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Russlands Regionen und der Krieg gegen die Ukraine

Bei der Mobilisierung von Soldaten und der Bekämpfung der wirtschaftlichen Rezession setzt der Kreml auf die Loyalität regionaler Eliten

SWP-Aktuell 2022/A 70, 07.11.2022, 8 Seiten

doi:10.18449/2022A70

Forschungsgebiete

Die Entscheidung Wladimir Putins, die Ukraine anzugreifen, traf die 83 Föderationssubjekte Russlands unvorbereitet. Nach acht Kriegsmonaten zeigen sich in den Regio­nen die unmittelbaren Rückwirkungen des Krieges und die Folgen westlicher Wirt­schaftssanktionen. Der Kreml versucht, die Regionen insbesondere für die Mobilisierung von Soldaten, die Herrschaftssicherung in den besetzten ukrainischen Gebieten und die Eindämmung der wirtschaftlichen Rezession in die Pflicht zu nehmen. Dabei verteilt sich die Last des Krieges ungleich auf die Verwaltungseinheiten. Trotz Kriegs­zensur, Staatspropaganda und Massenemigration entlädt sich auf lokaler Ebene Un­mut über die Folgen des Krieges und den Umgang mit den gefallenen Soldaten.

Russlands Regionen sind ein wichtiger Bestandteil der russischen Kriegslogistik. Regionale Eliten sehen sich dabei mit der Herausforderung konfrontiert, gleichzeitig Loyalität gegenüber dem Kriegskurs der Führung in Moskau demonstrieren zu müs­sen als auch ihre Kompetenz als lokale Pro­blemlöser und Herrschaftsinstrumente des Präsidenten unter Beweis zu stellen. Einer­seits verschiebt sich dadurch die föderale Macht­balance weiter nach Moskau, da die Regionen in zunehmendem Maße der poli­tischen Prioritätensetzung des Kremls aus­gesetzt und auf föderale Transfers angewiesen sind. Loyalität gegenüber Putin und politische Beziehungen in die Herrschaftselite, die den Präsidenten umgibt, gewinnen noch mehr an Relevanz. Andererseits kommt den Regionen als administrative Instrumente autokratischer Steuerung eine herrschaftsstabilisierende Bedeutung zu, die mit begrenzter Kontrolle über die Im­plementierung der verhängten Maßnahmen verbunden ist. So führt der Krieg zwar kurz- und mittelfristig zur Zentrali­sierung der föderalen Machtbeziehungen; langfristig aber schafft er durch sozioökonomische Verwerfungen und politische Unsicherheit Risiken für den russischen Autoritarismus.

Der Begriff »Region« wird im Folgenden als Sammelbegriff für sechs Typen von Födera­tionssubjekten verwendet. Dazu zählen 21 Republiken, eine Autonome Oblast, vier Autonome Kreise (Okrug), neun Regionen, 46 Gebiete (Oblast) sowie zwei Städte. Zu diesen 83 Regionen kommen sechs in den vergangenen Jahren annektierte Gebiete. Am 18. März 2014 inkorporierte Russland völkerrechtswidrig die ukrainische Halbinsel Krim. Seitdem werden die Republik Krim und die Stadt Sewastopol als zwei weitere Föderationssubjekte geführt. Ferner annektierte Russland am 30. Sep­tem­ber 2022 Teile der Südostukraine, deren Oblaste nun von Russland als Republiken Donezk und Luhansk sowie Oblaste Sapo­rischschja und Cherson behandelt werden.

Regional ungleiche Mobilisierung

Den Regionen kommt eine zentrale Stel­lung bei den Mobilisierungsanstrengungen des Kremls zu. Recherchen der Plattform Mediazona zeigen, dass allein im ersten Monat seit der Bekanntmachung der so­genannten Teilmobilisierung am 21. Sep­tember 2022 knapp 500.000 Menschen zum Kriegsdienst eingezogen wurden. Für ihre Erhebung griff Mediazona unter anderem auf Daten von Hochzeitsanmeldungen in den Regionen zurück. Die regionale Vertei­lung der Mobilisierten fällt dabei sehr un­gleich aus. Betrachtet man das Verhältnis von Mobilisierten zur Bevölkerungszahl, so sind der Süden und Osten Russlands am stärksten betroffen, insbesondere die Regio­nen Amur, Transbaikalien, Chabarowsk, Burjatien sowie das Jüdische Autonome Gebiet. In absoluten Zahlen wurden die meisten Menschen in der Republik Basch­kortostan und in den Regionen Krasnodar und Moskau mobilisiert. Der Blick auf absolute Zahlen ist jedoch trügerisch: Krasnodar und Moskau zählen zu den am dichtesten besiedelten Regionen. Relativ gesehen war Moskau hingegen am wenigs­ten von der Mobilisierungskampagne be­troffen. Insgesamt wurden seit Mitte Sep­tember schätzungsweise 1,56 Prozent der männlichen Bevölkerung zwischen 18 und 49 Jahren eingezogen.

