Russland hat im Oktober 2020 eine bis 2035 geltende Entwicklungsstrategie für die Arktis beschlossen. Sie spiegelt die Hoffnungen, aber auch die Bedrohungsszenarien wider, die der Kreml mit der fortschreitenden Erwärmung der Arktis verbindet. Die reichlich vorhandenen Rohstoffe, allen voran Gas und Öl, sollen weiter erschlossen, der Bevölkerung bessere Lebensstandards geboten werden. Moskau hofft zudem, mit der Nördlichen Seeroute langfristig eine neue Arterie der Weltschifffahrt etablieren und kontrollieren zu können. Die zusehends eisfreie Arktis weckt in Russland aber auch Sorgen, dass russisches Territorium im Norden auf neuartige Weise verwundbar werden könnte. Diesen Sorgen begegnet es mit dem Wiederaufbau seiner Militärpräsenz. Schließlich will Moskau auch das ökologische Gleichgewicht der Arktis bewahren. Vieles spricht indes dafür, dass zwar die Energiewirtschaft und das Militär in der Region zum Zuge kommen, Gelder für den Umweltschutz und die Unterstützung der Bevölkerung aber weiterhin ausbleiben.
Am 26. Oktober setzte Wladimir Putin eine neue Entwicklungsstrategie für die Arktis in Kraft, die Russlands Politik in der Region bis 2035 prägen soll. Sie beruht auf den im März verabschiedeten Grundlagen der Arktispolitik und löst die 2013 beschlossene Arktis-Strategie 2020 ab.
Der Arktis wird in der russischen Politik seit Ende der 2000er Jahre zunehmend Aufmerksamkeit zuteil, wie sich in diversen Strategien, Programmen und Reden des Präsidenten spiegelt. Die Reaktivierung und Modernisierung militärischer Stützpunkte in der Arktis zeugen ebenfalls davon. Voraussichtlich im Mai 2021 wird Russland den Vorsitz des Arktis-Rats übernehmen, was die Region zusätzlich in den Fokus rückt.
Die Zeichen in der neuen Strategie stehen größtenteils auf Kontinuität. Zwischen den Zeilen werden aber auch Veränderungen sichtbar, die sich in der russischen Innen- und Außenpolitik seit 2013 ergeben haben. So verweist auch die neue Strategie auf mögliche internationale Kooperationen, allerdings erhalten die Bedrohungsszenarien mehr Raum. Zivilgesellschaftliche Organisationen, die 2013 noch als Partner in der Umsetzung der Strategie genannt wurden, kommen nun nicht mehr vor. Schließlich hat sich auch die Einschätzung des Klimawandels verändert.
Arktische Problemzonen
Besondere Priorität erhält in der neuen Strategie die Verbesserung der Lebensbedingungen für die Bewohner der Arktis. Der Bevölkerungsschwund, unter dem die gesamte arktische Zone seit dem Ende der Sowjetunion leidet, soll bis 2030 gestoppt werden. Jahr für Jahr verlassen netto rund 18 000 der 2,4 Millionen Einwohner die russische Arktis. Es lohnt sich finanziell kaum noch, dauerhaft in der arktischen Dunkelheit und Kälte sesshaft zu werden. Zwar liegen die durchschnittlichen Einkommen über dem russischen Mittel, allerdings sind auch die Lebenshaltungskosten deutlich höher.
Vom rauen Klima abgesehen ist das Fehlen oder Zerfallen der Infrastruktur im Norden das größte Problem für Bevölkerung und Wirtschaft. Das durch die Erwärmung bedingte Auftauen der Permafrostböden wirkt sich verheerend aus. 70 Prozent der Infrastruktur sollen in den nächsten Jahren betroffen sein. Gleichzeitig hängen viele auf regionaler Ebene konzipierte Projekte für den Neubau von Straßen, Schienen und Häfen in der Luft, weil Finanzmittel aus dem Staatshaushalt ausbleiben. Dabei ist die arktische Zone aus Moskauer Sicht nur eine von vielen problematischen und strukturschwachen Gebieten der Russischen Föderation. Zwar wurde bereits im Jahr 2014 ein staatliches Programm für die sozio-ökonomische Entwicklung der Arktis aufgelegt. Für die Jahre 2021–2023 sind im föderalen Haushalt dafür allerdings nur 17,6 Milliarden Rubel (190 Millionen Euro) vorgesehen. Zum Vergleich: Das Programm zur Entwicklung der Krim soll über 300 Milliarden Rubel (3,2 Milliarden Euro) kosten.
