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Russlands soziale Schieflage

Die Privathaushalte zahlen einen hohen Preis für Russlands makroökonomische Stabilisierung

SWP-Aktuell 2019/A 61, 14.11.2019, 4 Seiten

doi:10.18449/2019A61

Forschungsgebiete

Die zaghafte wirtschaftliche Erholung 2017 und 2018 hat den Großteil der Bevölkerung in Russland nicht erreicht. Noch immer liegen die real verfügbaren Einkommen deutlich unter dem Niveau von 2014. Dafür ist auch der strikte Sparkurs verantwort­lich, an dem Moskau weiter festhält. Die langjährige Misere der Privathaushalte hat einen Boom von Konsumkrediten ausgelöst und merkliche Spuren in der Armuts­statistik und der Geburtenrate hinterlassen. Doch die politische Antwort des Kremls, eine Neuauflage der »Nationalen Projekte«, verhallt bislang wirkungslos. Immer klarer zeigt sich, wie wenig die russische Führung der wirtschaftlichen Stagnation entgegenzusetzen hat. Gleichzeitig ist der Kreml nicht zu einer großzügigeren Sozialpolitik bereit. Das erzeugt Unmut in der Bevölkerung, auch weil außenpolitische Erfolge die Stimmung im Land kaum noch beeinflussen.

In den Jahren 2017 und 2018 hatte sich die russische Wirtschaft mit Wachstumsraten von 1,6 und 2,3% noch leicht von der Krise der Vorjahre erholt. Seitdem ist der Auf­wärtstrend allerdings wieder verlorengegan­gen. Das Wachstum sank im ersten Halb­jahr 2019 auf 0,7%. Vor allem in der Indu­strie hat sich das Ge­schäfts­klima spürbar eingetrübt. Zwar ist die läh­mende Angst vor neuen US-Sank­tionen unter den Investoren nicht mehr so präsent wie im letzten Jahr. Gegenwind für die russische Wirtschaft brachten aber die schwächere Weltkonjunktur und strukturelle Probleme wie der demografische Wandel.

Sicherheit geht vor

Gebremst wird das Wachstum auch von der russischen Fiskal- und Geldpolitik, die weiter­hin ganz darauf ausgerichtet ist, die Wirtschaft gegen externe Schocks wie einen nochmaligen Absturz des Ölpreises oder neue Sanktionen abzusichern. Mit Erfolg: Die Währungsreserven des Landes haben sich erholt, und die Inflation ist von 15,5% im Jahr 2015 auf 4% zurückgegangen. Zudem bescheren der schwache Rubel und die diesjährige Mehrwertsteuererhöhung der Staatskasse große Über­schüsse.

Davon unbeirrt bleibt das Finanzministerium seiner restriktiven Linie treu. Ein sta­biler Konsens der politischen Eliten trägt den Sparkurs mit. Zum einen dient er den Interessen russischer Wirtschafts­akteure und der Bürokratie. Sie wollen vor allem makroökonomische Stabilität bewahren. Zum anderen unterstützt auch der Sicher­heitsapparat die Politik des Finanzministeriums: Angesichts westlicher Sanktionen ist der Aufbau finanzieller Reserven zu einer Frage der natio­nalen Sicherheit geworden.

Diese Einigkeit an der Staatsspitze geht indes zu Lasten der Privathaushalte und besonders der sozial schwächeren Teile der Bevölkerung, die ihre Interessen politisch nicht geltend machen können. Einschnitte bei den realen Renten und die Erhöhung von Steuern und Abgaben haben maßgeblich dazu beigetragen, dass die verfügbaren Einkommen bereits das sechste Jahr in Folge stagnierten oder gefallen sind. Laut offizieller Statistik hatten die Menschen in Russland Ende 2018 rund 13% weniger Geld zur Verfügung als noch im Jahr 2014. Der Lebensstandard ist damit auf das Niveau des Jahres 2010 zurückgefallen.

