Korruption und Straflosigkeit sind zwei zentrale Probleme des Rechtsstaats in Lateinamerika und damit auch von Qualität und Stabilität der Demokratie in dieser Region. Weil ihre eigenen Handlungsmöglichkeiten erschöpft waren, versuchten einige Regierungen, gemeinsam mit internationalen Organisationen dagegen vorzugehen. Dafür wurden Sondermechanismen eingerichtet, die außerhalb staatlicher Ermittlungs- und Strafverfolgungsbehörden, aber zugleich mit ihnen verschränkt daran arbeiten, Netzwerke der Korruption aufzudecken. In Guatemala, Honduras, Mexiko und Nicaragua sind solche Bemühungen zur Durchsetzung von Recht und Menschenrechten vor Kurzem abgebrochen worden, in Ecuador und El Salvador stehen vergleichbare Versuche noch am Anfang. Nur wenn sie umfassend lokal eingebettet und (zivil)gesellschaftlich verankert sind, werden sie erfolgreich sein können.
Auf den ersten Blick scheint in Lateinamerika der Rechtsstaat auf dem Vormarsch: Der Korruptionsskandal um den brasilianischen Baukonzern Odebrecht hat über Brasilien hinaus in 14 Ländern der Region Strafverfolgungsmaßnahmen gegen Präsidenten und führende Politiker nach sich gezogen. Doch jenseits dieser Fälle, die bis zu Personen mit höchster politischer Verantwortung reichen, wird die prekäre Situation von Rechtsstaatlichkeit in der Region oft übersehen.
Dabei leidet der lateinamerikanische Subkontinent unter der unklaren Trennung von Recht und Politik; Justiz, politische und wirtschaftliche Interessen sind zunehmend miteinander verwachsen. Der Zugang der Bevölkerung zum Recht ist in vielen Ländern eingeschränkt, das Justizsystem überlastet und wenig effizient. Die Folge: ein Vertrauensverlust der Bürger angesichts der fehlenden Unabhängigkeit der Justiz, aber auch in Anbetracht der starken korporativen Interessenvertretung der Richterschaft. Es gilt zu verhindern, dass sich wirtschaftliche und politische Interessen bei der Richterbestellung durchsetzen und die Interessen der Richter den Justizapparat als Ganzes blockieren.
Das unklare Verhältnis von Staat, Politik und Recht
Jenseits der etablierten formalistischen Rechtskultur in Lateinamerika manifestiert sich eine zentrale Dimension mangelnder Rechtsstaatlichkeit in dem Zusammentreffen zweier grundlegender und in Teilen gleichzeitig verlaufender Prozesse: der Verrechtlichung der Politik, das heißt der Verschiebung politischer Entscheidungen in das Justizsystem, und der Politisierung der Justiz durch politischen Druck auf die Rechtsorgane und durch die Nutzung der Justiz als politische Bühne. Dies ist nicht nur in der Debatte um die (abstrakte und / oder konkrete) Normenkontrolle durch Verfassungs- und Oberste Gerichte ablesbar. Sowohl die Exekutive als auch die Legislative und gesellschaftliche Machtgruppen nehmen informell Einfluss auf richterliche Entscheidungen sowie vorgelagerte staatsanwaltliche Ermittlungen. Dass sich Teile der Justiz und der Strafverfolgungsbehörden für politische oder wirtschaftliche Interessen instrumentalisieren lassen, ist umfassend belegt. Hinzu kommt für die Bürger ein erschwerter Zugang zur Justiz und zum Recht. Im Bereich des Strafrechts spiegelt sich das in einer hohen Straflosigkeitsquote – in über 90 Prozent der Fälle kommt es zu keiner Verurteilung.
Versuche, dies zu ändern, waren bisher nicht erfolgreich: weder Justizreformen »von oben«, die auf institutionelle Reformen und eine aktivistische Gerichtsbarkeit setzten, noch zivilgesellschaftlicher Druck »von unten«, etwa durch den Ausbau außergerichtlicher Streitbeilegung oder friedensrichterlicher Modelle. Denn informelle Mechanismen ließen sich schnell an andere Regelungsvorgaben anpassen, die Bürger kamen so auch nicht zu ihrem Recht.
