Die russische Führung hat bei der Dumawahl vom 17. bis 19. September 2021 ihre selbstgesteckten Ziele erreicht: Die Partei Einiges Russland verfügt weiterhin über eine verfassungsändernde Mehrheit im Parlament, obwohl sie in der Bevölkerung wenig Unterstützung genießt. Von der erstarkten Kommunistischen Partei der Russischen Föderation (KPRF) und der neu ins Parlament eingezogenen Partei Nowyje Ljudi (Neue Menschen) geht keine Bedrohung für die russische Führung aus. Damit bleibt die Duma auch in den kommenden fünf Jahren ein willfähriges Instrument des Kremls. Allerdings waren umfangreiche Wahlfälschungen notwendig, um dieses Ergebnis zu erzielen. Politische Konkurrenz und Wahlbeobachtung wurden mit altbekannten, aber auch mit neuen Methoden beschnitten. Besonders das elektronische Wählen macht die Wahlergebnisse leichter steuerbar und dürfte den Charakter von Wahlen in Russland nachhaltig verändern. Die voranschreitende inhaltliche Entwertung der Urnengänge könnte langfristig aber auch Risiken für den Kreml erzeugen, da er damit ein wichtiges politisches Frühwarnsystem verliert.
Die Kremlpartei Einiges Russland hat bei der Dumawahl ein offizielles Ergebnis von 49,8% der gezählten Stimmen erzielt. Da sie zahlreiche Direktmandate gewonnen hat, kontrolliert sie nun 324 der 450 Duma-Sitze und verfügt über eine verfassungsändernde Zwei-Drittel-Mehrheit. Dabei waren die Vorzeichen für Einiges Russland außerordentlich schlecht. Gründe dafür waren die unpopuläre Rentenreform im Jahr 2018, jahrelange wirtschaftliche Stagnation und anhaltend hohe Corona-Todeszahlen. Im Sommer waren die Umfragewerte der Partei bis auf 26,4% gefallen. Trotzdem verlief die Wahl ohne größere Überraschungen.
Um auch geringste Unwägbarkeiten während der Wahl auszuschließen, war der russische Staatsapparat zuvor mit kompromissloser Härte gegen oppositionelle Politiker und unabhängige Medien vorgegangen. Viele regimekritische Kandidaten wurden von der Wahl ausgeschlossen oder durch Ermittlungen unter Druck gesetzt. Die russische Repressionsmaschine blieb aber auch nach der Wahl in Fahrt: Vor allem Wahlbeobachter wurden Ende September als »ausländische Agenten« gebrandmarkt.
Mit einem Gesetz, vor der Wahl im Eilverfahren verabschiedet, wurde den Unterstützern von Alexei Nawalnys inzwischen verbotener Antikorruptions-Stiftung das passive Wahlrecht für bis zu fünf Jahre entzogen. Nawalnys größtenteils ins Ausland geflohene Mitstreiter versuchten über das Internet für die Strategie des »Smart Votings« zu werben. Dabei soll sich das Protestpotential in jedem Wahlkreis auf den jeweils stärksten Oppositionskandidaten konzentrieren. Der Kreml bekämpfte die Veröffentlichung ihrer Kandidatenlisten nach Kräften. Um auch westliche Internetkonzerne gefügig zu machen, wurde deren Mitarbeitern in Russland mit strafrechtlichen Ermittlungen gedroht. Darauf beugten sich auch Google und Apple der Zensur.
Wichtige Teile der kremltreuen Wählerklientel wie Rentner und Angehörige von Militär und Polizei hingegen erhielten in den Wochen vor der Wahl einmalige Bonuszahlungen. Dafür wurden aus dem Staatshaushalt rund 500 Milliarden Rubel (etwa 5,9 Milliarden Euro) bereitgestellt, was etwa 0,5% des BIP entspricht. Präsident Wladimir Putin unterstützte zudem Einiges Russland tatkräftig im Wahlkampf, obwohl er sich sonst eher von der unbeliebten Partei abgrenzt. Auf deren Kongress vor der Wahl verkündete er die Spitzenkandidaten für den Wahlkampf, die von den Polit-Urgesteinen Sergei Lawrow und Sergei Schoigu, Außen- und Verteidigungsminister Russlands, angeführt wurden.