Privathaushalte verschulden sich

Den langjährigen Rückgang der Einkommen können die meisten Russinnen und Russen nicht ohne weiteres abfedern. Nur 11% der Haushalte verfügen über wesent­liche Ersparnisse. Als einziger Ausweg bleibt häufig, teure Kredite aufzunehmen. Die Verschuldung der privaten Haus­halte ist in den vergangenen Jahren rasant gestie­gen. Das gilt besonders für das Segment der un­gesicherten Konsumentenkredite. Ihr Volu­men lag im September 2019 um 24% über dem Vorjahresniveau.

Die durchschnittlichen Zinsen der Kredite bis zu einem Jahr Laufzeit betrugen zu­letzt 18%. Monatliche Raten belasten die Privathaushalte immer stärker: In einer re­prä­sentativen Befragung der Welt­bank gaben 60% der Schuldner an, die Rückzahlung verursache ihnen Schwierigkeiten. Bei 15% der Schuld­ner übersteigen die Raten­zahlun­gen, so das russische Wirtschafts­ministerium, sogar 70% des Einkommens.

Zwar gefährdet der Kreditboom noch nicht die Stabilität des russischen Bankensystems. Nur bei 8,4% der ungesicherten Kredite sind die Schuldner mehr als drei Monate in Verzug. Auch spielt die Kreditaufnahme in Dollar oder Euro durch Privat­haushalte, die im Zuge der Rubel-Abwertung 2014 vielen Probleme bereitete, heute eine geringere Rolle. Dennoch fürchtet die Zen­tralbank, die Schwierigkeiten der Schuldner könnten wachsen. Daher hat sie die Banken verpflichtet, mehr Reserven vorzuhalten.

Die verschärften Regeln sollen vor allem den Boom der Konsumentenkredite been­den. Das Ausbremsen der Kreditvergabe hat jedoch seinen Preis: Auf die verschuldeten Haushalte kommen kurzfristig neue Härten zu, weil fällige Kredite nicht mehr durch neue abgelöst werden können. An den trü­ben Aussichten für die Konsumnachfrage 2020 lässt sich ablesen, dass die Gürtel da­für noch enger geschnallt werden müssen.

Spuren der Krise: Armut, Geburtenrückgang, Alkoholismus

Die andauernde Misere der Privathaushalte hat die Bekämpfung der Armut in Russland zurückgeworfen. Hatten im Jahr 2012 10,7% der Russinnen und Russen weniger als das Existenzminimum zur Verfügung, waren es 2018 schon 12,9%. Auch für 2019 deutet sich ein Anstieg der Armutsquote an.

Die subjektiven Einschätzungen der Haushalte lassen ebenfalls eine Verschlechterung der Lage erkennen: 26,5% der Rus­sinnen und Russen gaben 2019 in Befragungen an, ihre materielle Lage sei schlecht oder sehr schlecht. 2018 hatte der Wert bei 23,3% gelegen. Aller­dings ist die Wahr­nehmung der Situation immer noch besser als im Krisenjahr 2015, in dem 32,6% der Befragten diese Antwort gaben.

Am stärksten ausgeprägt ist die Armut in Russland unter jungen Familien und außer­halb der großen Städte. Vor allem auf dem Land reagieren inzwischen viele auf die wirtschaftliche Unsicherheit, indem sie die Familiengründung aufschieben. Der Koeffi­zient der Erstgeburten, der bis 2015 stabil bei 0,8 Kindern pro Frau lag, ist bis 2018 auf 0,66 gesunken. Eine ähnliche Zurückhaltung hatte es zuletzt in den wirt­schaft­lich turbulenten 1990er Jahren gegeben. Auch ein lang­sam voranschreitender kultu­reller Wandel trägt dazu bei, dass viele Russinnen heutzutage später Mutter wer­den. Der Rückgang seit 2015 ist allerdings zu dras­tisch, um allein dadurch erklärt werden zu können.

Auf die Lebenserwartung in Russland hat sich der gesunkene Lebensstandard indes bisher nicht ausgewirkt. Sie ist weiter ge­stiegen und beträgt für Männer rund 68, für Frauen 78 Jahre. Allerdings verlangsamen sich auch hier die Fortschritte.

