Mit dem »Astana-Format« haben Russland, Iran und die Türkei nicht nur eine Plattform für Verhandlungen über Syriens Zukunft geschaffen. Das Gesprächsforum hat auch dazu gedient, Streitthemen unter den drei »Garantiemächten« zu kanalisieren. Mit einem zukünftigen Ende der Kampfhandlungen in Syrien könnte sich jedoch die Funktion dieses Formats verändern, zumal dann Fragen des politischen Übergangs in einem Verfassungskomitee unter VN-Vermittlung behandelt werden sollen. Deutschland sollte daher mit EU-Partnern Politikansätze formulieren, die einen Übergang des Astana-Prozesses in andere Strukturen einleiten können. Die Entwicklung solcher Ansätze ist umso dringlicher, als der Handlungsdruck für Europa nach dem Truppenabzug aus Syrien, den US-Präsident Trump am 6. Oktober angekündigt hat, und dem folgenden Einmarsch der Türkei im Nordosten des Landes gestiegen ist.
Am 13. September 2019, drei Tage vor dem 5. Gipfeltreffen im sogenannten »Astana-Format« zwischen Russland, dem Iran und der Türkei, hat der russische Außenminister Lawrow den Syrien-Krieg für fast beendet erklärt. Nur die Regionen um Idlib im Nordwesten und östlich des Euphrat seien noch nicht unter Kontrolle der syrischen Regierung. Lawrow regte an, zeitnah Gespräche über die politische Zukunft Syriens anzuberaumen. Innerhalb der Astana-Troika sind zuletzt jedoch in verstärktem Maße divergierende Interessen zutage getreten.
Nach wie vor unterstützt Moskau die Assad-Regierung bei dem Bemühen, das syrische Territorium vollständig zurückzuerobern, wie die syrisch-russische Offensive auf Idlib im August verdeutlicht hat. Die Rücksicht auf türkische Sicherheitsinteressen scheint dabei zu schwinden: Syrische »Tiger Forces« haben – im Vorfeld des Treffens in Ankara am 16. September – mit russischer Luftunterstützung Offensiven auf Gegenden in unmittelbarer Nähe zu türkischen Beobachtungsposten gestartet. Russland beklagt, dass die türkische Regierung ihrer Aufgabe, Rebellengruppen in Idlib zu entwaffnen, nicht nachgekommen sei. Diese Verpflichtung ergebe sich aus dem Abkommen zur »Stabilisierung« von Idlib, das im September 2018 im russischen Sotschi ausgehandelt worden ist.
Der Türkei wiederum ist in erster Linie daran gelegen, die Etablierung einer autonomen Kurdenregion in Nordsyrien zu verhindern. Der türkische Einmarsch in Nordostsyrien am 9. Oktober, der diesem Ziel dient, ist international, auch von Russland und Iran, kritisiert worden.
Russland dominiert das Astana‑Format
Mit seiner Militärintervention im September 2015 wurde Russland zum einflussreichsten externen Akteur in Syrien. Moskaus Eingreifen hat den Frontverlauf und damit auch den territorialen Sachstand vor dem Beginn neuer Verhandlungen mit Iran und der Türkei zugunsten Assads entscheidend verändert. Im Dezember 2016 fanden in Moskau die ersten trilateralen Syrien-Gespräche statt, aus denen sich 2017 der »Astana-Prozess« entwickelte. Die Zusammensetzung des Formats ergab sich aus der Bedeutung der drei Akteure, die entweder mittelbar durch Finanzierung und Bewaffnung von Milizen (Iran, Türkei) oder unmittelbar durch den direkten Einsatz von Streitkräften (Russland) am Syrien-Konflikt beteiligt waren. Mit dem Astana-Format schuf Russland proaktiv einen parallelen Prozess zu den stockenden Genfer Friedensgesprächen um die seit 2015 bestehende International Syria Support Group (ISSG). Der Verhandlungsrahmen hatte zunächst einen militärischen Schwerpunkt (Einigung auf Gefangenenaustausch, Waffenruhen, »Deeskalationszonen«). Im Laufe der Jahre 2017–18 debattierte die Troika aber zunehmend auch über politische Fragen wie Verfassungsänderungen, Flüchtlingsrückkehr, und über den Wiederaufbau. So sei die Idee zur Einberufung des innersyrischen Verfassungskomitees aus dem »Kongress der Völker Syriens« hervorgegangen, der im Januar 2018 wiederum auf Initiative des Astana-Formats veranstaltet worden sei, wie Lawrow im Oktober 2019 betonte.
