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Russland im globalen Wasserstoff-Wettlauf

Überlegungen zur deutsch-russischen Wasserstoffkooperation

SWP-Aktuell 2021/A 48, 29.06.2021, 8 Seiten

doi:10.18449/2021A48

Forschungsgebiete

Im Oktober 2020 hat Russland eine Roadmap für die Wasserstoffentwicklung ver­ab­schiedet, ein umfassendes Konzept wird in Kürze erwartet. Auch wenn Russland dem vielgepriesenen Wasserstoff (H2) nach wie vor skeptisch gegenübersteht, will es seinen Erdgasreichtum nutzen, um ein führender Exporteur auch von H2 zu werden. Dabei sieht es Deutschland als wichtigen potentiellen Partner. Da Russland bisher keine am­bitionierte Dekarbonisierungsagenda hat, ist die große Herausforderung, die Wasser­stoffproduktion in erster Linie für den Export und ohne nennenswerte Binnennachfrage zu stimulieren. Obwohl sich Russlands politische Beziehungen zum Westen stetig verschlechtern, bleibt die Kooperation bei erneuerbaren Energien und bei H2 einer der wenigen vielversprechenden Bereiche. Diese Zusammenarbeit könnte signi­fikant zur Entwicklung der H2-Wertschöpfungsketten in beiden Län­dern beitragen.

Angesichts des rasant wachsenden globalen Interesses an H2 wird der Export in Russ­land heiß diskutiert. Das von der Regierung fi­nan­zierte EnergyNet Infrastructure Centre, das die technologische Führungsrolle russischer Unternehmen auf dem Energiemarkt för­dern soll, veröffentlichte Ende 2018 einen Bericht. Darin wird Russland aufgefordert, schnell zu handeln, um seinen Anteil am zukünftigen globalen Wasserstoffmarkt zu sichern. In mehreren Pilotprojekten sollen die vorhandenen freien Kapa­zitäten des russischen Stromerzeugungs­system genutzt werden, um aus Kern- oder Wasserenergie zu wettbewerbsfähigen Kosten sauberen Wasserstoff für den Export zu pro­duzieren. Im Jahr 2019 verfasste das Skolkovo Energy Centre eine detaillierte Studie, in der es die neuesten internationalen Entwicklungen und Russlands Potential in diesem Sektor erläuterte. Seitdem ist Was­serstoff zum The­ma hochrangiger Konferenzen und Foren, runder Tische in der Duma und un­zähliger Medienartikel geworden. Laut Deutschlands Nationaler Wasserstoffstrategie vom Juni 2020 wird es große Mengen importieren müs­sen. Das verlieh Russlands Ambitionen noch mehr Auftrieb, Wasserstoff­exporteur zu werden und damit seine Posi­tion als Ener­gie­lieferant auch in Zeiten der Energietransformation zu erhalten.

Wasserstoffpolitik in Russland

Im Jahr 2020 verabschiedete Russland zwei politische Dokumente, in denen es seine Was­serstoff-Pläne umreißt. Das erste ist die Energiestrategie vom Juni 2020 für den Zeit­raum bis 2035. Darin erklärt die russische Führung, dass Kohlen­wasserstoffe wichtig bleiben, setzt sich aber auch zum Ziel, Russland zu einem der weltweit führenden Produzenten und Expor­teure von Wasserstoff zu machen. Die Exportziele liegen bei 200 000 Ton­nen bis 2024 und 2 Millionen Tonnen bis 2035. Zwar heißt es in der Stra­tegie auch, die Inlandsnachfrage nach Wasserstoff müsse stimuliert werden, etwa im Transportsektor und für die Ener­gie­speicherung. Trotzdem ist eine klare Export­orientierung unverkennbar.

Das zweite Dokument, die Roadmap für die Wasserstoffentwicklung bis 2024, wurde im Oktober 2020 verabschiedet. Die Konzer­ne Gazprom und Rosatom sollen die Haupt­rolle dabei spielen, die Ziele der Energie­strategie zu erfüllen. Laut Road­map verfügt Russland über Wettbewerbsvorteile bei Was­­ser­stoff in den Bereichen technologisches Know-how, Forschung und Entwicklung (F&E) sowie bei der vor­handenen Ressourcenbasis, Überkapa­zitäten im Energieerzeu­gungssystem, einer ausgebauten Transport­infrastruktur und der geographischen Nähe zu Großverbrauchern. Zudem werden in der Roadmap erste Schrit­te für die Wasser­stoffentwicklung skizziert.

