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Russland und der Astana-Prozess zur Beilegung des Syrien-Konflikts

Auch nach einem Ende der Kämpfe in Syrien dürften Russland, die Türkei und Iran auf den Mehrwert der trilateralen Kooperation nicht verzichten wollen

SWP-Aktuell 2019/A 57, 30.10.2019, 4 Seiten

doi:10.18449/2019A57

Forschungsgebiete

Mit dem »Astana-Format« haben Russland, Iran und die Türkei nicht nur eine Platt­form für Verhandlungen über Syriens Zukunft geschaffen. Das Gesprächsforum hat auch dazu gedient, Streitthemen unter den drei »Garantiemächten« zu kanalisieren. Mit einem zukünftigen Ende der Kampfhandlungen in Syrien könnte sich jedoch die Funk­tion dieses Formats verändern, zumal dann Fragen des politischen Übergangs in einem Verfassungskomitee unter VN-Vermittlung behandelt werden sollen. Deutschland sollte daher mit EU-Partnern Politikansätze formulieren, die einen Übergang des Astana-Prozesses in andere Strukturen einleiten können. Die Entwicklung solcher Ansätze ist umso dringlicher, als der Handlungsdruck für Europa nach dem Truppen­abzug aus Syrien, den US-Präsident Trump am 6. Oktober angekündigt hat, und dem folgenden Einmarsch der Türkei im Nordosten des Landes gestiegen ist.

Am 13. September 2019, drei Tage vor dem 5. Gipfeltreffen im sogenannten »Astana-Format« zwischen Russland, dem Iran und der Tür­kei, hat der russische Außenminis­ter Lawrow den Syrien-Krieg für fast beendet erklärt. Nur die Regionen um Idlib im Nord­westen und östlich des Euphrat seien noch nicht unter Kontrolle der syrischen Regie­rung. Lawrow regte an, zeitnah Gespräche über die politische Zukunft Syriens an­zuberaumen. Innerhalb der Astana-Troika sind zuletzt jedoch in verstärktem Maße divergierende Interessen zutage getreten.

Nach wie vor unterstützt Moskau die Assad-Regierung bei dem Bemühen, das syrische Territorium vollständig zurück­zuerobern, wie die syrisch-russische Offen­sive auf Idlib im August verdeutlicht hat. Die Rücksicht auf türkische Sicherheits­interessen scheint dabei zu schwinden: Syrische »Tiger Forces« haben – im Vorfeld des Treffens in Ankara am 16. September – mit russischer Luftunterstützung Offensiven auf Gegenden in unmittelbarer Nähe zu türkischen Beobachtungsposten gestartet. Russland beklagt, dass die türkische Regie­rung ihrer Aufgabe, Rebellengruppen in Idlib zu entwaffnen, nicht nachgekommen sei. Diese Verpflichtung ergebe sich aus dem Abkommen zur »Stabilisierung« von Idlib, das im September 2018 im russischen Sotschi ausgehandelt worden ist.

Der Türkei wiederum ist in erster Linie daran gelegen, die Etablierung einer auto­nomen Kurdenregion in Nordsyrien zu ver­hindern. Der türkische Einmarsch in Nord­ostsyrien am 9. Oktober, der diesem Ziel dient, ist international, auch von Russland und Iran, kritisiert worden.