Die hohen Verluste auf dem Schlachtfeld in der Ukraine hatten den Kreml bereits einige Wochen nach Kriegsbeginn zu einer »Schattenmobilisierungskampagne« ver­anlasst. Bereits diese wies eine hohe regio­nale Varianz auf und nahm die Muster der späteren Teilmobilisierung vorweg. Die Kampagne zielte darauf, über Online-Job­börsen Personal auf Vertragsbasis für den Militärdienst zu rekrutieren. Auch nach der Verkündung der offiziellen Teilmobilisierung im September werden entsprechende Anwerbungen über private Mili­tärfirmen und die Nationalgarde organisiert. Im Fokus der Rekrutierungsbemühungen stehen so­wohl militärisch vorgeschultes als auch lediglich mit Kampfwillen ausgestattetes Personal. Darüber hinaus sind in mehreren Föderationssubjekten Freiwilligeneinheiten ausgehoben worden. Die Initiative dazu ging zwar oft von den Regionalverwaltungen aus, die Organisation verlief aber maß­geblich über Mittelsmänner und informelle Kanäle in den sozialen Medien.

Überrepräsentation von Minder­heiten und Armen unter den Toten

Es sind Russlands ethnische Minderheiten im Süden und Osten des Landes sowie ärmere Bevölkerungsgruppen, die in über­proportionaler Zahl unter den in der Ukraine gefallenen Soldaten der russ­län­dischen Armee zu finden sind. (Der Begriff »russländisch« bezieht sich im Folgenden auf die Russische Föderation insgesamt, »rus­sisch« hingegen auf ethnisch Russisches.) Dieser Trend hat sich bereits seit Kriegsbeginn abgezeichnet und wird von der offiziellen Teilmobilisierung verstärkt. Die Verteilung der Toten folgt somit den regionalen Mustern der Rekrutierung. Gleichzeitig verschweigt der Kreml seit dem Beginn der Invasion das tatsächliche Aus­maß des Krieges und die Zahl der Gefallenen vor der russländischen Öffentlichkeit. Es obliegt daher den Kommunen, einen Umgang mit den – nach konservativen Berechnungen – Zehntausenden gefallenen Soldaten zu finden, die der Krieg bis jetzt gefordert hat.

Generell ist der Anteil ethnischer Minder­heiten unter den in der Ukraine eingesetzten Einheiten der russländischen Armee höher als ihr jeweiliger Anteil an der Gesamt­bevölkerung. Schätzungen zufolge ver­zeich­neten bis April 2022 die Regionen Dagestan, Inguschetien und Nordossetien im Kau­kasus und Burjatien, Tschukotka und Tuwa im russländischen Fernen Osten die höchs­ten Verlustzahlen. Nach Angaben von Jour­nalisten der Plattform »Menschen des Bai­kals«, die offen zugängliche Daten zu gefal­lenen Soldaten ausgewertet haben, stieg in den ersten drei Monaten des Krieges die Sterblichkeitsrate burjatischer Männer im Alter von 18 bis 45 Jahren um 63 Prozent und die junger Männer unter 30 Jahren um 300 Prozent. Aus Moskau hingegen stamm­te keiner der ermittelten Toten. Die hohen Todeszahlen nicht nur in Regionen mit ethnischen Minderheiten, sondern auch mit ausgeprägter Armut, etwa Wolgograd, Baschkortostan oder Orenburg, legen somit den Schluss nahe, dass die menschlichen Kosten des Krieges – neben den Ukrainerinnen und Ukrainern – über­proportional von Russ­lands Minderheiten und Armen bzw. armen Minderheiten ge­tragen werden.