Daher sind zunehmend Projekte und Programme der Rechtsstaatsförderung »von außen« aufgelegt worden, um über den regionalen Rechtsbestand (insbesondere die Normen und die Rechtsprechung des interamerikanischen Systems zum Schutz der Menschenrechte) innerstaatlich zu wirken, nämlich durch eine Kontrolle der Konventionsmäßigkeit. Damit ist die übernationale Rechtsprechung auch für Menschenrechtsfragen auf nationaler Ebene anzuwenden, die interamerikanische Ebene nimmt also eine expansive Rolle ein. Das stößt auf Widerstand: Im April 2019 haben etwa die Regierungschefs Argentiniens, Brasiliens, Chiles, Kolumbiens und Paraguays gemeinsam ein Schreiben an den Vorsitzenden der Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte (Inter-American Commission on Human Rights, IACHR) verfasst und darin ihre Vorbehalte gegen eine Einschränkung der nationalen Rechtsprechung zum Ausdruck gebracht. Sie verlangten, dass die nationale Souveränität und staatliche Entscheidungsspielräume gewahrt würden und dass das interamerikanische System eine rein subsidiäre Rolle spiele. Andere Staaten wie Bolivien und Ecuador haben unter ihren links gerichteten Präsidenten einen Rückzug aus dem interamerikanischen Menschenrechtssystem erwogen, Venezuela hat diesen bereits umgesetzt.
Noch stärker ist der Widerstand, wenn solche Versuche, die Rechtsstaatlichkeit zu stützen, den regionalen Rahmen überschreiten. Schnell werden sie interpretiert als »Intervention« externer Akteure bei der Transformation des Justizsystems. Weil diese Herangehensweise politisch so sensibel ist, ist sie beim Thema Bekämpfung von Korruption und Straflosigkeit nach wie vor selten – schließlich werden die innere Souveränität und die institutionelle Autonomie berührt, die als harter Kern der Unabhängigkeit einer Nation angesehen werden.
International gestützte Sondermechanismen als Instrument der Rechtsstaatsförderung
Als Sondermechanismen werden all jene Formate der Beteiligung internationaler Organisationen oder Experten betrachtet, die zwischen nationalen Regierungen, zivilgesellschaftlichen Instanzen und Opferangehörigen einerseits sowie internationalen Organisationen andererseits vereinbart werden, um Fragen der Rechtsstaatlichkeit und / oder Menschenrechte zu bearbeiten und zu lösen. In Lateinamerika lassen sich dabei Rechtsstaatsmissionen und Kommissionen unabhängiger Experten unterscheiden.
Rechtsstaatsmissionen
Die Einrichtung einer Internationalen Kommission gegen Straflosigkeit in Guatemala (Comisión Internacional Contra la Impunidad en Guatemala, CICIG) kann als Teil eines allgemeinen Trends zu internationalen hybriden Justizsystemen verstanden werden. Erprobt wurden diese zum Beispiel in Kambodscha, Timor-Leste oder Sierra Leone, meist im Kontext von Prozessen der Transitional Justice. Die CICIG stellte eine innovative Antwort dar auf die in Guatemala grassierende Straflosigkeit von über 97 Prozent, die nicht nur auf Mängel bei Polizei und Justiz zurückgeführt wird. Wesentlich bedingt werden diese Defizite auch durch sogenannte »hidden powers«, also »ein informelles Netzwerk« mächtiger Personen, die ihre Positionen und Kontakte in der Öffentlichkeit und im Privatsektor nutzen, um wirtschaftlich von illegalen Aktivitäten zu profitieren und Verfolgung für von ihnen begangene Straftaten zu vermeiden.