Für die noch immer geringe Lebens­erwartung der Männer spielt Alkoholkonsum eine zentrale Rolle. Dafür werden auch Perspektivlosigkeit und wirt­schaftliche Schwierigkeiten verantwortlich gemacht, etwa wenn in Krisenzeiten mehr Alkohol und mehr billige, nicht für den Verzehr vorgesehene Chemi­kalien konsumiert wer­den. Nach wie vor sind in Russland zahl­reiche Todesfälle durch Alkoholvergiftung zu verzeichnen. Im Jahr 2014 war ihre Zahl, die auch als Indikator für den Alkoholkonsum insgesamt gilt, zum ersten Mal seit den frühen 2000er Jahren wieder gestiegen.

Für 2019 zeichnet sich ein erneuter Anstieg ab. Von Januar bis Juli kam es in Russland zu 4298 tödlichen Alkoholvergiftungen, 17% mehr als im Vorjahr. Dabei unterscheidet sich die Situation in den Großstädten völlig von der in ländlichen Regionen. Während etwa in Mos­kau pro 100 000 Einwohner jährlich weni­ger als ein Todesfall durch Alkoholvergiftung auftritt, liegt die Quote in den ärme­ren und länd­lichen Regionen bei bis zu 20 Fällen.

Neue Nationale Projekte

Die russische Führung tritt dem wirtschaftlichen Stillstand und den fallenden Ein­kommen in Putins vierter Amtszeit mit einem groß angelegten Entwicklungs- und Investitionsprogramm entgegen. Auf der Webpräsenz der sogenannten Nationalen Projekte wird mit einem Zitat des Präsidenten geworben, der Mensch und die Verbes­serung der Lebensstandards ständen im Mittelpunkt des Programms.

Für die 13 Nationalen Projekte sind bis 2024 Ausgaben von 25,7 Billionen Rubel (etwa 360 Milliarden Euro) eingeplant. Rund die Hälfte sollen private Unternehmen und regionale Haushalte bei­steuern. Als Ziele des Programms wurde ein bunter Strauß von Entwicklungsindikatoren festgelegt, vom Ausbau physischer und digitaler Infra­struk­tur über den Wohnungsneubau bis zur weiteren Steigerung der Lebenserwartung.

In der politischen Kommunikation des Kremls ist das Motiv der Nationalen Pro­jekte nicht neu. Bereits 2005, zu Beginn seiner zweiten Amtszeit, verkündete Wladi­mir Putin den Plan, über Nationale Projekte den Lebensstandard der Bevölkerung deut­lich zu erhöhen.

Die aktuelle Auflage ist auf den ersten Blick wesentlich umfangreicher. Allerdings hält der Zahlenzauber der astronomischen Projektbudgets einer genaueren Überprüfung nicht stand. Das Pro­jekt »Demografie« etwa, das mit 3,3 Bil­lionen Rubel bis 2024 die meisten föderalen Mittel erhält, bildet hauptsächlich die Fortsetzung eines bereits 2007 initiierten Programms, mit dem junge Familien unterstützt werden.

Bei den tatsächlich neu geplanten Investitionen kommt die Ausführung der Pro­jekte zudem nur schleppend voran. Im ersten Halbjahr 2019 wurden deshalb ledig­lich 32,4% der jährlichen Mittel ausgegeben. Spürbaren positiven Einfluss auf das Wirt­schaftswachstum hat das Programm bisher nicht entfaltet.

Große Hoffnungen, dass dank der Nationalen Projekte ein wirtschaftlicher Auf­schwung bevorsteht, hegen weder die russi­sche Elite noch die Bevölkerung. In Moskau war zuletzt sogar vermehrt offene Kritik an dem Entwicklungsprogramm zu hören, etwa vom Präsidenten der staatlichen Sber­bank, German Gref, und dem Vorsitzenden der russischen Rechnungshofes, Alexej Kudrin. Nur 44% der Russinnen und Russen haben einer Um­frage zufolge von den Nationalen Projekten gehört, und nur 6% der Befragten glauben an den Erfolg des Programms.