Um die öffentliche Verbreitung der tat­sächlichen Todeszahlen in den Regionen zu unterbinden, geht die russländische Füh­rung mit Hilfe des Inlandsgeheimdiensts FSB hart gegen lokale Medien und kritische Journalistinnen und Journalisten vor. So blockierte etwa Roskomnadzor, Moskaus Zensurbehörde, bereits im April den Zu­gang zum lokalen Medienportal Ljudi Baikala, dessen Reporterinnen und Reporter zuvor über die massiv gestiegene Sterblichkeit unter jungen Männern in Burjatien berichtet hatten. Anderen Medien, die da­rüber informiert hatten, dass das Durchschnittsalter der Gefallenen 28 Jahre be­trage, drohte das Justizministerium mit hohen Geldstrafen und Strafverfahren.

Gesellschaftlicher Protest in den Regionen

Zensur und Repression können jedoch nicht verhindern, dass sich das Unbehagen über das Solda­tensterben auf der Ebene der lokalen Öffentlichkeiten Bahn bricht, wo regelmäßig Ehefrauen die Heimkehr ihrer Männer fordern. Die Überrepräsentation ethnischer Minderheiten unter den Gefal­le­nen verstärkt in den betroffenen Bevölkerungsgruppen das Gefühl, für die Kriegsabenteuer eines imperialen Zentrums in­strumentalisiert zu werden. Im Gegensatz zu den urbanen Ballungsräumen Moskau und St. Petersburg, wo sie auf paradoxe Weise abwesend ist, lässt sich die Realität des Krieges durch die täglich stattfindenden Beerdigungen in anderen Regionen nicht vor der Öffentlichkeit verbergen. Die von Teilen der ethnischen Minderheiten empfun­dene innerrussländische Kolonialität des Krieges hat sich etwa im Verwaltungsbezirk Kazan in vereinzelten Unmutsbekundungen in Form von T‑Shirt-Kampagnen unter dem Slogan »Ich bin nicht russisch!« (Ja ne russki!) geäußert. Auch die Massenproteste in Dagestan nach der Verkündung der Teil­mobilisierung stehen für den Widerwillen von Angehörigen ethnischer Minoritäten Russlands, als neo-imperiales Kanonen­futter in der Ukraine eingesetzt zu werden.

Der punktuellen und lokalen öffentlichen Kritik im Internet steht die über das Fern­sehen und staatliche Printmedien verbreitete Propaganda gegenüber, in der die mensch­lichen Verluste des Krieges fast vollständig ignoriert werden. Auch regionale Behörden sind mittlerweile von einer Strategie der Anteilnahme in den ersten Kriegswochen, etwa durch die Präsenz bei Trauerfeiern für gefallene Soldaten, zu öffentlicher Zurück­haltung übergegangen. Während es den Gouverneuren unmittelbar nach Kriegs­beginn noch um die Absicherung der eige­nen Legitimität gegenüber der regio­nalen Bevölkerung ging, dominiert unter ihnen mittlerweile die Angst, eine Solidarisierung mit den vom Krieg betroffenen Familien könne als Illoyalität gegenüber der Kriegs­politik des Kremls ausgelegt werden.

Den bisher radikalsten gesellschaftlichen Widerstand gegen Russlands Invasion der Ukraine stellt eine Kette von vereinzelten Brandanschlägen auf regionale militärische Rekrutierungsbüros dar, die sich von Mos­kau bis nach Wladiwostok erstreckt. In Primorje im äußersten Osten der Russischen Föderation etwa ging einer solchen Attacke auf ein lokales Rekrutierungsbüro ein Auf­ruf in den sozialen Medien voraus. Darin forderten die Verfasser, Kommissariate in Brand zu setzen und versprachen finanzielle Belohnungen für entsprechende Akte. Ferner ist es seit Beginn des Krieges zu ver­einzelten Sabotageakten unbekannter Ur­heberschaft auf Bahntrassen gekommen, auf denen Kriegs­material von Russlands östlichen Regionen an die Westfront trans­portiert wird. Unter dem Banner »Stopp die Wagen!« (Ostanowi wagoni!) dokumentiert ein unbekanntes Kollektiv in sozialen Netz­werken Taten und gibt technische Anleitungen für Sabotageakte.