Während der Amtszeit von Präsident Óscar Berger (2004–2008) ersuchte Guatemala im Jahr 2006 – nicht zuletzt auf Druck aus Washington – die Vereinten Nationen (VN) um Hilfe bei der Einrichtung einer gemeinsamen gemischten Kommission zur Bekämpfung der Straflosigkeit in Fällen von organisierter Kriminalität. Dieses Ersuchen war politisch und rechtlich hochumstritten. Die Ermordung dreier salvadorianischer Mitglieder des Zentralamerikanischen Parlaments in Guatemala im Februar 2007 unterstrich indes seine Dringlichkeit, so dass die CICIG Ende 2007 ihre Tätigkeit aufnehmen konnte. Finanziert wurde sie mit freiwilligen Beiträgen von VN-Mitgliedstaaten wie Deutschland. Sie erhielt den Auftrag, illegale Sicherheitsstrukturen aufzudecken und abzubauen sowie die Justizkapazität der staatlichen Institutionen Guatemalas zu stärken, indem sie paradigmatische Ermittlungsstrategien und institutionelle Reformen förderte. Die CICIG war in ihrem Ansatz einzigartig, da es keine Präzedenzfälle gab, in denen ein souveränes Land einer internationalen Einheit zugestimmt hatte. Im Fall der CICIG führte sie eigene Ermittlungen, wobei sie sich mit dem nach guatemaltekischem Recht tätigen Generalstaatsanwalt abstimmte. Sie reichte Klagen ein und begleitete die jeweiligen Prozesse als »querellante adhesivo« (eine Art Nebenkläger). Des Weiteren überprüfte sie Bewerber für führende öffentliche Ämter daraufhin, ob sie in Korruption verwickelt waren, und beteiligte sich an der Ausbildung von Polizisten und Justizbeamten.
Auf diese Weise hat der guatemaltekische Staat einen Teil seiner Attribute zur Gewährleistung von Sicherheit und Gerechtigkeit abgetreten und eine Modalität der »geteilten Souveränität« eingeführt. Unter der Leitung ihres dritten Chefs Iván Velásquez, kolumbianischer Staatsanwalt und Richter, nahm die CICIG bei der Untersuchung von Korruptionsskandalen eine Vorreiterrolle ein. Sie haben zum Rücktritt der Vizepräsidentin des Landes, Roxana Baldetti (9. Mai 2015), und des Präsidenten Otto Pérez Molina (2. September 2015) geführt, nachdem ihre Immunität vom Parlament aufgehoben worden war. Durch die Ermittlungen gegen die beiden Amtsinhaber wurde ein Netzwerk aufgedeckt, das Millionen von Dollar von der guatemaltekischen Zollbehörde abgeschöpft hatte.
Diese Ereignisse des Jahres 2015 haben eines klar gezeigt: Für die CICIG in ihrem Kampf gegen kriminelle Strukturen war die Unterstützung durch staatliche Institutionen (Staatsanwaltschaft, Justiz), eine mobilisierte Zivilgesellschaft und internationale Partner zentral. Sobald die Interessen bestehender Eliten angetastet wurden, kam es zu Abwehrreaktionen. In deren Folge gerieten die Arbeit der CICIG und die Verlängerung ihres Mandats in zweijährigem Turnus zu einer Machtprobe zwischen staatlichen Akteuren, den CICIG-Unterstützern in der Zivilgesellschaft und der internationalen Gemeinschaft. Die Auseinandersetzungen eskalierten, als Präsident Jimmy Morales (2016–2020) sein Amt antrat und gegen seine Partei wie seine Familie Ermittlungen aufgenommen wurden wegen illegaler Wahlkampffinanzierung. Der kolumbianische Chef der Kommission Iván Velásquez wurde 2017 ein erstes Mal ausgewiesen – und trotz des Widerstands des VN-Generalsekretärs ist im September 2019 die Tätigkeit der CICIG beendet worden. Dieser Abbruch der international gestützten Rechtsstaatsförderung in Guatemala zeitigte auch im Nachbarland Honduras Folgen.