Ausblick

Die Wirtschaftskrise ab 2015 hat die rus­si­sche Bevölkerung wesentlich härter getrof­fen als die globale Finanzkrise im Jahr 2009. Vor zehn Jahren stellte der Kreml durch massive Rentenerhöhungen sicher, dass die Einkommen weiter steigen. Heute setzt die Staatsführung auf finanzielle Stabilität und ist nicht bereit, die Konsolidierung des Haushalts für neue Sozial­programme aufs Spiel zu setzen.

Das nachhaltige Absinken der Lebensstandards ist damit ein in der »Ära Putin« neues Phänomen. Viele Befragungen zei­gen, dass diese Entwicklung Unmut in der Bevöl­kerung hervorruft. Eine klare Mehr­heit der Russinnen und Russen hält inzwi­schen entschiedene, umfassende politische Veränderungen für notwendig, wobei die Steigerung der Einkommen als wichtigstes Anliegen genannt wird.

Wirtschaftspolitisch hat sich die russische Führung durch ihre Konzentration auf geopolitische Machtspiele weitgehend die Hände gebunden. Finanziell entscheidend sind dabei nicht die direkten Militäraus­gaben, die in der Schätzung des Stockholm International Peace Research Institute weni­ger als 4% des Bruttoinlandsprodukts aus­machen. Viel­mehr erfordert die Konfrontation mit den sanktionsbereiten USA in den Augen der russischen Führung, beson­ders große Devisenreserven anzulegen und kost­spielige Programme zu starten, um Russ­lands Import­abhängigkeit zu verringern.

Konfrontation und Erfolge auf der weltpolitischen Bühne haben für die Bevölkerung indes an Bedeutung verloren. Der Anteil der außenpolitisch Interessierten in Russland ist von 61% im Jahr 2016 auf 49% im Juni 2019 gefallen. Ein Drittel der Rus­sinnen und Russen findet gar, dass die Füh­rung in Moskau der Außenpolitik zu viel Aufmerksamkeit widmet. Drängende sozia­le Fragen lassen sich nicht mehr wie nach der Krim-Annexion 2014 mit außenpolitischen Fanfaren übertönen.

Die Unzufriedenheit in der Bevölkerung hat in den Regionalwahlen 2018 und 2019 die Zahl der Mandate für die Partei Einiges Russ­land abschmelzen lassen. Größere Über­raschungen ereigneten sich allerdings nur in weni­gen Regionen. Auch wenn Wahlmanipulatio­nen in Moskau im Sommer Proteste nach sich zogen, zeichnet sich im Hinblick auf zukünftige Regionalwahlen und die Dumawahl 2021 kein Stra­tegie­wechsel der russischen Führung ab.

Wahrscheinlicher ist, dass altbekannte Instrumente zum Einsatz kommen. So könnte der Kreml, wie zum Teil vor der Präsidentschaftswahl geschehen, kurzfristig die Gehälter für Staatsbedienstete oder auch Renten deutlich steigern. Um politi­sche Handlungsfähigkeit zu demonstrieren, könnte sich die russische Führung außer­dem auf öffent­lichkeitswirksame Korrup­tionsverfahren gegen Mitglieder der politi­schen Elite ver­legen.

Der schwelende Unmut in der Bevölkerung wirkt als Katalysator für eine Vielzahl von Protesten, die sich an unterschied­lichen, fast immer lokalen Anliegen ent­zünden. Oft ist es die herablassende Hal­tung politischer Eliten oder ihre allzu offen­sichtliche Missachtung von Mensch und Umwelt, die – angesichts von Einkommens­verlusten und sozialpolitischen Einschnitten auf föderaler Ebene – den Gedulds­faden reißen lässt.

Bislang geht von diesen Demonstrationen keine Gefahr für die politische Stabili­tät in Russland aus. Dass der Kreml zuneh­mend mit Repressionen auf die Proteste re­agiert, ist aber auch für die wirtschaftliche Entwicklung ein Problem. Es ist gerade der russische Sicherheitsapparat, der durch seine Willkür gegenüber Unternehmern das Investitionsklima vergiftet. Je wichtiger Poli­zei und Geheimdienst für den Macht­erhalt werden, umso unwahrscheinlicher sind dringend benötigte Reformen, die den Zugriff des Sicherheitsapparats auf die Wirtschaft begrenzen.

Dr. Janis Kluge ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2019

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