Dass lokaler Unmut nicht in größere Proteste umschlägt, liegt neben der staat­lichen Repression und der kontinuierlichen Zerschlagung der politischen Opposition in den vergangenen Jahren zum einen an mehreren massiven Auswanderungswellen seit Kriegsbeginn. Schätzungsweise 900.000 Menschen – 200.000 vor, 700.000 nach der Teilmobilisierung – haben seitdem das Land verlassen. Zum anderen besteht durch­aus eine relative ökonomische Attraktivität des Kriegsdiensts, wenn man sich für den Eintritt in eines der regionalen Freiwilligen­bataillone oder den temporären Kriegsdienst auf Vertragsbasis entscheidet. Wenngleich das versprochene Grundgehalt moderat ist, können durch verschiedene Boni umgerech­net etwa 4.000 US-Dollar pro Monat ver­dient werden. Hinzu kommen diverse Ver­günstigungen, etwa Baukredite zu niedri­gen Zin­sen. Vor dem Hintergrund eines russländischen Vorkriegs-Durchschnitts­einkommens von 600 US-Dollar verfangen entsprechende Angebote vor allem in öko­nomisch deprivierten Regionen. Die wirt­schaftliche Rezes­sion und der Wegfall alter­nativer Einkommensquellen machen die Armee – eine der wenigen verbliebenen Wege zu Verdienst-, Reise- und sozialen Aufstiegsmöglichkeiten – sowohl für zahlreiche junge Männer als auch für ältere Arbeitslose mit militärischer Vor­erfahrung durchaus attraktiv.

Vereinzelte Kritik aus der Regionalpolitik

Seit Kriegsbeginn ist es lediglich punktuell zu Unmutsbekundungen politischer Eliten in den Regionen gekommen. So forderten zwei Abgeordnete der Kommunistischen Partei der Russländischen Föderation (KPRF) in der regionalen Duma Primorjes den so­fortigen Abzug der russländischen Truppen aus der Ukraine. Der Vorsitzende der KPRF in Primorje versprach daraufhin die »härtes­ten Maßnahmen« gegen die Abweichler. Einzelne KPRF-Mitglieder aus den Regionen, unter anderem aus Woronesch, Komi und Jakutien, kritisierten ebenfalls den Krieg. Wjatscheslaw Markajew aus Burjatien be­klagte, die Anerkennung der Volksrepubliken Donezk und Luhansk sei lediglich ein Vorwand für einen Krieg mit sinnlosen Opfern gewesen, während das Land auf junge arbeitende Männer angewiesen sei. Gemeinsam mit mehreren außerparlamentarischen Gruppierungen hat der sehr aktive und junge Moskauer KPRF-Abgeord­nete Jewgeni Stupin sogar ein linkes Anti­kriegsbündnis gegründet. Die Parteiführung der KPRF unterstützt hingegen die Regierungslinie, wonach in der Ukraine der Faschismus bekämpft werde, und nahm mehreren KPRF-Mitgliedern, die sich kritisch geäußert hatten, die Parteiausweise ab.

Weder ethnischer Unmut, punktuelle politische Kritik der systemischen Opposi­tion noch anonyme Sabotageakte konnten jedoch bisher die Kriegsanstrengungen des Kremls nachhaltig schädigen.

Russlands Gouverneure im Loyalitäts- und Kompetenztest

Ferner sind seit Kriegsbeginn auch von den Gouverneuren der russländischen Regionen keine politischen Impulse für eine Infrage­stellung des Moskauer Kriegskurses aus­gegangen. Zu hoch sind die politischen und individuellen Risiken, auch wenn die Kriegs­kosten für die Regionen enorm sind und damit das Potential langfristiger Destabili­sierung zunimmt. Gleichzeitig haben nur wenige Gouverneure versucht, sich durch eigene Truppenbesuche in der Ukraine und eine öffentliche und proaktive Unterstützung der Kriegsentscheidung gegenüber dem Kreml zu profilieren. Die meisten Gouverneure beschränken sich darauf, den Spagat zwischen der Erfüllung der Vor­gaben, die die Präsidialadministration an sie heranträgt, und der Wahrung lokaler Stabilität zu bewerkstelligen.

Am lautesten hat sich Ramsan Kadyrow für den Krieg ausgesprochen, der Anführer der Republik Tschetschenien. Dessen Trup­pen kämpfen gemeinsam mit der regulären russländischen Armee in der Ukraine, unter­stehen jedoch dem persönlichen Kom­mando des archaisch und kriegslüstern auf­tretenden Kadyrow. Hinter der bedingungslos scheinenden Unterstützung Putins steht höchstwahrscheinlich das rationale Kalkül des Tschetschenenführers, die erwiesene Loyalität in den kommenden Jahren in stabile Finanzströme aus Moskau ummünzen zu können.