Dort war 2016 eine Unterstützungsmission gegen Korruption und Straflosigkeit in Honduras (Misión de Apoyo Contra la Corrupción y la Impunidad en Honduras, MACCIH) eingesetzt worden, auf der Grundlage einer Vereinbarung der Regierung mit der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS). Anlass war ein Korruptionsskandal, bei dem zu Lasten des Honduranischen Sozialversicherungsinstituts (IHSS) Gelder für den Wahlkampf der Regierungspartei Partido Nacional umgeleitet worden waren. Die Mobilisierung der Zivilgesellschaft im Jahr 2015 in Form sogenannter »Fackelmärsche« zwang die Regierung von Präsident Juan Orlando Hernández dazu, diese Unterstützungsmission mit der OAS zu initiieren. Die MACCIH kooperierte mit der Sonderstaatsanwaltlichen Einheit gegen Straflosigkeit von Korruption (UFECIC), zudem sollte sie der Regierung Reformen des honduranischen Justizsystems vorschlagen.
Als die MACCIH Verfahren gegen Parlamentsmitglieder wegen der Veruntreuung öffentlicher Gelder einleitete (»Fall Pandora«) und der Druck auf das Oberste Gericht des Landes zur Verurteilung angeklagter Amtsinhaber stieg, wurde die Arbeit der Kommission hintertrieben, mitunter sogar lahmgelegt. So muss es nicht verwundern, dass das Parlament 2019 das Ende der Mission forderte. Die Regierung und die OAS hingegen bewerteten in einer gemeinsamen Evaluierung die vierjährige Arbeit der MACCIH durchaus positiv. Am 19. Januar 2020 schließlich hat Präsident Hernández die Mission für beendet erklärt, da es nicht gelungen sei, zusammen mit der OAS eine neue Basis für ein anderes Übereinkommen für eine Nachfolgekommission zu finden. Damit sind die externen Anreize entfallen, »strukturelle Straflosigkeit« von über 90 Prozent in Honduras (Bericht der IACHR aus dem Jahr 2019) zu bekämpfen. Korruption von Amtsträgern und schwere Menschenrechtsverletzungen bleiben ungesühnt. Der Abbruch der MACCIH muss als Erfolg jener kriminellen Netzwerke interpretiert werden, die sich staatlicher Unterstützung oder staatlichen Einflusses zu bedienen wissen, um ihre Interessen durchzusetzen – unbehelligt von jedweder Strafverfolgung.
Kommissionen unabhängiger Experten
Eine andere Art von Sondermechanismus zur Förderung der Rechtsstaatlichkeit wurde im Rahmen des interamerikanischen Menschenrechtssystems in Mexiko und Nicaragua angewandt: In beiden Ländern wurde in Übereinkunft mit den jeweiligen Regierungen eine Interdisziplinäre Gruppe unabhängiger Experten (Grupo Interdisciplinario de Expertos Independientes, GIEI) tätig, um Fälle schwerer Menschenrechtsverletzungen aufzuklären.
Die GIEI in Mexiko wurde durch ein Abkommen ins Leben gerufen, das am 18. November 2014 geschlossen wurde zwischen der IACHR, dem mexikanischen Staat und Angehörigen der 43 Studierenden der Escuela Normal Rural de Ayotzinapa, die im September 2014 verschwunden und später getötet worden sind. Ziel der GIEI war, die Suche nach den Verschwundenen technisch zu unterstützen, zu der Untersuchung zur Bestrafung der Verantwortlichen beizutragen sowie die Familien der Studenten zu begleiten. Es bestanden massive Zweifel an der Ermittlungstätigkeit der mexikanischen Behörden. Durch ihre Mitwirkung an der Untersuchung konnte die GIEI die von der Staatsanwaltschaft vorgelegte Darstellung der Ereignisse hinterfragen. Die von der IACHR eingesetzte GIEI musste sich den Zugang zu den Ermittlungs- und Gerichtsakten erstreiten, konnte sich an Durchsuchungen beteiligen, bestehende Ermittlungslinien analysieren und die Einleitung neuer Ermittlungen empfehlen. Es gelang ihr in zwei Berichten, die Anwendung von Folter aufzudecken, und einen Plan für die umfassende Betreuung der Angehörigen der Opfer auszuarbeiten.