Facelifting für Systemopposition
Zum ersten Mal seit den frühen 2000er Jahren ist in Gestalt von Nowyje Ljudi (Neue Menschen) eine neu gegründete Partei in die Duma eingezogen. Sie errang 5,3% der Stimmen und vervollständigt als fünfte Fraktion die reichlich angestaubte kremltreue sogenannte Systemopposition. Diese bestand bisher aus der KPRF (18,9%), der antiliberal-nationalistischen Liberal-Demokratischen Partei Russlands (7,6%) und der Partei Gerechtes Russland – Für die Wahrheit (7,5%). Offiziell steht der russische Unternehmer Alexei Netschajew an der Spitze von Nowyje Ljudi. Tatsächlich dürfte die Partei aber am Reißbrett im Kreml entstanden sein, um Unzufriedenheit in der Bevölkerung in die Bahnen des kontrollierten Parteiensystems zu lenken. Im Wahlkampf wurde Nowyje Ljudi von Putin-nahen Unternehmern und ihren Medienhäusern unterstützt. Die Partei inszeniert sich als wirtschaftsfreundlich und modern und fordert mehr Selbstbestimmung für die Regionen. Damit will sie zum einen den immer wieder aufkeimenden regionalen Patriotismus bedienen. Zum anderen richtet sich die Partei an gemäßigte urbane Protestwähler, die auch mit Nawalny sympathisieren könnten. Das markante Türkis, das Nawalnys YouTube-Kanal prägt, wurde wohl nicht zufällig als Markenfarbe von Nowyje Ljudi ausgewählt.
Die KPRF, größte Partei der Systemopposition, tat sich im Vorfeld der Dumawahl durch relativ offene Kritik an den staatlichen Repressionen hervor. Nachdem ihr ehemaliger Präsidentschaftskandidat Pawel Grudinin nach einer Entscheidung der Zentralen Wahlkommission nicht kandidieren durfte, rief die KPRF zu Protesten auf. Auch nach der Wahl organisierte die Partei einige kleinere Demonstrationen gegen Wahlfälschungen. Das wurde allerdings schnell von der Polizei unterbunden. Die Spannungen zwischen der KPRF und der Zentralen Wahlkommission haben der Partei größere Glaubwürdigkeit verliehen, was dazu beitrug, dass sie ihr bestes Ergebnis seit 2011 einfahren konnte. In Umfragen trennten sie zuletzt nur noch sechs Prozentpunkte von Einiges Russland.
Zurzeit durchläuft die KPRF einen langsamen Generationswechsel. In ihren Reihen finden sich immer mehr jüngere Politiker, die sich zum Teil in echter Oppositionsarbeit versuchen, wie etwa Nikolai Bondarenko in Saratow, Oleg Michailow in der Republik Komi und Michail Lobanow in Moskau. Nach der vollständigen Zerschlagung des politischen Netzwerks von Alexei Nawalny ist die KPRF zudem für einige Aktivisten und Protestwähler zur besten noch verfügbaren Anlaufstelle geworden. Gerade auf lokaler und regionaler Ebene ist auch unter dem Dach der systemtreuen KPRF mancherorts eine gewisse unabhängige politische Arbeit möglich.
Trotzdem bleibt es im russischen politischen System derzeit ausgeschlossen, dass die KPRF sich zu einer veritablen Opposition entwickelt. Die Zugewinne an Unterstützung erlauben es der Partei zwar, ihre Loyalität dem Kreml gegenüber teurer zu verkaufen. Dennoch besteht die Existenzgrundlage der KPRF nach wie vor darin, dass die politische Führung sie für nützlich hält, um den Wahlen in Russland mehr Legitimität zu verleihen. Mit der Macht der Staatsmedien und der Zentralen Wahlkommission ließe sich der Höhenflug der Partei leicht unterbinden. Darüber ist sich auch die Parteiführung im Klaren: Als die KPRF nach der Dumawahl in Moskau für den 25. September zu Protesten gegen Wahlfälschungen aufrief, blieb ihr Vorsitzender Gennadi Sjuganow der Demonstration fern, um einen Termin aller Parteiführer mit Wladimir Putin nicht zu verpassen.