Dass Moskau die Aushandlung möglicher Reformen des syrischen Verfassungssystems nach angeblich eigener Vorarbeit an die VN »zurückverwiesen« hat, bietet Russland die Chance zu zeigen, dass es jenseits der Rolle einer militärischen Schutzmacht einen Beitrag zu konstruktiven politischen Lösungen leistet.
Für die Türkei bedeutete die Beteiligung am Astana-Format eine Kehrtwende in ihrer Syrien-Politik: Ende 2015 hatte nach dem Abschuss eines russischen Kampfflugzeugs durch Einheiten der türkischen Luftwaffe sogar noch die Gefahr einer direkten militärischen Auseinandersetzung zwischen Russland und der Türkei bestanden. Erst Ankaras Annäherung an Russland im Sommer 2016 verschaffte der Regierung Erdoğan ein Mitspracherecht bei den Verhandlungen über Syrien. Zugleich zementierte die Akzeptanz des Astana-Formats durch die Türkei die diesem Mechanismus inhärente Machtasymmetrie zugunsten Russlands.
Die Einbeziehung der Türkei bedeutete damit Rückenwind für russische Lösungsansätze, denn mit Iran hatte sich Moskau bereits vor der Gründung des Astana-Formats über das Vorgehen in Syrien abgestimmt, etwa über die »4+1«-Plattform zum Informationsaustausch zwischen Russland, Iran, Irak, Syrien und der Hisbollah. Russische Luftangriffe unterstützten die Aktivitäten Irans und seiner verbündeten Milizen am Boden und im August 2016 starteten sogar russische Kampfflugzeuge Einsätze in Syrien von einer iranischen Luftwaffenbasis.
Doch es gibt Divergenzen zwischen Russland, Iran und der Türkei, die eine dauerhafte Kooperation nach Beendigung der Kampfhandlungen unter schwierige Vorzeichen stellen.
Divergenzen innerhalb der Astana-Troika
Die unterschiedlichen Vorstellungen von der syrischen Nachkriegsordnung lassen sich vor allem an drei Punkten festmachen.
Das erste Spannungsfeld, die Frage einer Kurdenautonomie im Norden Syrien, ist mit dem türkischen Einmarsch in Nordostsyrien zuletzt in den Vordergrund gerückt.
Russland hat die syrische Kurdenpartei PYD in der Vergangenheit zu politischen Gesprächen eingeladen und listet weder diese noch ihren militärischen Arm, die »Volksschutzeinheiten« (YPG), als Terrorgruppen – anders als die Türkei, die beide als verlängerten Arm der PKK betrachtet. Auch hat Russland während des Syrien-Konflikts seine Unterstützung für die Etablierung einer kurdischen Autonomieregion in Nordsyrien in Aussicht gestellt. Es konnte deshalb nach dem türkischen Einmarsch die Rolle eines Vermittlers zwischen der Assad-Regierung, der Türkei und kurdischen Gruppierungen einnehmen.
