperierenden Europa zu einem »starken Europa in der Welt« zu gelangen, das »völlig souverän, frei in seinen Entscheidungen und Herr des eigenen Schicksals ist«. Im Bereich Sicherheitspolitik hat es für Macron höchste Priorität, den Strategischen Kompass – eine Art EU-Militärstrategie – zu verabschieden. Anfang November hat der Europäische Auswärtige Dienst (EAD) den Mitgliedstaaten dazu einen ersten Entwurf präsentiert. Dieser muss nun auf verschiedenen Ebenen diskutiert und verhandelt werden, bevor er Ende März 2022 vom Europäischen Rat angenommen werden könnte. Der Kompass gilt als Kern der anstehenden Ratspräsidentschaft. Er soll als Fahrplan bis 2030 dienen und es der EU erlauben, so die französische Verteidigungsministerin Florence Parly, »neue Arbeitsweisen zwischen Europäern zu entwickeln, in allen Bereichen, ob Weltraum, Cyber oder natürlich auch ›konventionelleren Kampffeldern‹«. Zudem soll er helfen, eine klare europäische Vision zu entwickeln. Diese wiederum soll zur Debatte über das Strategische Konzept der Nato beitragen, das auf dem für Juni 2022 vorgesehenen Gipfel der Allianz in Madrid angenommen werden soll. Die Verabschiedung des Kompasses wird für Frankreich also der erste große diplomatische Test sein; hier wird sich zeigen, ob Paris die Europäer vereinigen kann. Noch müssen einige Streitpunkte beseitigt werden, etwa in den Bereichen Krisenmanagement oder Verteidigungsausgaben. Viele Mitgliedstaaten halten daher den Plan, das Dokument Ende März zu verabschieden, für allzu optimistisch und rechnen mit einer späteren Annahme.
Die Elemente des Mottos »Aufschwung, Kraft, Zugehörigkeit« ziehen sich durch das gesamte Präsidentschaftsprogramm. Zum Thema »Aufschwung« gehören Bereiche wie Innovation, Fähigkeiten und Verteidigungsbudget. Hier geht es Paris hauptsächlich darum, Abhängigkeiten in Schlüsselbereichen zu verringern und die industrielle Strategie der EU zu stärken, damit sich Konkurrenzfähigkeit und Innovationskapazität der EDTIB erhöhen lassen. Angesichts des beschleunigten Wettbewerbs um neue Technologien und der Gefahr einer »irreversiblen strategischen Herabstufung« der EU will Frankreich nachdrücklich auf Innovationen im Verteidigungsbereich setzen. Um Fähigkeitslücken sinnvoll zu schließen und sich gleichzeitig auf die Konflikte der Zukunft vorzubereiten, muss die EU nach Ansicht Frankreichs viel mehr in Erforschung und Entwicklung neuer Schlüsseltechnologien, wie etwa künstlicher Intelligenz, und in Kernbereiche wie Cybersicherheit investieren. Dafür sollen vor allem die Europäische Verteidigungsagentur (EDA) gestärkt und die zahlreichen PESCO-Projekte ausgebaut werden. Aufgrund der anhaltenden Corona-Pandemie und ihrer wirtschaftlichen Folgen sind allerdings Kürzungen in den Verteidigungsetats zu erwarten. Für massive Investitionen im Verteidigungsbereich, zumal in Schlüsseltechnologien, bestehen daher keine optimalen Voraussetzungen.