Schlecht versteckte Fälschungen
Die Dumawahl fand erstmalig an drei aufeinanderfolgenden Tagen statt, eine Praxis, die sich aus Sicht des Kremls schon im Vorjahr beim Votum zur Verfassungsänderung bewährt hatte. Vordergründig soll die zeitliche Ausdehnung helfen, die Corona-Infektionsgefahr zu verringern. Tatsächlich eröffnete der erste Wahltag am Freitag aber vor allem die Möglichkeit, Staatsbedienstete in großer Zahl in ihrer Arbeitszeit an die Wahlurnen zu chauffieren, was erst recht zu dichten Menschenansammlungen führte.
Während die Mobilisierung des Kernelektorats damit für den Kreml einfacher wurde, erschwerte die Ausdehnung der Wahl auf drei Tage (und vor allem: zwei Nächte) die Wahlbeobachtung dramatisch. Die Corona-Pandemie diente auch als Vorwand dafür, eine Wahlbeobachtung der OSZE auf 60 Personen zu limitieren, woraufhin die Organisation ganz auf eine Mission verzichtete. Die 2012 eingeführte, offen im Internet zugängliche Videoüberwachung der Wahlbüros bekamen nur noch wenige offizielle Wahlbeobachter zu Gesicht. Das begründete die Wahlkommission mit der Bedrohung durch äußere Feinde.
Obwohl die Wahlfälschungen damit am Wahltag weniger sichtbar waren, meldete die Bewegung zum Schutz der Wählerrechte »Golos« den Wahlbeobachtern über 4.500 Verstöße. Die Fälschungen zeigten sich auch deutlich in den statistischen Untersuchungen des russischen Physikers Sergei Schpilkin. Ausgehend von Anomalien bei Stimmverteilung und Wahlbeteiligung in den verschiedenen Wahlkreisen taxiert er den Betrug zugunsten Einiges Russland auf rund 14 Millionen Stimmen. Dieser Zuwachs lässt sich beispielsweise mit dem Einwerfen zusätzlicher Stimmzettel, dem Fälschen von Wahlprotokollen oder mit Druck auf Staatsdiener erklären. Ohne diese Stimmen hätte die Partei ein hypothetisches Ergebnis von 32,9% erzielt. Zudem gaben in einer unabhängigen Befragung nach der Wahl nur 38% der Wähler an, für Einiges Russland votiert zu haben. In einem Umfeld, in dem eine glaubwürdige Konkurrenz fehlt, offenbaren diese Werte den fehlenden Rückhalt des nominellen Wahlsiegers in der russischen Gesellschaft.
Wählerstimmen auf Knopfdruck
Zu den Neuerungen mit großer Tragweite gehört die Ausweitung der elektronischen Stimmabgabe (E-Voting). Russland experimentiert bereits seit 2019 bei Wahlen auf verschiedenen Ebenen mit dieser Option. In sieben Regionen, darunter auch das politisch wichtige Moskau, konnten die Wähler bei der Dumawahl ihre Stimme online abgeben. Der Kreml strebt an, das E‑Voting bald auf ganz Russland auszudehnen.
In der Hauptstadt zeigten sich die Implikationen dieser zweifelhaften Innovation besonders drastisch. Die Ergebnisse der digitalen Wahl wurden erst lange nach Auszählung der physischen Stimmzettel bekanntgegeben. Sie machten den zum Teil großen Vorsprung oppositioneller Kandidaten in acht von 15 Wahlkreisen zunichte und sicherten der Liste des kremltreuen Moskauer Bürgermeisters Sergei Sobjanin einen makellosen Sieg. Nach der Wahl gelang es IT-Experten allerdings, in der Datenbank der Wählerstimmen deutliche Hinweise auf nachträgliche Manipulationen zu finden.
Aber auch ohne das krude Umschreiben von Ergebnissen höhlt das E-Voting die Bedeutung von Wahlen in Russland weiter aus. Zudem erleichterte es die Mobilisierung des eigentlich trägen und unpolitischen Kernelektorats der Staatsbediensteten. Ihre Teilnahme an der Wahl lässt sich online einfacher gewährleisten und kontrollieren. Ferner kann sich beim E‑Voting im Gegensatz zur physischen Wahlkabine niemand sicher sein, dass die Privatsphäre bei der Stimmabgabe gewahrt wird, was Selbstzensur zur Folge hat.