Ferner reiste Oleg Koschemjako, Gouverneur der fernöstlichen Region Primorje, be­reits mehrmals in die Ostukraine. Koschem­jako, der als einziger Politiker bereits in vier verschiedenen russländischen Regionen als Gouverneur tätig war, gilt in seiner Funk­tion als loyaler Pro­blemlöser mit hervor­ragenden Beziehungen nach Moskau und Karriereambitionen auf föderaler Ebene. In­sofern liegt es nahe, seine Unterstützungs­aktionen vor allem als Loyalitäts­bekundung gegenüber dem Präsidenten zu sehen.

Nachdem Koschemjako sich zuvor in Primorje mit ukrainischen Flüchtlingen getroffen hatte, galt sein Osterbesuch der 155. Brigade der Marineinfanteristen der russländischen Pazifikflotte, die im Krieg gegen die Ukraine eingesetzt wird. Ein anderes Mal ließ sich der Gouverneur im Umfeld einer humanitären Hilfslieferung für Soldaten aus der Region sehen. In Pri­morje selbst hat Koschemjako lokale Unter­nehmen angehalten, gezielt ukrainische Flüchtlinge einzustellen. Zudem reagier­te die eng mit der regionalen Verwaltung ver­bundene Fernöstliche Föderale Universität in Wladiwostok auf ein Dekret Putins und hält nun zehn Prozent der staatlich geför­derten Studienplätze für Kinder von Solda­ten vor, die in der Ukraine kämpfen. Seit Mai sind an prominenten Orten in Wladi­wostok zudem Plakate zu sehen, die mit dem in den ersten Kriegstagen kreierten Symbol Z gekennzeichnet sind und zum Mili­tärdienst auf Vertragsbasis auffordern. Lokalzeitungen in Primorje werben mit An­geboten für das Tigr-Freiwilligenbataillon, das die in der Ukraine eingesetzte Marineinfanterie der Pazifikflotte unterstützt. Auch das private Militärunternehmen Wagner hat mittlerweile ein Rekrutierungsbüro in Wladiwostok eröffnet.

Der Gouverneur von St. Petersburg, Alexander Beglow, besuchte Anfang Juni die vom Krieg nahezu vollständig zerstörte ukrainische Stadt Mariupol. Bereits vor dem Besuch hatten Beglow, Denis Puschilin, der Anführer der sogenannten Donezker Volks­republik, und Konstantin Iwaschenko, der von Russland neu eingesetzte Bürgermeister Mariupols, eine Vereinbarung getroffen. Darin erklären sich St. Petersburg und Mariupol offiziell zu Partnerstädten und verpflichten sich zu einer umfangreichen Zusammenarbeit und Wiederaufbauhilfe auf den Gebieten des Handels, des Bau­wesens, der Infrastrukturentwicklung, des Eisenbahnwesens, der Bildung und Kultur sowie der Gesundheitsversorgung.

Beglows Initiativen sind ein Beleg für dessen Loyalität gegenüber dem gebürtigen Petersburger Putin – die zweitgrößte Stadt Russlands hatte sich bereits durch eine be­sonders intensive Schattenmobilisierungskampagne hervorgetan – und können zu­dem als außenwirtschaft­liches Förder­programm für Petersburger Unternehmen gesehen werden. Ferner steht das Petersburger Modell für die Strategie des Kremls, durch verordnete Schirmherrschaften russ­ländischer Städte für Gemeinden in der Südostukraine Teile der Kriegs- und Wieder­aufbaukosten in den besetzten ukrainischen Gebieten auf die offiziellen oder ver­deckten Haushalte der Regionen abzuwälzen. Zum Patenschaftsprogramm gehört auch die Entsendung mittlerer und unterer Verwaltungsangestellter und Arbeiter in die besetzten ukrainischen Gebiete. Bis Ende Juni hatten sich jedoch nur 18 Regionen in Russland bereiterklärt, diese im Mai ver­kündete persönliche Initiative Putins um­zusetzen – unter anderem Moskau, dessen Bürgermeister Sergej Sobjanin Hilfe für den infrastrukturellen Wiederaufbau der Städte Donezk und Luhansk zusicherte. Die Präsi­dialadministration ordnete schließlich weitere 24 Regionen an, sich zu beteiligen. Ausgenommen waren kleine und stark subventionierte Föderationssubjekte sowie solche, in denen die Kandidaten der Staats­partei Einiges Russland (ER) nur über eine geringe Mehrheit verfügten. Der für Anfang Herbst fest eingeplante (und schließlich »errungene«) Sieg in den Regionalwahlen sollte nicht gefährden werden.