Weil die hehren Ziele vergangener Arktis-Strategien nicht mit entsprechenden Haushaltsmitteln unterlegt wurden, gibt heute allein die mächtige Energieindustrie in Russlands Norden den Takt vor. Über 90% der russischen Erdgas- und 17% der Ölförderung entfallen auf die arktische Zone. Neue Großprojekte wie die Flüssiggas-Anlagen des Konzerns Novatek auf den Yamal- und Gydan-Halbinseln sind der zentrale Motor, der den lokalen Ausbau von Infrastruktur antreibt. Das gilt nicht nur für den Bau von Schienen und Straßen im westlichen Teil der russischen Arktis, der mit privatem Kapital realisiert werden soll – etwa als Konzession oder öffentlich-private Partnerschaft –, sondern auch für die Häfen der Nördlichen Seeroute (NSR) und ihre Anbindung an die russischen Industriegebiete. 2018 hatte Staatspräsident Putin in seinen nationalen Zielen festgelegt, dass das jährliche Transportvolumen auf der NSR bis 2024 auf 80 Millionen Tonnen vervierfacht werden soll. Derzeit wird in Moskau über dieses Ziel gestritten, das inzwischen als unrealistisch gilt. Der von Rosatom auf 11,7 Milliarden US-Dollar geschätzte Investitionsbedarf für die NSR soll zu einem Drittel vom russischen Staat getragen werden, der Rest von Rosatom, Rosneft, Novatek, Gazprom Neft, Gazprom, Nornickel und Banken sowie künftigen Nutzern der NSR.
Weitere Entwicklungsimpulse durch kommerzielle Projekte verspricht sich Moskau von der Offshore-Förderung von Öl und Gas in der Arktis. Bisherige Vorstöße sind größtenteils infolge der westlichen Sanktionen zum Erliegen gekommen. Der umworbene Ersatz-Partner China kann nur begrenzt die Technologie (u. a. zur seismischen Erkundung von Ölfeldern in der Barentssee) und das notwendige Kapital zur Verfügung stellen. Zudem ist fraglich, ob der Ölpreis in Zukunft die Erschließung dieser schwer zugänglichen Reservoirs rechtfertigt. Bleiben die Preise unter 80 US-Dollar pro Fass (derzeit rund 40 US-Dollar), ist die Nutzung arktischer Offshore-Felder nicht wirtschaftlich. Auch die geplante Erschließung neuer Kohle-Vorkommen geht nur schleppend voran. Das Zeitfenster für die Förderung der schwer erreichbaren fossilen Ressourcen dürfte sich langsam schließen, wenn die Nachfrage aufgrund der internationalen Klimaschutz-Bemühungen nachlässt.
Neue Bedrohungsszenarien
Der Schutz der langen arktischen Küste Russlands wurde bislang auch durch die extremen Klimabedingungen gewährleistet, die als natürliche Barriere wirkten. Die Auflösung des »ewigen Eises« bereitet Sorgen. In der neuen Strategie ist von einer Zunahme des Konfliktpotentials die Rede, die einen dauerhaften Ausbau der russischen militärischen Kräfte in der Arktis erfordere.
Russland erhält gewissermaßen neue Außengrenzen, die es vor einem potentiellen Aggressor zu schützen gilt. Kriegsschiffe könnten theoretisch einen Angriff aus dem Osten starten, durch die Beringstraße, oder aus dem Westen über Stützpunkte auf Grönland und Norwegen. Der Rückgang des Eises öffnet so eine neue Angriffsfront. Außerdem sind die Terminals zur Förderung von Öl und Gas aus russischer Sicht per se zu verteidigende Ziele. Viele der seit 1990 geschlossenen Stützpunkte aus Sowjetzeiten wurden daher reaktiviert und neue Basen errichtet – darunter 10 Stationen zur Seenotrettung, 16 Tiefwasserhäfen, 10 neue Flughäfen (von insgesamt 14) und 10 Radarstationen zur Luftverteidigung entlang der NSR.