Überdies ermöglichte das E-Voting dem Kreml, loyale Wählergruppen auch außerhalb der russischen Landesgrenzen zu erschließen. Das betrifft vor allem die Ukraine. Über 150.000 Bewohner der selbsternannten Volksrepubliken im Donbas, von denen viele in den letzten zwei Jahren einen russischen Pass erhalten hatten, nahmen an der Dumawahl teil. Die meisten von ihnen taten das online, während ein kleinerer Anteil mit Bussen und Zügen zur Abstimmung in die benachbarte Region Rostow gebracht wurde. Die Stimmabgabe der Donbas-Bewohner hat nicht nur die Wahlbeteiligung und das Ergebnis für Einiges Russland aufgebessert. Sie vertieft auch die politische Anbindung der Donbas-Bewohner an Moskau. Das lässt die Wiedereingliederung der Gebiete in die Ukraine, wie in den Minsker Vereinbarungen vorgesehen, in noch weitere Ferne rücken.
Ausblick
Obwohl Einiges Russland eine Verfassungsmehrheit erzielt hat, zeugte die Dumawahl von der geringen Unterstützung für die Partei in der Bevölkerung. Der Kreml hatte im Vorfeld der Wahl nicht versucht, über eine personelle oder strategische Erneuerung der Partei oder gar einen Umbau der gesamten politischen Landschaft das Legitimationsdefizit zu beheben. Vielmehr wurde erneut klar, dass die politische Führung bei steigendem Druck erst recht an den bestehenden Strukturen und Personen festhält, anstatt sich auf politische Experimente und Neuerungen einzulassen.
Trotz der Repressionen sucht der unzufriedene Teil der russischen Bevölkerung weiterhin nach Wegen, Einfluss auf die Politik zu nehmen. Dabei dürfte sich der Trend der letzten Jahre hin zu mehr lokalem und regionalem Aktivismus fortsetzen. Nach der Zerschlagung des Nawalny-Netzwerks versuchen regimekritische Russen mangels Alternativen verstärkt, auch die kremltreue Systemopposition als politische Plattform zu nutzen. Besonders der KPRF stehen deshalb innere Spannungen bevor, wenn die Neuzugänge die Partei in eine radikalere Richtung bewegen, als es der Führung recht ist.
Mit vielfältigen Einschränkungen der Wahlbeobachtung, mehrtägigem Wählen und dem E-Voting hat die russische Führung gezeigt, wie sie die Präsidentschaftswahlen 2024 gewinnen will. Längerfristig könnte es sich für den Kreml aber auch als Problem entpuppen, dass die Wahlen durch seine Politik der kompromisslosen Kontrolle immer weiter entwertet werden. Trotz der politischen Unwägbarkeiten erfüllen die Urnengänge für das heutige Regime wichtige Funktionen als Stresstest und Frühwarnsystem: Sie decken Missstände auf, bevor sie gefährlich werden können, ermöglichen es, politische Akteure innerhalb der »Machtvertikale« zu disziplinieren, und demonstrieren den russischen Eliten, dass das Land noch vom richtigen politischen Personal geführt wird. Keimen hier künftig Zweifel auf, droht zunehmende politische Instabilität in Russland, gerade mit Blick auf den derzeit nur aufgeschobenen Übergang von Putin zu seinem Nachfolger.
Dr. Janis Kluge ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien.
Leslie Schübel war Praktikantin in der Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien.
© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2021
Alle Rechte vorbehalten
Das Aktuell gibt die Auffassung des Autors und der Autorin wieder.
SWP-Aktuells werden intern einem Begutachtungsverfahren, einem Faktencheck und einem Lektorat unterzogen. Weitere Informationen zur Qualitätssicherung der SWP finden Sie auf der SWP-Website unter https://www. swp-berlin.org/ueber-uns/ qualitaetssicherung/
SWP
Stiftung Wissenschaft und Politik
Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit
Ludwigkirchplatz 3–4
10719 Berlin
Telefon +49 30 880 07-0
Fax +49 30 880 07-100
www.swp-berlin.org
swp@swp-berlin.org
ISSN (Print) 1611-6364
ISSN (Online) 2747-5018
doi: 10.18449/2021A67