»Kreative Lösungen« zur Rettung regionaler Entwicklungsziele: Gouverneure unter Druck

Seit Kriegsbeginn stehen die Gouverneure unter besonderer Beobachtung. Putin hatte den Verwaltungschefs bereits im März mehr Freiräume bei der »kreativen Lösung« wirt­schaftlicher Probleme versprochen, die der Krieg und die Sanktionen verursachen. Damit übertrug er die politische Verant­wortung für den Umgang mit den ökonomischen Verwerfungen des Krieges an die Regionen. Diese sollen, so Putin, alle lau­fenden Entwicklungs- und Bauprojekte wie geplant weiterführen, um Nachfrage für jene in Russland produzierten Produkte zu generieren, denen nun der Exportweg ver­sperrt ist. Inwiefern die jeweiligen Gouver­neure es schaffen, ihre in der Realität sehr begrenzten Spielräume zu nutzen, wird entscheidend dafür sein, wie sie vom Kreml eingeschätzt werden. Dabei wird die Unter­stützung der regionalen Oberhäupter un­gleich ausfallen und vor allem politischen Kriterien folgen. Tschetschenenführer Kady­row etwa wird dank seiner loyalen Kriegs­dienste weiter auf Moskauer Subventionen zählen können. Auch die Region Kemerowo, wo Gouverneur Sergej Ziviljow, ein ein­geheirateter Verwandter Putins, regiert, kann auf eine Extra-Unterstützung ihrer Kohleindustrie zählen, die dort unter Druck geraten ist.

Dabei treffen die Sanktionen die Regionen in ungleicher Weise. Zwar verzeichneten Sibirien, der Ferne Osten und der Nord­kaukasus aufgrund postpandemischer Er­holungseffekte bis März noch steigende Wachstumsraten in der industriellen Pro­duktion. Mittlerweile ist das Wachstum je­doch in ganz Russland eingebrochen. Beson­ders betroffen sind Regionen mit umfangreicher Industrieproduktion und einem vormals hohen Anteil ausländischer Direkt­investitionen. Dies gilt etwa für die Auto­mobilproduktion in Samara oder Kaluga, die petrochemische Industrie in Nischni Nowgorod oder den Maschinenbau in Mari El, Tatarstan, Samara und Uljanowsk. Russ­lands westliche Regionen mit ihrer historisch gewachsenen Ausrichtung nach Europa und die größeren Städte wie Moskau und St. Petersburg verzeichnen vor allem durch den Rückzug westlicher Unternehmen Einbrüche ihrer Wirtschaftstätigkeit. Seit der offiziellen Bekanntmachung der Teil­mobilmachung am 21. September haben zudem mehrere Hunderttausend Russen das Land verlassen. Dies verstärkt den Brain Drain, der bereits mit Kriegsbeginn ein­setz­te, und verschlimmert den Arbeitskräftemangel für russländische Unternehmen.

Um die wirtschaftlichen Verwerfungen in den Regionen zu minimieren, wurden ferner Gesetze auf den Weg gebracht, die das Finanzministerium ermächtigen, Kredite aus Haushaltsmitteln in Höhe von 390,7 Milliarden Rubel zu verteilen. Dies soll den Regionen ermöglichen, Schulden bei internationalen Banken und Institutionen zu bedienen. Zudem setzt ein Gesetz für das Jahr 2022 die Pflicht der Regionen aus, frühere Kredite aus dem Föderations­haushalt zurück­zuzahlen. Monetäre Zu­wendungen des Staates können jedoch zumindest kurz- und mittelfristig nicht die regionalen Notlagen beseitigen, die sich aus der sanktionsbedingten Unterbrechung von Lieferketten ergeben haben. Auch kam es in einigen Betrieben zu ausbleibenden Lohn­zahlungen und zu Streiks, die die lokalen Strafverfolgungsbehörden auf den Plan rie­fen. Regio­nale Produktionsprobleme wir­ken sich zudem ihrerseits auf die Import­substitutionspläne nationaler Player aus.