Das Militär dient in der russischen Arktis häufig als Ersatz für mangelnde oder zu teure zivile Fähigkeiten, beispielsweise zur Seenotrettung. Die zunehmende militärische Präsenz muss also kein Anzeichen für ein expansives Vorgehen sein. Ungeachtet dessen ist ein signifikanter Anstieg militärischer Aktivitäten zu verzeichnen, darunter simulierte Luftangriffe auf Radaranlagen im norwegischen Vardø und der Einsatz von GPS-Störsendern gegen Finnland, außerdem verstärkte U-Boot-Patrouillen – zuletzt passierten im Oktober 2019 zehn U-Boote das Europäische Nordmeer auf ihrem Weg in den Nordatlantik, der größte Einsatz seit dem Kalten Krieg. Ein russisches Kampfflugzeug verfolgte im August 2020 während der Nato-Übung »Allied Sky« einen US-Bomber bis in den dänischen Luftraum.
Russlands Position als Seemacht soll gemäß seiner Marine-Doktrin gestärkt, der Schwerpunkt auf Arktis und Atlantik gelegt werden. Die NSR soll den Zugang zu Atlantik und Pazifik gewährleisten. Daher genießt die Nordflotte auf der Kola-Halbinsel absolute Priorität; sie soll im Konfliktfall außerdem die mit ballistischen Raketen bestückten Unterseeboote und damit zwei Drittel der maritimen nuklearen Zweitschlagsfähigkeit verteidigen. Das reaktivierte Bastionskonzept aus Sowjetzeiten sieht dafür einen Schutzraum vor, der sich über die Barentssee bis nach Island erstreckt. Der eigenen Flotte soll im Konfliktfall der Zugang zum Atlantik gesichert, anderen aber der Zugang zur russischen Arktis verwehrt werden. ZumSchutz von Bastion und Flotte wurden schon 2007 die Patrouillenflüge entlang der NSR wieder aufgenommen. 2019 wurden neue Luftabwehrraketen bei Nowaja Semlja in der Barentssee stationiert sowie – auch als Demonstration russischer Stärke – eine hyperschallschnelle Rakete getestet. Im Verbund mit mobilen S‑350-Flugabwehrsystemen sollen im Rahmen einer Abhaltestrategie (A2/AD) die Stützpunkte auf Franz-Josef-Land, Sewernaja Semlja, den Neusibirischen Inseln, Nowaja Semlja und Wrangelinsel geschützt werden. Die Reichweite des Gesamtsystems deckt alle Inseln und Archipele entlang der Nordroute ab.
Russland zeigt ein defensives Verständnis der Arktis, ist im Konfliktfall aber auf eine rasche Eskalation vorbereitet, die zur Verteidigung der Bastion offensive Operationen – darunter die Eroberung von Teilen Nordskandinaviens – umfassen kann.
Aber nicht nur an den Außengrenzen, auch bei der inneren Sicherheit sieht Moskau neue Bedrohungen aus dem In- und Ausland. Darunter leiden auch jene in der russischen Zivilgesellschaft, die sich für Umweltschutz in der Arktis oder die Rechte der indigenen Bevölkerung einsetzen. Die Verwirklichung wirtschaftlicher Großprojekte ruft immer wieder Proteste der lokalen Bevölkerung hervor. Manche zivilgesellschaftliche Organisation wurde vom russischen Staat kooptiert, andere sind aber auch Repressionen ausgesetzt. Erhalten sie Förderung aus dem Ausland, werden die Organisationen als »ausländische Agenten« diffamiert und in der Folge strengen Kontrollen und Einschränkungen unterworfen.