Russland dominiert das Astana‑Format

Mit seiner Militärintervention im September 2015 wurde Russland zum einflussreichsten externen Akteur in Syrien. Mos­kaus Eingreifen hat den Frontverlauf und damit auch den territorialen Sachstand vor dem Beginn neuer Verhandlungen mit Iran und der Türkei zugunsten Assads entscheidend verändert. Im Dezember 2016 fanden in Moskau die ersten trilateralen Syrien-Gespräche statt, aus denen sich 2017 der »Astana-Prozess« entwickelte. Die Zusammensetzung des Formats ergab sich aus der Bedeutung der drei Akteure, die entweder mittelbar durch Finanzierung und Bewaff­nung von Milizen (Iran, Türkei) oder un­mittelbar durch den direkten Einsatz von Streitkräften (Russland) am Syrien-Konflikt beteiligt waren. Mit dem Astana-Format schuf Russland proaktiv einen parallelen Prozess zu den stockenden Genfer Friedensgesprächen um die seit 2015 bestehende International Syria Support Group (ISSG). Der Verhandlungsrahmen hatte zunächst einen militärischen Schwerpunkt (Einigung auf Gefangenenaustausch, Waffenruhen, »Deeskalationszonen«). Im Laufe der Jahre 2017–18 debattierte die Troika aber zuneh­mend auch über politische Fragen wie Ver­fassungsänderungen, Flüchtlingsrückkehr, und über den Wiederaufbau. So sei die Idee zur Einberufung des innersyrischen Verfas­sungskomitees aus dem »Kongress der Völ­ker Syriens« hervorgegangen, der im Januar 2018 wiederum auf Initiative des Astana-Formats veranstaltet worden sei, wie Lawrow im Oktober 2019 betonte.

Dass Moskau die Aushandlung möglicher Reformen des syrischen Verfassungssystems nach angeblich eigener Vorarbeit an die VN »zurückverwiesen« hat, bietet Russland die Chance zu zeigen, dass es jenseits der Rolle einer militärischen Schutzmacht einen Bei­trag zu konstruktiven politischen Lösungen leistet.

Für die Türkei bedeutete die Beteiligung am Astana-Format eine Kehrtwende in ihrer Syrien-Politik: Ende 2015 hatte nach dem Abschuss eines russischen Kampfflugzeugs durch Einheiten der türkischen Luftwaffe sogar noch die Gefahr einer direkten militä­rischen Aus­einandersetzung zwischen Russ­land und der Türkei bestanden. Erst Ankaras Annäherung an Russland im Sommer 2016 verschaffte der Regierung Erdoğan ein Mit­spracherecht bei den Verhandlungen über Syrien. Zugleich zementierte die Akzeptanz des Astana-Formats durch die Türkei die diesem Mechanismus inhärente Machtasym­metrie zugunsten Russlands.

Die Einbeziehung der Türkei bedeutete da­mit Rückenwind für russische Lösungsansätze, denn mit Iran hatte sich Moskau bereits vor der Gründung des Astana-For­mats über das Vorgehen in Syrien ab­gestimmt, etwa über die »4+1«-Plattform zum Informationsaustausch zwischen Russ­land, Iran, Irak, Syrien und der Hisbollah. Russische Luftangriffe unterstützten die Aktivitäten Irans und seiner verbündeten Milizen am Boden und im August 2016 starteten sogar russische Kampfflugzeuge Einsätze in Syrien von einer iranischen Luftwaffenbasis.

Doch es gibt Divergenzen zwischen Russ­land, Iran und der Türkei, die eine dauer­hafte Kooperation nach Beendigung der Kampfhandlungen unter schwierige Vor­zeichen stellen.

Divergenzen innerhalb der Astana-Troika

Die unterschiedlichen Vorstellungen von der syrischen Nach­kriegsordnung lassen sich vor allem an drei Punkten festmachen.

Das erste Spannungsfeld, die Frage einer Kurdenautonomie im Norden Syrien, ist mit dem türkischen Einmarsch in Nordostsyrien zuletzt in den Vordergrund gerückt.

Russland hat die syrische Kurdenpartei PYD in der Vergangenheit zu politi­schen Gesprächen eingeladen und listet weder diese noch ihren militärischen Arm, die »Volksschutzeinheiten« (YPG), als Terror­gruppen – anders als die Türkei, die beide als verlängerten Arm der PKK betrachtet. Auch hat Russland während des Syrien-Konflikts seine Unterstützung für die Etablie­rung einer kurdischen Autonomieregion in Nordsyrien in Aussicht gestellt. Es konnte des­halb nach dem türkischen Einmarsch die Rolle eines Vermittlers zwischen der Assad-Regierung, der Türkei und kurdischen Gruppierungen einnehmen.