Ein konkreter Bereich, der dem Thema »Kraft« zugewiesen wird, ist das Krisenmanagement. Hier will Paris die Einsatzfähigkeit der EU erhöhen, damit sie schneller und selbständiger auf Krisen reagieren kann und letztlich in der Lage ist, eigene Interessen weltweit zu verteidigen. Zu diesem Zweck will Paris unter anderem für eine Konsolidierung des »Command and Control« (C2)-Systems – also der militärischen Führung – werben. Fraglich ist jedoch, ob Länder wie Deutschland oder Schweden, die beim Krisenmanagement militärische und zivile Komponenten stärker verknüpfen wollen, die französischen Vorschläge unterstützen werden. Ein weiteres Ziel ist, die Effizienz von EU-Operationen und -Missionen durch eine erhöhte und schnellere Einsatzbereitschaft zu verbessern. Auch soll die EU die Fähigkeit erwerben, Anfangsoperationen zu führen. Vorgesehen ist zudem, dass die Mitgliedstaaten gemeinsame Übungen durchführen. Die Instrumente der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) sollen flexibler implementiert werden. Ein Beispiel dafür wäre eine optimierte Europäische Friedensfazilität (EPF), die es ermöglichen würde, Partner besonders in Afrika effizienter auszurüsten und auszubilden. Hier ist jedoch eine schwierige Debatte mit Mitgliedstaaten wie Irland oder Österreich zu erwarten, die sich ursprünglich gegen die EPF ausgesprochen hatten.
Auch die »umstrittenen Räume« See, Cyber und Weltraum sind dem Thema »Kraft« zugeordnet. So erwägt Paris, im Indischen Ozean eine koordinierte maritime Präsenz (CMP) auf den Weg zu bringen. Ziel dieses Mechanismus ist es, so der Rat der Europäischen Union im Januar 2021, »die Kapazitäten der EU zu verbessern, ein verstärktes operatives Engagement Europas zu ermöglichen, eine ständige maritime Präsenz und Reichweite in den Meeresgebieten von Interesse zu gewährleisten sowie die internationale Zusammenarbeit und Partnerschaft auf See zu fördern«. Privilegierte Ansprechpartner wären nun wahrscheinlich Länder, die zusammen mit Frankreich bereits an der CMP im Golf von Guinea oder an der europäischen maritimen Überwachungsmission in der Straße von Hormus (EMASOH) beteiligt sind und Interesse für den Indo-Pazifik zeigen – also Spanien, Portugal, Italien oder die Niederlande. Auch Deutschland, das dieser Region wachsende Aufmerksamkeit widmet, wie es der aktuelle Einsatz der Fregatte »Bayern« dort veranschaulicht, gehört zu den bevorzugten Partnern.
Bevor es jedoch zu ersten konkreten Schritten kommt, müsste der Bewertungsprozess für die CMP im Golf von Guinea abgeschlossen und dabei der operative Mehrwert dieses Instruments klar bestätigt werden. Zu beantworten wäre zunächst auch die Frage nach einer Koordinierung mit den vorhandenen maritimen Missionen Atalanta (am Horn von Afrika) und EMASOH – an Letzterer beteiligen sich unter anderem der Nicht-EU-Staat Norwegen und der Opt-out-Staat Dänemark. Viele Europäer betrachten maritime Räume als relevanter, die wie Mittelmeer oder Ostsee geographisch näher liegen. Einige Mitgliedstaaten könnten Zurückhaltung üben, weil sie argwöhnen, Frankreich verfolge hier seine nationale Agenda und reagiere mit der CMP-Initiative auf das im September geschlossene AUKUS-Abkommen zwischen den USA, Großbritannien und Australien.
Was den Weltraum angeht, möchte Paris eine Debatte über Normen verantwortungsvollen Verhaltens einleiten. Dafür warb der Leiter des französischen Weltraumkommandos bereits im Juli. Dieses Thema scheint in der EU auf mehr Einvernehmen zu stoßen. Allerdings wäre Widerstand zu erwarten, wenn Frankreich eine europäische Sicherheitsstrategie für den Weltraum initiieren wollte.
Die Bedeutung der Räume See und Weltall spiegelt sich symbolisch in der Auswahl der Städte für geplante Großveranstaltungen. Das Treffen der Außen- und Verteidigungsminister soll in der bretonischen Hafenstadt Brest stattfinden, wo zudem schon Anfang Januar der »One Ocean«-Gipfel abgehalten wird. Der EU-Verteidigungsgipfel soll in Toulouse zusammenkommen, dem Zentrum der europäischen Weltraum-Industrie.