Ein zweites Spannungsfeld ergibt sich aus der partiellen Konkurrenz wirtschaftlicher Interessen. Die Äußerungen von Vertretern der russischen Regierung und staatlicher Unternehmen lassen darauf schließen, dass Moskau damit rechnet, seinen militärischen und politischen Einfluss in Syrien nach einem Ende der Kampfhandlungen auch in wirtschaftliche Vorteile (vor allem im Rohstoffsektor) übersetzen zu können. Russland hat bereits sein Interesse am Wiederaufbau der zerstörten syrischen Infrastruktur signalisiert. Zu Beginn des Jahres drängte Präsident Putin auf eine europäische Beteiligung an entsprechenden Projekten. Ausländische Direktinvestitionen in die syrische Infrastruktur kämen auch russischen Investitionsplänen, etwa im Rohstoffsektor, zugute. Für Kooperationen im Bereich des Kommunikationssektors, in der Landwirtschaft und im Immobilienmarkt Syriens haben sich schon iranische Akteure in Stellung gebracht. Einen Einstieg Irans in den syrischen Rohstoffsektor könnte Russland durch seinen Einfluss in Damaskus aber vermutlich unterbinden. Auf türkischer Seite spekulieren vor allem Bauunternehmen auf lukrative Beteiligungen am Wiederaufbau Syriens, vor allem im Norden des Landes. Diese Aspirationen dürften die russisch-türkische Kooperation hingegen eher fördern als erschweren.
Gravierender noch als die potentielle Rivalität in Wirtschaftsangelegenheiten sind insbesondere für Iran die sich abzeichnenden Spannungen mit Moskau in einer dritten Frage, nämlich der Integration bewaffneter Milizen in staatliche Institutionen im Nachkriegssyrien. Moskau lehnt eine Eingliederung paramilitärischer Einheiten in syrische Staatsstrukturen ab. Damit würde aber vor allem Iran an Einfluss in Damaskus verlieren, das den Konfliktverlauf durch die Kontrolle über Milizen am Boden entscheidend mitbestimmt hat. Die russisch-iranische Interessenkongruenz wird sich nach einem Ende der Kampfhandlungen also vermutlich lockern, auch weil Russland weiterhin gute Beziehungen etwa zu Saudi-Arabien, Israel oder den Vereinigten Arabischen Emiraten aufrechterhalten und nicht als pro-schiitischer Akteur wahrgenommen werden möchte. Das ist auch der Grund, warum Russland, das de facto die Hoheit über den Luftraum westlich des Euphrats ausübt, israelische Luftangriffe auf iranische Ziele in Südsyrien zuließ.
Trotz Divergenzen: Der Mehrwert der Astana-Kooperation überwiegt
Durch das Astana-Format war es bisher möglich, die teils unterschiedlichen Interessen der drei beteiligten Staaten zu überbrücken und zu kanalisieren. Ohne Russlands Zustimmung zum Beispiel wäre die türkische Militärintervention »Operation Olive Branch« im nordsyrischen Afrin im Januar 2018, die die Entstehung einer kurdischen autonomen Region verhindern sollte, nicht möglich gewesen. Zwar ging dieser Aktion eine bilaterale Koordination voraus. Sie sollte aber auch im Kontext einer Interessenabstimmung im Astana-Format und des wenige Tage später einberufenen »Kongresses der Völker Syriens« in Sotschi gesehen werden.
Auch nach der Ankündigung eines türkischen Einmarschs in Nordostsyrien am 9. Oktober hielt sich Russland mit öffentlicher Kritik zurück. Kreml-Sprecher Dmitri Peskow äußerte lediglich die Hoffnung, dass sich die Türkei dem Ziel der territorialen Unversehrtheit Syriens verpflichtet sehe. Es ist wahrscheinlich, dass Moskau über die türkischen Invasionspläne informiert war und sich ihnen nicht entgegengestellt hat, auch deshalb nicht, weil die Operation mit dem am 6. Oktober angekündigten Abzug der US-Truppen verbunden war. Dieser Abzug ist im gemeinsamen Interesse Russlands, Irans und der Türkei. Der Kreml verfolgt das Ziel, dass die Kurden die Kontrolle über die ölreichen Gebiete östlich des Euphrats an die Zentralregierung zurückgeben und die USA sich von dort zurückziehen. Dieses Ziel teilt Russland mit Iran, während die Türkei die Einrichtung eines »Sicherheitskorridors« anvisiert hatte. Nach dem Treffen zwischen Erdoğan und Putin in Sotschi am 22. Oktober haben sich nun allerdings Russland und die Türkei auf gemeinsame Patrouillen geeinigt. Im Zusammenhang mit dem primären Interesse Russlands an einem Rückzug der USA ist auch Moskaus Veto am 10. Oktober im VN-Sicherheitsrat zu sehen. Dort lag eine Resolution vor, mit der der türkische Einmarsch im Nordosten Syriens verurteilt werden sollte. Der außenpolitische Berater Putins Juri Uschakow äußerte sogar Verständnis für türkische Sicherheitsinteressen.