Ein zweites Spannungsfeld ergibt sich aus der partiellen Konkurrenz wirtschaft­licher Interessen. Die Äußerungen von Ver­tretern der russischen Regierung und staat­licher Unternehmen lassen darauf schlie­ßen, dass Moskau damit rechnet, seinen militärischen und politischen Einfluss in Syrien nach einem Ende der Kampfhandlungen auch in wirtschaftliche Vorteile (vor allem im Rohstoffsektor) übersetzen zu können. Russland hat bereits sein Interesse am Wiederaufbau der zerstörten syrischen Infrastruktur signalisiert. Zu Beginn des Jahres drängte Präsident Putin auf eine europäische Beteiligung an entsprechenden Projekten. Ausländische Direktinvestitionen in die syrische Infrastruktur kämen auch russischen Investitionsplänen, etwa im Rohstoffsektor, zugute. Für Kooperationen im Bereich des Kommunikationssektors, in der Landwirtschaft und im Immobilien­markt Syriens haben sich schon iranische Akteure in Stellung gebracht. Einen Ein­stieg Irans in den syrischen Rohstoffsektor könnte Russland durch seinen Einfluss in Damaskus aber vermutlich unterbinden. Auf türkischer Seite spekulieren vor allem Bauunternehmen auf lukrative Beteiligungen am Wiederaufbau Syriens, vor allem im Norden des Landes. Diese Aspirationen dürften die russisch-türkische Kooperation hingegen eher fördern als erschweren.

Gravierender noch als die potentielle Rivalität in Wirtschaftsangelegenheiten sind insbesondere für Iran die sich ab­zeich­nenden Spannungen mit Moskau in einer dritten Frage, nämlich der Integration be­waffneter Milizen in staatliche Institutio­nen im Nachkriegssyrien. Moskau lehnt eine Eingliederung paramilitärischer Ein­heiten in syrische Staatsstrukturen ab. Da­mit würde aber vor allem Iran an Einfluss in Damaskus verlieren, das den Konflikt­verlauf durch die Kontrolle über Milizen am Boden entscheidend mitbestimmt hat. Die rus­sisch-iranische Interessenkongruenz wird sich nach einem Ende der Kampfhandlungen also vermutlich lockern, auch weil Russ­land weiterhin gute Bezie­hungen etwa zu Saudi-Arabien, Israel oder den Vereinig­ten Arabischen Emiraten aufrechterhalten und nicht als pro-schiitischer Akteur wahr­genommen werden möchte. Das ist auch der Grund, warum Russland, das de facto die Hoheit über den Luftraum westlich des Euphrats ausübt, israelische Luftangriffe auf iranische Ziele in Südsyrien zuließ.

Trotz Divergenzen: Der Mehrwert der Astana-Kooperation überwiegt

Durch das Astana-Format war es bisher mög­lich, die teils unterschiedlichen Interessen der drei beteiligten Staaten zu überbrücken und zu kana­lisieren. Ohne Russlands Zu­stimmung zum Beispiel wäre die türkische Militärintervention »Operation Olive Branch« im nordsyrischen Afrin im Januar 2018, die die Entstehung einer kurdischen autonomen Region verhindern sollte, nicht möglich gewesen. Zwar ging dieser Aktion eine bilaterale Koordination voraus. Sie sollte aber auch im Kontext einer Inter­essenabstimmung im Astana-Format und des wenige Tage später einberufenen »Kon­gresses der Völker Syriens« in Sotschi ge­sehen werden.