Das Thema »Zugehörigkeit« umfasst die Bereiche Resilienz und strategische Kultur. Jüngste Krisen wie die Covid-19-Pandemie oder die Migrationskrise haben verdeutlicht, dass die EU auf hybride Bedrohungen und Desinformationskampagnen anderer Staaten immer noch schlecht vorbereitet ist, auch was Wahlkämpfe betrifft. Aus diesem Grund möchte Paris die Reaktionsmittel Europas stärken. Die strategische Kommunikation (Stratcom) und Instrumente öffentlicher Diplomatie sollen neu organisiert werden, damit sich Informationsmanipulation und Destabilisierung effizienter bekämpfen lassen.
Dazu kommt als viertes Hauptthema »Globaler Akteur«, das Bereiche wie Multilateralismus und EU-Partnerschaftspolitik abdeckt. Für Letztere sind die EU-Nato-Kooperation und die Beziehungen der Union zu den USA von höchster Bedeutung. Mitte November vereinbarten die Außen- und Verteidigungsminister der EU und Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg, in den kommenden Monaten an einer neuen Gemeinsamen Erklärung zur Zusammenarbeit zwischen EU und Bündnis zu arbeiten. Diese Erklärung könnte also während des französischen Ratsvorsitzes verabschiedet werden. Der strategische Dialog zwischen EU und USA könnte im Januar 2021 starten, ebenso die Verhandlungen über die Verwaltungsvereinbarung zwischen den USA und der Europäischen Verteidigungsagentur. Ziel ist hier ein direkter Austausch zwischen Washington und EDA; dies könnte die Basis legen für eine bessere Zusammenarbeit bei Projekten von gemeinsamem Interesse wie etwa militärische Mobilität, Emerging and Disruptive Technologies (EDT) oder Single European Sky (SES).
In seiner Rede vom 9. Dezember hat Macron nachdrücklich betont, wie wichtig Stabilität und Wohlstand in Europas Nachbarschaft seien. Frankreich will eine »Sicherheitspartnerschaft zwischen Afrika und Europa« etablieren sowie »Interferenzen und Manipulationen regionaler Mächte« gegenüber den Westbalkan-Staaten bekämpfen. Letzteres zielt auf Russland, China und die Türkei, die laut Macron die Staaten des Balkans benutzen, um Europa zu destabilisieren. Ferner ist der Indo-Pazifik, wie schon ausgeführt, für Frankreich eine geographische Priorität. Zu erwarten ist, dass Paris die Gelegenheit der Ratspräsidentschaft nutzt, um eine zunehmende – auch militärische – Präsenz der EU und ihrer Mitglieder in der afrikanischen Sahelzone und im Indo-Pazifik zu fordern. Aus französischer Sicht müssen sich die Europäer dort stärker für die Terrorismusbekämpfung bzw. für die globale Sicherheit einsetzen.
Allerdings wird sich Frankreich voraussichtlich mit politischer Unterstützung begnügen müssen. Die im Sahel engagierte Ad-hoc-Taskforce Takuba, die aus europäischen (nicht ausschließlich EU-) Spezialkräften besteht, ist zwar sehr erfolgreich. Doch sollten sich Berichte bestätigen, dass in Mali auf Regierungsseite die russische Söldnerfirma »Wagner« zum Einsatz kommt – die wegen Menschenrechtsverletzungen etwa in Syrien mit EU-Sanktionen belegt wurde –, könnte dies erhebliche Auswirkungen auf das europäische Engagement haben und die positive Entwicklung der Initiative dämpfen. Im Indo-Pazifik bleibt der militärische Einsatz der Europäer, abgesehen von Frankreich, bislang begrenzt. Deutschland und die Niederlande haben in diesem Jahr jeweils eine Fregatte in den Pazifik entsandt, und die Nachhaltigkeit dieser Beteiligung ist nicht garantiert.
Hindernisse für die Umsetzung
Einer zügigen Umsetzung des Programms für die Ratspräsidentschaft stehen einige bekannte Hindernisse im Weg. So ist es keineswegs gesichert, dass die Nato und die europäischen Verbündeten die Überzeugung Frankreichs teilen, eine größere Handlungsfähigkeit der EU sei auch für die Allianz und folglich für die EU-Nato-Zusammenarbeit von Gewinn.