Alle drei Garantiemächte haben nach dem letzten Treffen der Astana-Gruppe in Ankara am 16. September zudem die Einberufung eines syrischen Verfassungskomitees unter VN-Vermittlung begrüßt, und ihrem Statement hinzugefügt, dass Versuche der Einmischung in den innersyrischen Dialog inakzeptabel seien – eine Bemerkung, die an westliche Regierungen adressiert war. Trotz der bestehenden Divergenzen innerhalb der Astana-Troika überwiegt also bisher offensichtlich der Mehrwert der trilateralen Kooperation, mittels derer es möglich war, gemeinsamen Positionen stärker Geltung zu verschaffen und den Interessen dieser drei Mächte in Syrien mit Blick auf die stockenden Genfer Friedensbemühungen zu weit größerer Sichtbarkeit und Durchschlagskraft zu verhelfen.
Daneben haben sich insbesondere die russisch-türkischen Beziehungen inzwischen auch in anderen Politikfeldern (Energie, Hochtechnologietransfer, Rüstungszusammenarbeit, Währungskooperation) intensiviert, was die Lesart, bei der russisch-türkischen Abstimmung im Astana-Prozess handele es sich um eine fragile Zweckallianz, zusätzlich entkräftet.
Jenseits von Astana: Ansatzpunkte für Deutschland und Europa
Als Schutzmacht Assads hat Russland seinen Einfluss in allen Gesprächsformaten, die der Beilegung des Konflikts in Syrien dienen, festigen können, so auch im Astana-Format. Durch den Rückzug der USA aus Syrien wird Russlands Rolle in der Region nun zusätzlich gestärkt.
Ein Bruch des Astana-Formats ist derzeit unwahrscheinlich, auch wenn es innerhalb der Troika durchaus Divergenzen gibt. Für Europa besteht vor diesem Hintergrund Handlungsbedarf, da sich die vorhandenen sicherheitspolitischen Risiken und humanitären Notlagen, die sich aus Flucht und Vertreibung ergeben, nach dem türkischen Einmarsch noch einmal verschärft haben. Europa muss deshalb zunächst dringend daran gelegen sein, eine Beruhigung der Lage in Nordsyrien zu erreichen. Mittelfristig könnte Deutschland auf einen Übergang des Astana-Formats in andere Strukturen und auf einen Friedensprozess in Syrien auf der Grundlage der VN-Sicherheitsratsresolution 2254 hinarbeiten. Deutschland hat sich bereits im Oktober 2018 in Istanbul in einem neuen Vierer-Format mit Frankreich, Russland und der Türkei zu Gesprächen über Idlib und den gesamtsyrischen Friedensprozess getroffen. In einer solchen Zusammenführung aus Mitgliedern des »Astana-Formats« und der »Small Group« (bestehend aus Deutschland, USA, Großbritannien, Frankreich, Ägypten, Jordanien und Saudi-Arabien) könnten Grundbedingungen für den Wiederaufbau und ungeklärte Territorialfragen verhandelt werden.
Dr. Moritz Pieper ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien.
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doi: 10.18449/2019A57