Seit April 2016 zeigte sich die mexikanische Regierung von Präsident Enrique Peña Nieto allerdings nicht mehr interessiert an einer Fortsetzung der Arbeit der GIEI, die daraufhin ihre Tätigkeit einstellen musste. Die Nachfolgeregierung, im Amt seit Ende 2018, hat zwar eine Wahrheitskommission zu diesem Fall eingesetzt; diese beschäftigt sich aber nicht mit der Frage der Straflosigkeit der Täter. Zusätzlich hat eine Sondereinheit für Untersuchungen und Rechtsstreitigkeiten für den Fall Ayotzinapa, angesiedelt bei der Generalstaatsanwaltschaft, ihre Arbeit aufgenommen. Die IACHR hat der mexikanischen Regierung am 3. Dezember 2019 die Wiedereinsetzung der GIEI vorgeschlagen, um die Anträge von Opferangehörigen weiter verfolgen zu können.
Die IACHR hielt es für notwendig, einen Speziellen Follow-up-Mechanismus für den Fall Ayotzinapa (MESA) zu schaffen. Drei Jahre lang, von 2016 bis 2018, beobachtete der MESA die Einhaltung der Schutzmaßnahmen und der Empfehlungen der GIEI. Er gab zwei Berichte mit Empfehlungen an den mexikanischen Staat heraus, in denen er auf die weiterhin bestehenden Hindernisse bei der Untersuchung hinweist. Diese betreffen vor allem die strafrechtliche Verfolgung der Menschenrechtsverletzungen. Die Ermittlungen sollen durch moderne Untersuchungsmethoden unterstützt werden.
Bislang konnte in Mexiko die Suche nach Wahrheit und Gerechtigkeit nicht abgeschlossen werden. Den Abbruch der Tätigkeit der GIEI kann man durchaus auch dem nachlassenden Interesse der staatlichen Behörden an einer Klärung des Falls zurechnen.
In Nicaragua wurde ein ähnlicher Mechanismus aktiviert: Auf der Basis eines Abkommens zwischen dem Generalsekretariat der OAS, der IACHR und der nicaraguanischen Regierung wurde am 2. Juli 2018 eine GIEI eingesetzt, die die gewalttätigen Ereignisse untersuchen sollte, die im Rahmen der Proteste gegen die Regierung von Präsident Daniel Ortega zwischen dem 18. April und dem 30. Mai 2018 stattgefunden hatten. Doch der Expertengruppe gelang es weder, freien Zugang zu Gefängnissen zu erhalten, noch Einsicht in Anklageschriften zu bekommen oder sich als Beobachter an Gerichtsverfahren zu beteiligen. Der Bericht der GIEI verzeichnet als die vom nicaraguanischen Regime am häufigsten begangenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit: Mord, Inhaftierung und Verfolgung von Studierenden, Journalisten und Menschenrechtsverteidigern. Er stellt den gewaltsamen Tod von 325 Menschen während der Krise 2018 fest, ferner die Ausweisung von 80 Studenten aus der Nationaluniversität und die Entlassung von Hunderten Ärzten.
Im Dezember 2018 hat Ortega die Ausweisung der Mitglieder der GIEI verfügt, die am folgenden Tag das Ergebnis ihrer Ermittlungen vorlegen wollten. Damit ist auch der Spezielle Monitoring-Mechanismus für Nicaragua (MESENI) abgebrochen worden. Er bestand aus einem technischen Team, das angesichts andauernder Proteste eigentlich »so lange bleiben sollte, wie es die Situation erfordert«. Die nicaraguanische Regierung monierte, der Bericht der GIEI sei dazu angetan, dass das Land auf der Grundlage »falscher Informationen« mit internationalen Sanktionen belegt würde.