Dieses umfassende Programm, das sich in »typisch französischer« Art der strategischen Vision eines mächtigen Europas nähert, wäre bereits unter normalen Umständen eine große Herausforderung. Fraglich ist, ob die anderen Mitgliedstaaten dem Rhythmus und den Schwerpunkten Macrons folgen können – und wollen. Einige von ihnen, vor allem in Mittel- und Osteuropa, könnten die skizzierten Prioritäten als Konkurrenz zur Nato betrachten. Auch Deutschland wird sich dazu positionieren müssen. Andere Mitgliedstaaten sind irritiert angesichts der französischen Ungeduld und einer zu hohen Zahl an Prioritäten. Unklar ist zudem, welche konkreten Ergebnisse die geplanten Großveranstaltungen, etwa der EU-Verteidigungsgipfel, bringen sollen. Dabei könnte die neue Covid-19-Welle bewirken, dass geplante Konferenzen kurzfristig abgesagt oder in hybride bzw. digitale Treffen umgewandelt werden müssen.
Damit das Programm auch nach Ende des französischen Ratsvorsitzes fortbesteht und auf Dauer wirkt, müssten die beiden anderen Länder der Trio-Präsidentschaft, die Tschechische Republik und Schweden, die entsprechenden Ambitionen ebenfalls mittragen. Ob dies geschehen wird, ist fraglich, auch wenn es seit Ende 2020 regelmäßige Konsultationen im Trio-Format gibt und das französische Generalsekretariat für Europa-Angelegenheiten für Kohärenz und Kontinuität sorgen soll. Tschechien teilt zwar allgemein die Positionen Frankreichs in den Bereichen Krisenmanagement und Weltraum, bleibt aber vorsichtig, wenn es um europäische Souveränität geht. Schweden betrachtet das bilaterale Verhältnis zu den USA als wesentlichen Bestandteil seiner Sicherheitspolitik und beschafft amerikanisches Rüstungsmaterial – darunter F-35-Kampfjets und bodengestützte Luftverteidigungssysteme vom Typ Patriot –, was aus Pariser Sicht dem Ziel einer größeren industriellen Souveränität Europas zuwiderläuft. Außerdem wird im September 2022 das schwedische Parlament neu gewählt. Sollte es zu einem Regierungswechsel kommen, könnten sich die Prioritäten für Stockholms Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 2023 verändern. Es steht also zu befürchten, dass nur wenige EU-Länder den politischen Ehrgeiz des französischen Vorsitzes teilen werden.
Eine doppelte Herausforderung
Bei alledem hätte die französische Ratspräsidentschaft kaum zu einem ungünstigeren Zeitpunkt kommen können. Paris steht sowohl auf nationaler als auch auf europäischer Ebene vor außerordentlichen Herausforderungen. Zunächst einmal kollidiert der EU-Vorsitz mit den französischen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen Mitte April bzw. Mitte Juni 2022. Der Premierminister verfügt üblicherweise eine »Karenzzeit« (période de réserve), in der die französische Regierung keinen Einfluss auf die Wahl nehmen darf, womit Großveranstaltungen ausfallen. Traditionell beginnt diese Phase etwa vier Wochen vor dem Wahltermin, in diesem Fall also Mitte März sowie abermals Mitte Mai. In der Karenzzeit wird außerdem aus republikanischer Tradition im Sinne staatlicher Neutralität allen Beamten untersagt, an »öffentlichen Veranstaltungen oder Zeremonien mit Wahlkampfcharakter« teilzunehmen. Dies schränkt den effektiven Zeitraum der französischen EU-Präsidentschaft stark ein; die politischen Bemühungen werden sich auf die zweieinhalb Monate von Anfang Januar bis Mitte März 2022 fokussieren.
Auf europäischer Ebene muss Frankreich mit einer intern fragmentierten EU umgehen. Noch immer virulent ist der Rechtsstaatlichkeitskonflikt zwischen Brüssel und der polnischen Regierung, die dabei von Ungarn unterstützt wird. Der Europäische Gerichtshof hat Rekordstrafen gegen Warschau verhängt, die Kommission mit Sanktionen und einer Sperre von EU-Zahlungen gedroht. Noch nie waren die Beziehungen zwischen Polen und der EU so belastet.