Auch vergleichsweise wohlhabende Regionen mit ausgeprägter Ölproduktion, wie etwa Komi, Tatarstan und Tjumen, oder metallurgischer Industrie, die derzeit von hohen Weltmarktpreisen für Rohstoffe pro­fitieren, sind perspektivisch mit dem Weg­brechen westlicher Absatzmärkte und Schwierigkeiten bei der Beschaffung aus­ländischer Komponenten zur Wartung der Fördertechnologie konfrontiert. Inwiefern diese Regionen, wie vom Kreml verkündet, neue Exportmärkte, etwa in China, erschlie­ßen oder alternative Lieferketten über Dritt­länder wie die Türkei aufbauen können, ist noch nicht absehbar. Selbst das reiche Moskau muss sich anpassen: So rief Bürger­meister Sobjanin eine Arbeitsgruppe mit dem euphemistischen Namen »Kommission für nachhaltige Wirtschaftsentwicklung« ins Leben, um die ambitionierten Bau­projekte der Stadt auf die neuen Sanktions­bedingungen einzustellen.

Gleichzeitig haben Regionen mit umfangreicher Landwirtschaft, etwa Krasnodar und Rostow, vom zwischenzeitlichen Weg­fall der ukrainischen Konkurrenz und hohen Weltmarktpreisen profitiert. Mit der seit Juli beobachtbaren Normalisierung der globalen Getreidepreise und der Wiederaufnahme von Exporten aus der Ukraine dürfte diese Konjunktur jedoch nur tem­porär gewesen sein. Der Ferne Osten Russ­lands, für den der Kreml einen Ausbau der Landwirtschaft mit dem strategischen Ziel der regionalen Nahrungsmittelautarkie an­geordnet hatte, wird damit auf einem wich­tigen Gebiet in seiner Entwicklung zurück­geworfen. In der Region Primorje betrifft dies beispielsweise Projekte in der Milch-, Schweinefleisch-, Gemüse- und Kräuter­herstellung, die mangels westlicher Ausrüs­tung (einstweilen) gestoppt wurden. Inwie­fern das Nachbarland China als neue Import­quelle von Agrarmaschinen erschlossen werden kann, ist wegen zahlreicher gegen­seitiger Einfuhrbeschränkungen bei Agrar­technologie und ‑produkten noch offen.

Die Rückwirkungen des Krieges haben ferner massive Auswirkungen auf die inner­russländische Logistik. Russlands Verkehrs­minister Witali Saweljew zufolge haben die westlichen Sanktionen »praktisch die ge­samte Logistik in unserem Land ruiniert«. Aufgrund versperrter Exportwege gen Westen und des Rückzugs westlicher Versicherungs- und Cargofirmen aus dem russländischen Markt ist Russland beim Warenverkehr vermehrt auf das Schienennetz bzw. kleinere Häfen in den nicht-west­lichen Regionen der Föderation angewiesen. Neben einem Ausbau des bereits vor Kriegs­beginn chronisch überlasteten Schienentransportsystems des Landes erfordert die Anpassung der innerrussländischen Logistik nun Investitionen in Brücken, Straßen und Hafenzufahrten. Im Zuge dessen ist nicht auszuschlie­ßen, dass einige Regionen in Sibirien oder dem Fernen Osten von neuen Investitionen in die Infrastruktur profitieren. Vor der Bereitstellung entsprechender Finanzmittel stehen jedoch hohe Hürden: So haben die USA mittlerweile die Fernöstliche Bank (FEB), die größte regionale Bank im russländischen Fernen Osten und Ost­sibirien, sanktioniert. Auch das staatliche Entwicklungsunternehmen VEB.RF (früher Wneschekonombank), das vom Putin-Ver­trauten Igor Schuwalow geführt wird, ist von Sanktionen betroffen.