Auch nach der Ankündigung eines tür­kischen Einmarschs in Nordostsyrien am 9. Oktober hielt sich Russland mit öffent­licher Kritik zurück. Kreml-Sprecher Dmitri Peskow äußerte lediglich die Hoffnung, dass sich die Türkei dem Ziel der territorialen Unversehrtheit Syriens verpflichtet sehe. Es ist wahrscheinlich, dass Moskau über die türkischen Invasionspläne informiert war und sich ihnen nicht entgegengestellt hat, auch deshalb nicht, weil die Operation mit dem am 6. Oktober angekündigten Abzug der US-Truppen verbunden war. Dieser Ab­zug ist im gemeinsamen Interesse Russlands, Irans und der Türkei. Der Kreml ver­folgt das Ziel, dass die Kurden die Kontrolle über die ölreichen Gebiete östlich des Euphrats an die Zentral­regierung zurückgeben und die USA sich von dort zurückziehen. Dieses Ziel teilt Russland mit Iran, während die Türkei die Einrichtung eines »Sicherheitskorridors« anvisiert hatte. Nach dem Treffen zwischen Erdoğan und Putin in Sotschi am 22. Okto­ber haben sich nun allerdings Russland und die Türkei auf ge­meinsame Patrouillen geeinigt. Im Zusam­menhang mit dem primären Interesse Russlands an einem Rückzug der USA ist auch Moskaus Veto am 10. Oktober im VN-Sicherheitsrat zu sehen. Dort lag eine Reso­lution vor, mit der der türkische Einmarsch im Nordosten Syriens verurteilt werden soll­te. Der außenpolitische Berater Putins Juri Uschakow äußerte sogar Verständnis für tür­kische Sicherheitsinteressen.

Alle drei Garantiemächte haben nach dem letzten Treffen der Astana-Gruppe in Ankara am 16. September zudem die Ein­berufung eines syrischen Verfassungskomitees unter VN-Vermittlung begrüßt, und ihrem Statement hinzugefügt, dass Ver­suche der Einmischung in den innersyrischen Dialog inakzeptabel seien – eine Bemerkung, die an westliche Regierungen adres­siert war. Trotz der bestehenden Divergen­zen innerhalb der Astana-Troika überwiegt also bisher offensichtlich der Mehrwert der trilateralen Kooperation, mittels derer es möglich war, gemeinsamen Positionen stärker Geltung zu verschaffen und den Interessen dieser drei Mächte in Syrien mit Blick auf die stockenden Genfer Friedens­bemühungen zu weit größerer Sicht­barkeit und Durchschlagskraft zu verhelfen.

Daneben haben sich insbesondere die rus­sisch-türkischen Beziehungen inzwischen auch in anderen Politikfeldern (Energie, Hoch­technologietransfer, Rüstungszusammenarbeit, Währungs­koope­ration) inten­siviert, was die Lesart, bei der russisch-türki­schen Abstimmung im Astana-Prozess han­dele es sich um eine fra­gile Zweckallianz, zusätzlich entkräftet.

Jenseits von Astana: Ansatzpunkte für Deutschland und Europa

Als Schutzmacht Assads hat Russland sei­nen Einfluss in allen Gesprächsformaten, die der Beilegung des Konflikts in Syrien dienen, festigen können, so auch im Asta­na-Format. Durch den Rückzug der USA aus Syrien wird Russlands Rolle in der Region nun zusätzlich gestärkt.

Ein Bruch des Astana-Formats ist derzeit unwahrscheinlich, auch wenn es innerhalb der Troika durchaus Divergenzen gibt. Für Europa besteht vor diesem Hintergrund Handlungsbedarf, da sich die vorhandenen sicherheitspolitischen Risiken und huma­ni­tären Notlagen, die sich aus Flucht und Vertreibung ergeben, nach dem türkischen Einmarsch noch einmal verschärft haben. Europa muss deshalb zunächst dringend daran gelegen sein, eine Beruhigung der Lage in Nordsyrien zu erreichen. Mittelfristig könnte Deutschland auf einen Übergang des Astana-Formats in andere Strukturen und auf einen Friedensprozess in Syrien auf der Grundlage der VN-Sicherheitsrats­resolu­tion 2254 hinarbeiten. Deutschland hat sich bereits im Oktober 2018 in Istanbul in einem neuen Vierer-Format mit Frankreich, Russ­land und der Türkei zu Gesprächen über Idlib und den gesamtsyrischen Friedens­prozess getroffen. In einer solchen Zusam­menführung aus Mitgliedern des »Astana-Formats« und der »Small Group« (bestehend aus Deutschland, USA, Groß­britannien, Frankreich, Ägypten, Jordanien und Saudi-Arabien) könnten Grundbedingungen für den Wiederaufbau und ungeklärte Terri­torialfragen verhandelt werden.

Dr. Moritz Pieper ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2019

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ISSN 1611-6364