Ein detailliertes H2-Konzept ist in Arbeit, aber Berichten zufolge wird darin eine stra­tegische Zusammenarbeit mit Deutschland, Frankreich, Japan und Süd­korea angepeilt. Laut Konzeptentwurf wird Russland bis 2050 schätzungsweise 7,9 bis 33,4 Mil­lio­nen Tonnen Wasserstoff jährlich exportieren und damit bis zu 100 Milliarden Dollar einnehmen. Russische Exper­ten diskutieren lebhaft über den Kurs der Wasserstoffpolitik und die richtige Balance zwi­schen Ex­por­ten, Inlandsnachfrage und Ent­wicklung der Wasserstofftechnologie. Viele mahnen, der Aufbau einer Wasserstoffwirtschaft im eigenen Land sei unerlässlich, um ein füh­render Exporteur zu werden.

Allerdings ist die Wasserstoffentwicklung in Russland (noch) nicht Teil einer wirk­lichen Dekarbonisierungspolitik. Russ­land hat keine CO2-Regulierung ein­geführt. Seine Verpflichtungen gemäß dem Pariser Ab­kommen sind halbherzig und laufen darauf hinaus, dass die Emis­sionen bis 2030 um 30% gegenüber 1990 reduziert werden. Da sie nach Auflösung der UdSSR 1991 stark gesunken sind, wurde dieses Ziel bereits erreicht. 2018 betrugen sie nur noch 52% des Niveaus von 1990. Selbst das klimafreundlichste Szenario im Ent­wurf der Stra­tegie für eine CO2-arme Ent­wicklung hätte zur Folge, dass die Emissionen gegenüber heute in absoluten Zahlen wieder steigen.

In Russlands aktuellen politischen Doku­menten fehlt grüner, also aus erneuerbaren Energien erzeugter Wasserstoff, obwohl er im neuen Konzept wahrscheinlich erwähnt werden wird. Russland verfügt derzeit über begrenzte Wind- und Solarinstallationen mit insgesamt unter 3 GW Leistung, die weniger als 1% des gesamten Stroms erzeu­gen. Untersucht wird, inwie­weit große Was­serkraft (die installierte Kapa­zi­tät liegt bei 49 GW) für die Produktion erneuerbaren Wasserstoffs geeignet ist. Zwar gibt es zur­zeit kei­ne grünen Wasserstoffprojekte in Russland, aber einige Unter­nehmen haben Interesse bekundet. Enel Russia baut derzeit einen 201-MW-Wind­park auf der Kola-Halb­insel im Gebiet Mur­mansk, der im Dezem­ber 2021 fertig­gestellt sein soll. Zusammen mit Rusnano, Russ­lands großer Institution für Innovationsentwicklung, will Enel Russia in diesem Windpark jährlich 12 000 Tonnen grünen Wasserstoff für den Export in die EU produzieren. Allerdings gibt es bei diesem Pilotprojekt viele Un­wäg­barkeiten, von den Kosten für diesen Was­serstoff bis hin zu den verfügbaren Trans­portwegen, denn in der Oblast Murmansk existieren keine Gaspipelines.

Schlüsselakteure in Russlands Wasserstoff-Entwicklungsplänen

Gazprom

Weil die Nachfrage nach Erdgas in der EU wohl sinken wird, könnte der Export von CO2-armem Was­serstoff, hergestellt aus Erd­gas, ein neues Geschäftsmodell für Gazprom sein. Der Konzern ist schon ein bedeutender Pro­duzent solchen »grauen« Wasserstoffs. Mit Dampf-Methan-Reformierung (SMR) erzeugt Gazprom rund 360 000 Tonnen pro Jahr. Bei diesem Prozess gelangen große Mengen CO2 in die Atmosphäre. Das Unter­nehmen hat begonnen, bei der EU aktiv für einen tech­no­logieoffenen Ansatz für Wasser­stoff zu wer­ben, der sich auf die gesamten CO2-Emis­sio­nen konzentriert, anstatt nur auf erneuerbaren Wasserstoff zu setzen.

Eine Herausforderung für Gazprom wird sein, skalierbare und wirtschaftliche Wege zu finden, um den CO2-Fußabdruck seiner Wasserstoffproduktion zu reduzieren – sei es durch Abscheidung, Nutzung und Spei­che­rung von Kohlenstoff (CCUS) oder durch Methanpyrolyse. Gazprom kooperiert mit der Polytechnischen Uni­versität Tomsk bei der Weiterentwicklung der letztgenannten Technologie, doch bis zur Marktreife ist es noch ein langer Weg. International werden jedoch meh­rere Formen der Methan­pyrolyse entwickelt, zum Beispiel vom Karlsruher Institut für Techno­logie in Zu­sammenarbeit mit Wintershall Dea.