Vor diesem Hintergrund schlägt der Vize-Ministerpräsident und Bevollmächtigte des Präsidenten für den Fernen Osten Juri Trut­new vor, in der Transbaikal-Region mit ihrer Nähe zum chinesischen Nachbarn grenzüberschreitende Erweiterte Sonderwirtschaftszonen (ESWZ) einzurichten. Diese sollen die wirtschaftliche Ausrichtung der russländischen Regionen nach Osten, also vor allem nach China, zementieren. Etwaigen sanktionsbedingten Problemen bei den geplanten fernöstlichen Projekten begegnet Trutnew mit der Zuversicht, feh­lende Produkte zukünftig in der Region selbst herstellen zu können. Hierzu will man die Kooperation mit Nordkorea aus­bauen, etwa bei der Anwerbung nordkorea­nischer Bauarbeiter und der Ausbildung von IT-Spezialisten.

Insgesamt hat die wirtschaftliche Rezession durchaus das Potential, die soziale Stabilität in den Regionen zu gefährden. In den fernöstlichen Regionen etwa wirken sich die Sanktionen bereits negativ auf die Mobilität der Bevölkerung aus. Weil ameri­kanische Firmen Leasingverträge storniert haben, mussten einige lokale Fluggesellschaften ihren Betrieb stark einschränken oder einstellen. Zudem können Flugzeuge nicht mehr vorschriftsgemäß gewartet werden, was die Sicherheit der Reisenden gefährdet. Auch regionale Serviceindustrien sind von den Sanktionen betroffen. Wäh­rend die Behörden in größeren Städten Finanzhilfen zur Verfügung stellen, werden die betroffenen Sektoren in anderen Regio­nen oft sich selbst überlassen.

Krieg nach außen – föderaler Zentralisierungsschub im Inneren

Die Unterordnung der nationalen und regio­nalen Entwicklung unter den Kriegswillen des politischen Zentrums führt im Ver­hält­nis zwischen dem Kreml und den Regionen zu einem Zentralisierungsschub. Die intra-föderale Machtbalance verschiebt sich weiter Richtung Moskau, da die Regionen in noch höherem Maße als vor dem Krieg auf Subventionen angewiesen sind und der politischen Prioritätensetzung des Zentrums unterliegen. Bei der Verteilung von Ressour­cen werden politische Kriterien weiter an Relevanz gewinnen. Regionen wie die an­nektierte ukrainische Krim-Halbinsel und der Ferne Osten Russlands, aber auch der Nord­kaukasus dürften sich ob ihrer geo­politischen Bedeutung der weiteren poli­tischen Aufmerksamkeit des Zentrums sicher sein. Ferner werden innenpolitisch in noch stärkerem Maße politische Verbindungen und Loyalitäten eine Rolle spielen, die zudem einem verabsolutierten Stabili­tätsimperativ untergeordnet sein werden.

Kritik an den Kriegsfolgen seitens regionaler politischer Eliten ist bisher weitgehend ausgeblieben. Zu hoch ist das Risiko, die eigene Gouverneurs- oder Verwaltungs­karriere zu gefährden. Andererseits haben nur wenige Entscheidungsträger in den Föderationssubjekten versucht, ihre Loya­lität zum Kreml durch eine proaktive In­stru­mentalisierung des Krieges unter Beweis zu stellen, indem sie sich an der ukrainischen Front präsentieren. Der Grund dafür mag sein, dass in den Regionen die Toten des Krieges und die wirtschaftlichen Belastungen durch die Sank­tionen besonders sicht­bar sind, aber auch der Umstand, dass die Re­gio­nen vollkommen unvorbereitet mit der Kriegspolitik des Kremls konfrontiert wurden.

Die Kombination aus extremer politischer Zentralisierung, sozioökonomischen Verwerfungen und radikaler Unsicherheit, die die Regionen derzeit kennzeichnet, birgt Krisenpotential. Die Erosion des Putin­schen Stabilitätsversprechens kann sich langfristig zersetzend auf das persona­lisierte Herrschaftssystem Russlands aus­wirken. Vor diesem Hintergrund trägt die westliche Sanktionspolitik nicht nur zu einer langfristigen Schwächung der russ­ländischen Wirtschaft bei, sondern hat mit­telfristig und im Zusammenspiel mit den politischen Strukturen in Russland auch den unintendierten Nebeneffekt einer Zen­tralisierung der föderalen Beziehungen des Landes. Weder von den Gouverneuren noch von lokalen Unmutsbekundungen sollten daher kurzfristig Impulse für eine Infragestellung des politischen Status quo in Russ­land erwartet werden.

Sebastian Hoppe ist Gastwissenschaftler in der Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2022

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