Was Europas Nachbarschaft angeht, bleiben die Beziehungen der EU zur Türkei angespannt, und es gibt eine ernsthafte Auseinandersetzung mit Belarus, da Minsk – vermutlich mit Moskauer Unterstützung – die an der polnischen Grenze angekommenen Migranten als Erpressungsmittel gegenüber der EU benutzt. In seiner Rede hat Macron übrigens die Wichtigkeit des Schutzes der EU-Außengrenzen betont und dafür geworben, einen »Notfallunterstützungsmechanismus im Krisenfall« zu schaffen.
Russland verstärkt zudem durch Machtdemonstrationen und hybride Bedrohungen gegenüber der Ukraine seine Destabilisierungsstrategie und seinen Einfluss in unmittelbarer Nachbarschaft der EU. Die Lage an der ukrainischen Ostgrenze, wo massive russische Truppenbewegungen zu beobachten sind, bleibt extrem angespannt.
Die innenpolitischen wie internationalen Anspannungen und Krisen, verschärft von der neuen Corona-Welle, werden die Ratspräsidentschaft unter Druck setzen und könnten Paris zwingen, das Programm anzupassen. Sollte es beispielsweise zu einer Eskalation an der Grenze zwischen Belarus und Polen oder zu einer Konfrontation zwischen Russland und der Ukraine kommen, wären Prioritäten zu verschieben. Die Krisenbewältigung würde vorrangig, was zu Lasten anderer Hauptthemen ginge. Das vorgesehene Programm könnte also nicht vollständig ausgeführt werden, was die angestrebten Ziele abschwächen würde. Dies wäre kein Novum: Kurz vor Übernahme der deutschen Ratspräsidentschaft im Sommer 2020 musste Berlin aufgrund der Covid-19-Pandemie die geplante Agenda neu definie-ren und andere Schwerpunkte setzen.
Deutschland sollte Frankreich unterstützen
Bereits vor der deutschen EU-Ratspräsidentschaft 2020 hatten sich Paris und Berlin geeinigt, ihre beiden Vorsitze zu verbinden. Der Strategische Kompass, der unter deutscher Ratspräsidentschaft eingeleitet wurde und unter französischer angenommen werden soll, gilt als Symbol dieser Verknüpfung. Damit einher geht eine gegenseitige Unterstützung von Initiativen. Hier gibt es eine frühe Gelegenheit für die neue Bundesregierung, die im Koalitionsvertrag formulierten Ziele einer handlungsfähigen, strategisch souveränen EU, der Stärkung Europas und der Festigung deutsch-französischer Kooperation praktisch zu untermauern.
Erstens bietet Frankreichs Ratspräsidentschaft für Europa die Chance, einen Schritt weiter zu gehen und aus der EU einen starken, globalen Akteur zu machen. Dies kann aber nur mit Unterstützung der wichtigsten Mitgliedstaaten, allen voran Deutschlands, geschehen. Hilfreich wäre Berlins Überzeugungskraft insbesondere gegenüber den baltischen Staaten und den Visegrád-Ländern. Die Stärkung europäischer Handlungsfähigkeit ist eine Priorität des französischen Vorsitzes, die mittlerweile auch von Washington begrüßt wird, wie das französisch-amerikanische G20-Gipfelkommuniqué vom 29. Oktober 2021 unterstrichen hat. Der U-Boot-Deal im Rahmen von AUKUS mag ein Affront für Frankreich gewesen sein, dennoch bietet die Biden-Administration aus Sicht Macrons ein Gelegenheitsfenster, das die Europäer nutzen sollten, um ihre Verteidigungsprojekte voranzutreiben. Die Vertiefung der GSVP wiederum ist ein Mittel, um die europäische Integration fortzusetzen.