Oft wird argumentiert, Russlands riesiges, von Gazprom kontrolliertes Netz an Gas­pipelines verschaffe dem Land einen Vorteil als poten­tieller Wasserstoffexporteur. Im Oktober 2019 sagte James Watson, General­sekretär des europäischen Branchenverbands Eurogas, dass die Gaspipeline Nord Stream 2 nach ihrer Fer­tigstellung poten­tiell bis zu 80% Wasserstoff transportieren könne. Doch Ver­treter von Gazprom äußer­ten sich offen skeptisch über den Transport von Wasserstoff oder Wasserstoff-Methan-Gemischen durch ihre Gaspipelines. Laut dem Konzern wurden keine Studien durch­geführt, um festzustellen, in welchem Um­fang und zu welchen Kosten die Infrastruktur für den Transport von Wasserstoff genutzt werden könnte und welcher Anteil der Beimischung möglich ist, ohne eine Versprödung zu riskieren. Zwar schlug das Ministerium für wirtschaftliche Entwicklung im April 2021 vor, allen unabhängigen Wasserstoffproduzenten Zugang zum Gastransport­system zu gewähren. Dieser Vorschlag wird aber wohl auf heftigen Widerstand stoßen.

Stattdessen hat die Gazprom-Führung ihre klare Präferenz geäußert, Wasserstoff vor Ort in Europa in der Nähe großer indu­strieller Verbraucher zu erzeugen. Beim Deutsch-Russischen Rohstoff-Forum im Dezember 2020 schlug Alexander Ishkov von Gazprom vor, eine Wasserstoffproduktionsanlage in Norddeutschland zu bauen, an der Anlandungsstelle von Nord Stream 1 und Nord Stream 2, wo Wasserstoff aus rus­sischem Gas entweder mittels SMR mit CCUS oder Methanpyrolyse her­gestellt werden würde. Ende 2020 kündigte Gazprom die Gründung eines neuen Unter­nehmens (Gaz­prom Hydrogen) an, das für die Weiterentwicklung des Wasserstoffgeschäfts verant­wortlich sein wird. Nun muss Gazprom seinen Worten auch Taten folgen lassen.

Rosatom

Rosatoms Wasserstoff-Pläne genießen in Europa bisher nur wenig Aufmerksamkeit, obwohl das Unternehmen die Wasserstoff­entwicklung 2018 als Prio­rität in seine F&E-Politik aufgenommen hat und mehrere Pilotprojekte durchführt. Als staatlicher russischer Atomkonzern ist es an der gesam­ten Wasserstoff-Liefer­kette interessiert. In den nächsten Jahren will Rosatom Wasser­stofftechnologien anbieten und auch Elek­trolyseure, die Russland vorerst importiert, selbst produzieren. Im April 2021 unterzeichnete Rosatom eine Ver­einbarung mit dem fran­zösischen Stromgiganten Électri­ci­té de France (EDF) über die Zusammenarbeit bei CO2-armen Wasserstoffprojekten in den Bereichen Verkehr und industrielle De­karbonisierung in Russ­land und Europa.

Rosatoms Vorschlag, H2 mit Kernenergie zu erzeugen, baut auf der bisherigen jähr­lichen Herstellung von 4 200 Tonnen auf. Rosatom könnte den Auslastungsgrad seiner Kernkraftwerke erhöhen, von denen einige unter ihrer Kapazität arbeiten, zum Beispiel das Kernkraftwerk Kola im Gebiet Mur­mansk. Wichtig ist jedoch, dass Rosa­tom Technologieoffenheit beibehält: Sein F&E-Programm umfasst ein breites Spek­trum an Methoden zur Wasserstofferzeugung, ein­schließlich Elektrolyse, SMR mit CCUS und gasgekühlte Hochtemperatur­reaktoren (HTGR). Rosatom ist außerdem ein bedeutender Akteur auf dem russischen Windmarkt, verfügt über 360 MW Kapa­zi­täten zur Stromerzeugung und könnte damit zukünftig auch grünen Wasserstoff herstellen.