Halbherziger Umweltschutz
In der neuen Arktis-Strategie hat die russische Führung erneut ihren Willen bekundet, die arktischen Ökosysteme zu schützen. Das ist dringend nötig: Die oftmals marode Schwerindustrie im Norden, Folgen des Klimawandels wie das Auftauen des Permafrosts und lokales Staatsversagen sind eine toxische Mischung für die empfindlichen Ökosysteme der Arktis. Das wurde zuletzt Anfang Juni deutlich, als über 20 000 Tonnen Diesel in den Ambarnaja-Fluss gelangten, nachdem der Permafrostboden unter einem großen Öltank nachgegeben hatte. 2019 gelang es auch nicht, die in der russischen Arktis wütenden Waldbrände einzudämmen, vielmehr breiteten sie sich 2020 erneut in Sibirien aus.
Die Arktis-Strategie sieht nun vor, dass empfindliche Infrastruktur für den Klimawandel fit gemacht wird. Außerdem ist geplant, neue Umweltschutzgebiete auszuweisen und die Abfallwirtschaft staatlich zu unterstützen. Neu ist, dass die russische Arktis regelmäßig auf Verschmutzungen geprüft werden soll, für die die Staaten Nordamerikas, Europas oder Asiens verantwortlich gemacht werden könnten.
Während weltweit in vielen Staaten die Klimaschutzbemühungen intensiviert werden, vermeidet die russische Führung zusehends, die Ursachen des Klimawandels zu benennen. Die 2013 beschlossene Entwicklungsstrategie für die Arktis enthielt noch einen Verweis auf den menschengemachten Klimawandel. In der neuen Strategie werden die Gründe für die Erderwärmung nicht mehr erwähnt.
Russlands Klimapolitik bleibt damit zwiespältig. Moskau nutzt das Thema im Rahmen der Vereinten Nationen, um sich von Washington abzugrenzen und als verantwortungsvoller Akteur darzustellen. Zwar wird auch in Russland über ein Gesetz für die Regulierung von CO2-Emissionen diskutiert. Man hat sich selbst aber Emissionsziele gesetzt, die sogar noch über den aktuellen Emissionen liegen. Kein Thema ist derweil die Abkehr von der Förderung von Öl und Gas. Im Gegenteil: Moskau will die Förderung und den Export fossiler Brennstoffe weiter steigern. Das gilt auch für die besonders klimaschädliche Kohle, deren Produktion bis 2035 auf bis zu 668 Millionen Tonnen pro Jahr anwachsen könnte.
Kooperation in der Arktis
Auch wenn die Offenheit für internationale Kooperation in der neuen Arktis-Strategie zum Teil der Wahrnehmung von Bedrohungen gewichen ist, so ist sie doch nicht vollends verschwunden. Die teils gegensätzlichen Interessen – etwa die Betonung nationaler Souveränität vs. Internationalisierung der NSR – kommen in einer ambivalenten Haltung zum Ausdruck, die konfrontative und kooperationsorientierte Elemente enthält, also jeweils nach Lage der Dinge politische Konkurrenz oder praktische Zusammenarbeit betont.
Die neue Arktis-Strategie enthält einen gesonderten Abschnitt zur internationalen Zusammenarbeit, in dem ausländische Investitionen eine zentrale Rolle spielen. Dabei ist Moskau primär an Technologien und Investitionen im Energiesektor interessiert, die unter die westlichen Sanktionen fallen. Westliche Firmen könnten dagegen beim Aufbau der Infrastruktur und auch bei der Bewältigung von Umweltproblemen kooperieren.
Weiterhin erfolgreich ist die aus Kreml-Sicht weniger bedenkliche deutsch-russische naturwissenschaftliche Kooperation. Die neue Arktis-Strategie sieht vor, einen Gesamtplan für die gemeinsame internationale Erforschung der Ökosysteme und der Effekte des Klimawandels zu entwickeln. Ein Beispiel ist die internationale MOSAiC-Expedition (Multidisciplinary drifting Observatory for the Study of Arctic Climate), die ohne Russlands Erfahrung und Unterstützung nicht möglich gewesen wäre.
Dr. Janis Kluge ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien.
Dr. Michael Paul ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik.
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doi: 10.18449/2020A89