Zweitens würde auch Deutschland von einer erfolgreichen Ratspräsidentschaft profitieren. »Unser Ziel ist eine souveräne EU als starker Akteur in einer von Unsicherheit und Systemkonkurrenz geprägten Welt«, heißt es im Berliner Koalitionsvertrag. Dort werden auch weitere Prioritäten genannt, die anknüpfungsfähig gegenüber Paris sind, so etwa »eine verstärkte Zusammenarbeit nationaler Armeen integrationsbereiter EU-Mitglieder«. Die Ziele der neuen Bundesregierung scheinen also mit den französischen grundsätzlich übereinzustimmen. Nun bedarf es auch derselben Auffassungen, wie diese Ziele zu erreichen sind.
Drittens wäre eine Unterstützung durch Berlin ein positiver Impuls für die deutsch-französischen Beziehungen. So steht im Koalitionsvertrag: »Uns leitet eine starke deutsch-französische Partnerschaft, die den Vertrag von Aachen und die Deutsch-Französische Parlamentarische Versammlung mit Leben füllt, z. B. durch einen neuen strategischen Dialog.« Die französische Ratspräsidentschaft bietet eine optimale Gelegenheit, diese Ambition umzusetzen. Wünschenswert wäre eine frühe thematische wie operative Koordinierung zwischen Paris und Berlin, ebenso (im informellen »PESCO 4«-Format) mit Madrid und Rom. Die Bereitschaft Frankreichs, sich mit den anderen »großen« Europäern im Voraus abzustimmen, ist jedoch nicht garantiert, weshalb zu befürchten steht, dass der Spielraum für die Partner gering bleibt. Trotzdem sollte sich die neue Bundesregierung bemühen, schnell Kontakte zu knüpfen und eine neue Arbeitsdynamik mit Paris aufzubauen. Es geht darum, bilaterale, europäische und internationale Themen produktiv zu besprechen sowie Divergenzen möglichst früh zu erkennen und zu mindern. Sinnvoll wäre in diesem Zusammenhang, den Deutsch-Französischen Verteidigungs- und Sicherheitsrat (DFVSR) schon bald tagen zu lassen.
Am 26. November 2021 hat Frankreich mit Italien den sogenannten Quirinal-Vertrag unterzeichnet. Dies könnte ein Hinweis sein, dass Paris nach Alternativen zum besonderen deutsch-französischen Verhältnis sucht und neben Berlin verstärkt auch auf andere Partner setzt. Die persönliche Beziehung zwischen Präsident Emmanuel Macron und Premierminister Mario Draghi, zwei starken Führungsfiguren, könnte dazu beitragen, die französisch-italienische Kooperation voranzutreiben, auch im Verteidigungsbereich.
Umso wichtiger ist es für die Bundesregierung, der bilateralen Zusammenarbeit mit Paris rasch neuen Schwung zu geben. Gelingen könnte dies durch eine erfolgreiche und produktive Koordinierung während der Ratspräsidentschaft. Frankreich und Deutschland könnten etwa Themen von gemeinsamem Interesse wie Cybersicherheit, Innovation im Verteidigungsbereich oder EU-Partnerschaftspolitik zusammen vorantreiben. Erforderlich sein könnte auch, rechtzeitig über Fragen zu diskutieren, in denen die beiden Seiten divergierende Vorstellungen haben, etwa beim Krisenmanagement, damit Unterschiede reduziert und Kompromisslinien gefördert werden können. Dies ist Voraussetzung, um eine breite Zustimmung der Mitgliedstaaten zu garantieren. Gemeinsame Überzeugungsarbeit wird auch notwendig sein, um das hohe Anspruchsniveau beim Strategischen Kompass aufrechtzuerhalten.
Deutsche Unterstützung für Frankreichs Initiativen wäre jedenfalls eine starke Botschaft: Die deutsch-französische Partnerschaft ist und bleibt eine Hauptpriorität für Berlin und Paris, und beide setzen sich gemeinsam und entschlossen für ein stärkeres, handlungsfähigeres und selbstbewussteres Europa ein.
Sven Arnold ist Gastwissenschaftler in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik.
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doi: 10.18449/2021A82