Gegenwärtig erstellt Rosatom Machbarkeits­studien für zwei H2-Projekte auf der fernöst­lichen Insel Sachalin, die zum ersten Wasserstoff-Cluster in Russland werden soll. Das erste Projekt zum Einsatz von Was­ser­stoff im Schienenverkehr wird in Zusam­menarbeit mit den Russischen Eisenbahnen (RZD), Transmashholding (einer Maschinen­bauholding) und der Regionalregierung der Oblast Sachalin durchgeführt. Bis 2025 sol­len sieben Vorort-Wasserstoffzüge in Betrieb genommen werden, bis 2030 dann 13 wei­tere. Rosatom soll hierfür Wasserstoff pro­duzieren und eine Infrastruktur für die Wasserstoffbetankung auf der Insel schaf­fen. Das zweite Projekt hat zum Ziel, CO2-armen Wasserstoff nach Japan zu exportieren. Im September 2019 unterzeichnete Rusatom Overseas, eine Tochtergesellschaft von Rosatom, ein Kooperations­abkommen mit dem japanischen Minis­teri­um für Wirt­schaft, Handel und Indus­trie. Gegenstand des Abkommens ist eine Machbarkeits­studie zum Export von verflüssigtem Wasserstoff aus Russland nach Japan. Die Ergebnisse der Studie sollen bis Som­mer 2021 vorlie­gen. Zusätzlich einigte sich Rosatom im April 2021 mit dem füh­renden französischen Industriegasunter­neh­men Air Liquide und der Regionalregierung von Sachalin auf ein Memorandum of Understanding (MoU). Auch darin wurde eine Machbarkeitsstudie vereinbart, diesmal über die groß­technische Produktion (jähr­lich 30- bis 100 000 Tonnen) von blauem Wasserstoff, der erzeugt wird wie der graue, aber ohne das meiste CO2 in die Atmosphäre gelangen zu lassen. Dies wäre das größte CO2-arme Wasser­stoffproduktionsprojekt in Russland.

Novatek

Obwohl nicht explizit in der Wasserstoff-Roadmap erwähnt, hat Novatek, ein un­abhängiges Gasunternehmen und ein füh­render Hersteller von Flüssigerdgas (LNG), die Absicht signalisiert, sich an der Wasser­stoffentwicklung in Russland zu beteiligen. Im Januar 2021 unterzeichneten Novatek und der Energieversorger Uniper eine Ab­sichtserklärung über die Lieferung von blauem und grünem Wasser­stoff an Uni­pers Kraftwerke in Russland und Europa. Außerdem plant Novatek, etwa 2,2 Millio­nen Tonnen kohlenstoffarmes Ammoniak, der aktuell das wichtigste Derivat von Was­serstoff ist, in seinem LNG-Hafen Sabetta auf der sibi­rischen Halbinsel Jamal zu pro­duzieren. Darüber hinaus erwägt Novatek, seine ge­plante LNG-Anlage am Fluss Ob auf die Erzeugung sau­beren Ammoniaks umzu­stellen, das wie LNG per Tanker transportiert werden kann. So wäre Novatek nicht auf Gazproms Pipeline­system angewiesen.

H2-Technologie-Cluster

Russlands Tradition bei der Wasserstoff­forschung reicht bis in die Sowjetzeit zu­rück. Mehrere Universitäten forschen an Was­ser­stofftechnologien, die von Energiespeichersystemen über wasserstoffbetriebene Droh­nen und Autos bis hin zu neuen Produktionsmethoden wie Methanpyrolyse reichen. Ein Großteil dieser F&E ist jedoch sehr spe­zialisiert und abgeschottet, der Marktreifegrad ist niedrig, und die Ver­marktung bleibt eine Herausforderung.

Im November 2020 schlossen sich, initi­iert von der Polytechnischen Universität Tomsk, sechs renommierte technische Uni­versitäten in Russland zusammen, um das sogenannte Technological Hydrogen Valley zu gründen. Dieses Forschungs­cluster soll Synergien in der Forschung schaffen und Kooperationen mit wich­tigen Wirtschaftsakteuren aufbauen, darunter Rosatom, Gazprom, Severstal, Gazprom Neft und Sibur. Auch will das Kon­sortium die inter­nationale Zusammenarbeit ausweiten.

AFK Sistema, ein führender Privatinve­stor in der russischen Wirtschaft, möchte gemeinsam mit dem Institut für Probleme der chemischen Physik in Tschernogolowka dort ein gesamt­russisches Wissenschafts- und Tech­nologiezentrum für H2 gründen. Es würde eine Produktionsstätte für die Entwicklung von Produktprototypen (ein­schließlich H2-Brennstoffzellen und H2-Speicherlösungen) umfassen und damit auf die Kommerzialisierung der Wasserstoff­forschung in Russland hin­arbeiten.

Erste Initiativen für eine Wasserstoffwirtschaft in Russland

Regionale Wasserstoff-Cluster

Das EnergyNet-Expertenzentrum hat vor­ge­schlagen, drei regionale H2-Cluster in Russ­land zu schaffen: im Fernen Osten (Sacha­lin), im Nordwesten (St. Peters­burg) und in der Arktis.

Das Sachalin-Cluster ist am weitesten fort­geschritten. Im April 2021 unterzeichneten Rosatom, die Regierung Sachalins und das russische Föderale Ministerium für die Ent­wicklung des Fernen Ostens und der Arktis eine offizielle Kooperationsvereinbarung. Sachalin, deren Gouverneur Valery Lima­renko hochrangige Positionen bei Rosatom innehatte, soll Standort für Ros­atoms Pro­jekte werden, zum Beispiel die Erkundung des Exports von verflüssigtem Wasserstoff nach Japan. Mit ihm sollen bis 2030 maxi­mal 40% des japanischen Bedarfs gedeckt und auch andere asiatisch-pazi­fische Länder versorgt werden. Auf Sachalin könnte die Verwendung von Wasserstoff und Wasserstoff-Methan-Gemischen getes­tet werden, etwa bei der schweren Bergbauausrüstung und beim Personentransport. Künftig könn­te Sachalin auch grünen Wasserstoff aus Wind­energie produzieren. Schließlich ist Sachalin die erste russische Region, die CO2-Neutralität anstrebt (bis 2025). Sie wurde als Testgebiet für CO2-Handelsmechanismen ausgewählt, die in den kommenden Jahren in Russland eingeführt werden könnten.

Das nordwestliche Cluster in St. Petersburg wird auf den Export von Wasserstoff ausgerichtet sein, der durch Elektrolyse im Wasserkraftwerk Leningradskaya erzeugt wird, aber auch auf den Einsatz von Wasser­stoff zur Dekarbonisierung bestimmter industrieller Prozesse und des Transports. Dazu gehören die Direktreduktion von Eisenerz in der Stahlindustrie, der Einsatz von H2 in der Zementproduktion und die Verwendung von Methan-Wasserstoff-Gemischen für Fahrzeuge.

Das Arktis-Cluster soll das Potential der Wasserstoffnutzung zur Energiespeicherung in abgelegenen und isolierten Gebie­ten ausloten. Ein großer Teil des dünn besie­delten arktischen Gebiets ist vom natio­nalen Stromnetz isoliert und wird mit ex­trem teurem, umweltschädlichem Diesel ver­sorgt. Diese Region würde am unmittelbar­sten vom Wechsel zu sauberer Energie pro­fitieren. Jakutien hat mehrere Hybridkraft­werke (Diesel plus erneuerbare Ener­gien) installiert und arbeitet nun an einem Pilot­projekt mit der Moskauer Technischen Uni­versität Bauman, um erneuerbaren Wasser­stoff zur Energiespeicherung zu nutzen. Als weiteres Pilotprojekt ist die kohlenstofffreie internationale arktische Forschungsstation Snezhinka (Schneeflocke) vorgesehen. Sie soll 2023 eröffnet werden und wasserstoffbasierte Lösungen für die Energiespeicherung und den Transport er­forschen.

H2 in der Industrie

Wegen der fehlenden nationalen CO2-Regu­lierung hat sich die Idee, sauberen Wasser­stoff zur Dekarbonisierung der Industrie zu verwenden, in Russland noch nicht durch­gesetzt. Der zurzeit diskutierte Gesetzesent­wurf zur Begrenzung von Treibhausgasemissionen wurde durch den Druck von Indu­striekonzernen zahnlos gemacht: Er sieht nur die freiwillige Bericht­erstattung großer Emittenten über CO2-Emissionen vor und enthält keine restriktiven Maßnahmen.

Dennoch wird sich die Verschärfung der internationalen Klimapolitik auf Russlands exportorientierte Firmen auswirken. Einige von ihnen, vor allem in der Metall­industrie, beginnen Schritte zu un­ter­nehmen, um ihren CO2-Fußabdruck zu reduzieren. Der russische Aluminiumgigant Rusal hat »Allow« eingeführt, seine eigene Marke von »grünem Aluminium« mit einem Kohlenstoff-Fußabdruck von weniger als 4 Tonnen CO2 pro Tonne. Es wird mit Energie aus großen sibirischen Wasserkraftwerken her­gestellt. Die Nachfrage dürfte in den kom­menden Jahren steigen. Ein weiteres viel­versprechendes Beispiel ist der Stahlproduzent NLMK, der mit Air Liquide zusammen­arbeitet, um seine Wasserstoffanlagen zu entwickeln und den CO2-Fuß­abdruck seines Stahls zu verringern. Im Januar 2021 unter­zeichnete NLMK außerdem eine Absichts­erklärung mit Novatek, bei kohlenstoff­armen Technologien, CCUS und der Nutzung von Was­serstoff als sauberem Brennstoff in indus­triellen Prozessen zu kooperieren.

Russische Firmen verfolgen auf­merksam die Entwicklungen rund um den Carbon Border Adjustment Mechanism (CBAM) der EU, der darauf abzielt, CO2-Importzölle zu erheben, um unfairen Wettbewerb zu ver­hindern. In Russland wird er weithin als eine der größten Bedrohungen für seine CO2-inten­sive Wirtschaft angesehen. Laut einer oft zitierten Prognose der Wirt­schafts­prü­fungs­gesellschaft KPMG wird Russland durch den Mechanismus bis zum Jahr 2030 bis zu 50,6 Milliarden Euro verlieren. Sobald seine end­gültige Ausgestaltung feststeht, werden russische Firmen der Chemie-, Metall- und Petrochemieindustrie sich ver­stärkt bemü­hen, den CO2-Fußabdruck ihrer Produkte zu reduzieren. Wasserstoff könnte eine der Lösungen dabei werden, neben er­neuer­baren Energien, CCUS und Investitionen in Wäl­der als Kohlenstoffsenken. Dies könnte Firmen aus Deutschland und der EU die Chance eröffnen, Russland mit Techno­logien und Know-how bei der industriellen Dekarbonisierung zu unterstützen.

H2 im Transport

Der Verkehrssektor wird aus mehreren Gründen zur ersten Nische der Wasserstofftechnologie werden: Es gibt aufstrebende russische Technologieanbieter, konkrete Pilotprojekte (wie den Sachalin-Wasserstoff­zug) und ein Interesse bei In­vestoren. Zu­dem existiert ein Vorzeigeprojekt, die wasser­stoff­betriebene Straßenbahn in St. Peters­burg, die das Staatliche Forschungs­zentrum Kry­lov 2020 entwickelte. Auch Präsident Putin hat jüngst die Bedeutung des öffent­lichen Nahverkehrs auf Wasserstoffbasis be­tont und dazu aufgerufen, bis 2023 die Produk­tion von Wasserstoffbussen zu starten.

InEnergy, ein 2015 gegründetes Start-up, ist Russlands fortschrittlichstes Unternehmen bei Wasserstofftechnologien wie Brenn­stoffzellen und Energiespeicherlösungen. Es erhielt eine Finanzierung von der Russian Venture Company und arbeitet eng mit dem Institut für Probleme der chemischen Phy­sik zu­sammen. InEnergy koope­riert mit dem russischen Lkw-Hersteller KAMAZ, um Prototypen von Wasserstoffbussen zu ent­wickeln. Einer davon soll im Herbst vorge­stellt werden. KAMAZ, das be­reits Lithium-Ionen-Elektrobusse baut, hat wasserstoff­betriebene Busse und Lkw in sein F&E-Pro­gramm aufgenommen.

Zudem hat die wohlhabende Moskauer Stadtverkehrsbehörde, die viel in eine elek­trische Busflotte investiert, Inter­esse an Wasserstoffbussen gezeigt. Ros­atom und Transmashholding, die ein Joint Venture zur Förderung von Wasserstoff-Mobilitäts­lösungen planen, hoffen darauf, an der Um­setzung dieser Vision mitwirken zu können.

Schwierig bleibt jedoch, eine Infrastruktur für die Wasserstoffbetankung zu schaf­fen. Heute gibt es in Russland nur eine einzige H2-Tankstelle, in Tschernogolowka. Eine posi­tive Initiative ist die ge­plante Auto­bahnstrecke Moskau-Kasan, die mit Wasser­stofftankstellen ausgerüstet werden soll.

Dennoch bleibt der Wettbewerb zwischen den Technologien ein Problem. Ande­re Formen der Mobilität sind besser sichtbar und großzügiger finanziert. Eine davon ist das staatliche Programm zur Förderung von Erdgas als Kraftstoff für Fahrzeuge. Es wird von der Gazprom-Tochter Gazprom Gazo­motornoye Toplivo betrieben.

Gründe und Perspektiven deutsch-russischer Zusammen­arbeit

Angesichts der Sicherheitskrise zwischen Russland und dem Westen ist jede weiter­gehende Zusammenarbeit mit Russland zwangsläufig umstritten. Falls der politische Wille dazu besteht, ist aber nachhaltige Energie einer der wenigen vielversprechenden und für beide Seiten vorteilhaften Bereiche. Außerdem ist es ohnehin not­wendig, die Auswirkungen des CBAM und der Dekarbonisierung auf den beste­henden Energiehandel zu managen.

Die für Energie zuständigen Ministerien Deutschlands und Russlands haben am 20. April 2021 eine Absichtserklärung zur Zusam­menarbeit bei den erneuerbaren Energien unterzeichnet. Die Vorteile der Kooperation liegen nicht nur im poten­tiellen Zugang zu CO2-armem H2, sondern auch in der Öffnung eines Marktes für deut­sche Wasserstofftechnologien. Deutschland könnte eine herausragende, strategisch bedeutsame Rolle dabei spielen, Russland bei dessen Anpassung an ein dekarbonisierendes Europa zu begleiten. Eine deutsch-russische Wasserstoffpartnerschaft könnte sich als entscheidend bei Erforschung, Inno­vation und Skalierung von Technologien erweisen. Deutschlands Entscheidung, H2 stärker in den bilateralen Energiebeziehungen mit Russland zu gewichten und ein Wasserstoffbüro in Moskau zu eröffnen, sind entsprechende Schritte.

Um auf eine dekarbonisierte Zukunft hinzuarbeiten, müssen Wege gefunden werden, große Öl- und Gasexporteure bei der Neuausrichtung ihrer ölbasierten Wachs­tumsmodelle zu unterstützen. Da die EU der wichtigste Markt für Russlands Öl und Gas ist, bildet ihre Dekarbonisierungs­agenda eine ernsthafte Herausforderung für Russ­lands Wirtschaftsmodell und Rentenwirtschaft. In einer dekarbonisierten Energiewelt wird nicht die Extraktion, sondern die Konversion von Energie eine größere Rolle spielen. Technologien und Know-how wer­den wichtiger. Dadurch ent­stehen andere Geschäftsmodelle und völlig neue Wertschöpfungsketten, die auf der Verfügbarkeit von Tech­nologien und deren jeweiligen Innovations- und Lebenszyklen beruhen. Diese Transformation wird Gewinner und Verlierer hervorbringen. Während sinkende Renten aus Öl und Gas die russischen Eliten treffen werden, kann die Transformation für viele Unternehmen auch Anreize zur Modernisierung schaffen. Die deutsch-russi­sche Kooperation trüge dazu bei, den Ener­giesektor umzubauen und Russ­land eine neue Funktion in der Energiewelt zu geben. Das würde auch die zukunfts­gerich­tete bilaterale Zusammenarbeit in Wirtschaft, Technologie und Wissenschaft för­dern.

Russland bleibt geographisch Nachbar und absehbar Rohstofflieferant, etwa von Platin und Iridium für Elektrolyseure. Um das klimaneutrale Europa zu verwirklichen, ist es außerdem wichtig, sich des »grünen Para­doxons« bewusst zu sein: Hört Europa auf, Kohlenwasserstoffe aus Russland zu importieren, bleiben diese Ressourcen nicht im Boden, sondern werden günstig an rasch wachsende asiatische Volkswirtschaften verkauft. Das bringt keinen Nettogewinn für das globale Klima. Besser wäre es, Erdgas für einen Übergangszeitraum zu nutzen. Kooperieren könnte man bei der Produk­tion von CO2-armem Wasserstoff mit CCUS und türkisem, also durch Pyrolyse erzeugtem Wasserstoff sowie bei Methanleckagen.

Auf dem Papier spricht einiges für eine H2-Partnerschaft zwischen Deutschland und Russland. Dazu gehört die bestehende Gas­infrastruktur mit parallelen Leitungssträngen, die einen allmählichen Ausstieg aus dem Gastransport und die Umnutzung die­ser Leitungen und Kompressoren für Wasser­stoff ermög­lichen. Ebenfalls zu nennen sind langjährige Joint-Ventures von Energie­unternehmen sowie die enge techno­logi­sche und wissenschaftliche Kooperation.

Die angespannten politischen Beziehungen bleiben freilich ein großes Hindernis. Darüber hinaus bestehen Hürden, die von beiden Seiten angegangen werden müssen. Erstens wäre da das Henne-Ei-Problem, das die Was­serstoffentwicklung weltweit betrifft, näm­lich: Wie, wann und wofür sollen Wert­­schöpfungsketten und dann auch noch der Transport verändert oder neu geschaffen werden, wenn weder Nachfrage noch Ange­bot gesichert sind? Bislang haben langfristige Verträge über die vertikal integrierte Wertschöpfungskette mit preisgebundenen Verträgen geholfen, solche Hürden zu über­winden. Vor dem Hintergrund neuer EU-Regularien müssen Mechanismen konzipiert werden, um Angebot und Nachfrage verlässlich aufeinander abzustimmen, die Preisdifferenz zu grauem Wasserstoff und alternativen Brennstoffen zu überbrücken und den Transport zu sichern.

Die zweite Herausforderung betrifft die Farbenlehre. Der deutsche politische Dis­kurs konzentriert sich auf die »Farben« des Wasserstoffs statt auf den CO2-Fuß­abdruck der verschiedenen Erzeugungs­methoden. Dies bildet eine freiwillige Begrenzung im Vergleich zu vielen anderen Län­dern. Es gibt aber zahlreiche gute Grün­de, den CO2-Abdruck und die Schwellenwerte der EU-Taxonomie als Referenzpunkte zu nehmen, um kon­sistent und transparent zu sein. Russland erwägt eine breite Palette von Wasserstoffproduktionsmethoden, ein­schließlich der Erzeugung in großen Wasser- und Kernkraftwerken. Diesen Ansatz teilt es mit vielen seiner potentiellen Partner wie Frank­­reich, Südkorea und Japan. Wäh­rend klar ist, dass Deutschlands Förder­programm für langfristige und marktbasierte Importe (H2 Global) ausschließlich grü­nen Wasser­stoff unterstützen wird, ist der großskalige Import und Verbrauch anderer Arten von CO2-armem Wasserstoff noch offen.

Das dritte Hindernis ist die kritische Hal­tung gegenüber CCUS in Deutschland. Was­ser­stoff hierzulande vor Ort zu produzie­ren hat Vor- und Nachteile. Einer­seits würde es Deutschland ermöglichen, seinen Wasserstoffbedarf schnell und flexibel zu decken und Schlüsseltechnologien weiterzuent­wickeln. Andererseits würde es – im Falle von blauem Wasserstoff – den Aufbau eines CO2-Netzes, von Speichern oder von beidem erfordern. Das muss in Deutschland diskutiert werden.

In Russland wiederum haben sich die Erfahrungen mit dem Wandel der EU-Regu­lierungen eingebrannt. Ist aber der politi­sche Wille vorhanden, nachhaltiger Energie Vorrang einzuräumen und gegen­seitige Bar­rieren zu überwinden, ließen sich große Projekte über die gesamte Wertschöpfungskette hinweg umsetzen, um Vertrauen wie­derherzustellen. Die Bau­steine sind offen­sichtlich. Es ist keine Frage der technischen Machbarkeit, sondern der wirtschaftlichen und politischen Prioritätensetzung. Ein klimaneutrales Europa hat viel zu gewinnen, wenn die umkämpfte Nord Stream 2 (teilweise) für Wasserstoff umgewidmet und zu einem Teil eines neuen Wasserstoff-Technologie-Röhren-Deals gemacht würde. Solch ein Abkommen müsste aber zuvor europäisch ver­ankert werden.

Fazit

Russland signalisiert sein Interesse, in den globalen Wasserstoffwettlauf einzusteigen. Es sieht sich als zukünftiger Wasserstoff­lieferant für Deutschland und den asiatisch-pazifischen Raum. Allerdings geht die Ent­wicklung zu einem wichtigen Wasserstoff­exporteur Hand in Hand mit dem Aufbau einer Wasserstoffwirtschaft in Russland selbst. Will es sich seinen Platz sichern, kommt es nicht umhin, eine ehrgeizigere Dekarbonisierungspolitik zu betreiben. Auch kann Russland nicht davon ausgehen, dass es ein unverzichtbarer Wasserstoff­lieferant für die EU bleiben wird. H2 schafft die Option, sich seine Partner zu wählen. Der Wett­lauf um Wasserstoff verschärft sich, Regie­rungen und Unternehmen inve­stieren große Summen. Deswegen muss Russland ein Risiko ein­gehen und den poli­tischen Willen und die Ressourcen aufbrin­gen, um sich seinen An­teil am zukünftigen Wasserstoffmarkt zu sichern.

Was Deutschland betrifft, sollte es den CO2-Gehalt von Wasserstoff zum Haupt­kriterium machen oder zumindest klar benen­nen, welcher H2 zur Anwendung kommen darf, um Sicherheit für potentielle Inves­toren zu schaffen. Gut durchdachte Pilot­projekte sind in diesem frühen Stadi­um ent­scheidend. Außerdem ist die indu­strielle Dekarbonisierung in Russland ein ungenutzter und vielversprechender Bereich der bilateralen Zusammenarbeit, der weit­aus größere Aufmerksamkeit verdient.

Yana Zabanova ist Gastwissenschaftlerin und Dr. Kirsten Westphal ist Leiterin des Projekts »Geopolitics of Hydrogen« in der Forschungsgruppe Globale Fragen. Das Projekt wird vom Auswärtigen Amt gefördert.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2021

SWP

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ISSN (Print) 1611-6364

ISSN (Online) 2747-5018

(Deutsche Übersetzung von SWP Comment 34/2021)