Neue Formate von Sondermechanismen
Gegenwärtig sind in Lateinamerika weitere Sondermechanismen zur Förderung des Kampfes gegen Korruption und Straflosigkeit in der Diskussion, mit denen die jeweiligen Regierungen einen Versuch unternehmen, die Strafverfolgung zu intensivieren. Im Juli 2019 wurde in Ecuador die Kommission internationaler Experten gegen Korruption in Ecuador (Comisión de Expertos Internacionales Contra la Corrupción en Ecuador, CEICCE) berufen. Indem er ein Dekret zur Schaffung der Kommission unterzeichnete, hat Präsident Lenín Moreno ein Wahlversprechen aus dem Jahr 2017 umgesetzt. Die Kommission hat für ihre Tätigkeit ein Statut aufgestellt, das die Regierung jedoch bislang nicht in Kraft gesetzt hat. Obwohl die Regierung nach eigenen Angaben bereits eine Million US-Dollar als Betriebskapital der Kommission bereitgestellt hat, scheinen sich die Verhandlungen mit dem VN-System, hier vertreten durch das Büro der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC), weiter hinzuziehen. Also wurde beschlossen, dass die Arbeitsaufnahme der CEICCE bis Mai 2020 aufgeschoben wird.
In El Salvador haben am 6. September 2019 der OAS-Generalsekretär Luis Almagro und El Salvadors Präsident Nayib Bukele die Einrichtung der Internationalen Kommission gegen Straflosigkeit in El Salvador (Comisión Internacional Contra la Impunidad en El Salvador, CICIES) vereinbart. Zunächst soll sie zwei Fälle untersuchen: Der erste steht in Verbindung mit der angeblichen Korruption im Zusammenhang mit dem Bau des als El Chaparral bekannten Wasserkraftwerks während der Amtszeit des ehemaligen Präsidenten Mauricio Funes (2009–2014), der sich derzeit auf der Flucht vor der Justiz in Nicaragua aufhält. Der zweite Fall befasst sich mit der potenziellen Veruntreuung staatlicher Gelder während des Baus von SITRAMSS, einem öffentlichen Busdienst in der Hauptstadt San Salvador.
Auch mit der Kommission in El Salvador wird ein Wahlversprechen des seit Juni 2019 amtierenden Präsidenten Bukele eingelöst. Aus diesem Grund sah sich OAS-Generalsekretär Luis Almagro genötigt zu erklären: »CICIES arbeitet nach dem Prinzip der absoluten Unabhängigkeit, wir sind kein politischer Akteur in El Salvador, und wir bekämpfen die Korruption nicht mit Worten, sondern mit technischen Fähigkeiten und professioneller Einstellung, die zu greifbaren Ergebnissen führen.« Bis zum 20. Februar 2020 soll ein rechtlicher Rahmen für die Tätigkeit der CICIES ausgearbeitet werden, den das Parlament billigen muss. In Anbetracht der sich verschärfenden Auseinandersetzung zwischen Exekutive und Legislative ist dies allerdings ungewiss.
Wirksamkeit und Nachhaltigkeit der Sondermechanismen
Trotz des Abbruchs der bisher operierenden Sondermechanismen ist dieser Tatbestand nicht notwendigerweise als Zeichen ihrer Unwirksamkeit zu interpretieren. Blickt man in die Statistik der erreichten Verurteilungen, wie sie etwa aus dem Abschlussbericht der CICIG in Guatemala hervorgehen, so ist die Bilanz beeindruckend: 400 Verurteilungen; hinzu kommen die Aufdeckung von 60 kriminellen Netzwerken, die Ermittlungen in über 100 Fällen sowie 34 Gesetzesänderungen. Im Fall der MACCIH dagegen waren die Strategien von Parlament und Gerichten, die eigene Immunität gegenüber den Initiativen der Mission zu sichern, erfolgreich. Es gelang, eine größere Zahl möglicher Verurteilungen hinauszuzögern und durch Gesetzesinitiativen für Immunität der Parlamentarier zu verwässern. Allein man muss bedenken: Die Ziele der Sondermechanismen beziehen sich genauso auf den strukturellen Wandel in den Rechts- und Justizsystemen der jeweiligen Länder – und beide Systeme konnten sie durch entsprechende Gesetzesinitiativen und Stellungnahmen voranbringen. Die mittelfristige Wirksamkeit der Sondermechanismen, insbesondere innerhalb der Staatsanwaltschaften, wird sich indes erst in den kommenden Jahren prüfen lassen.
Als internationale Mechanismen, deren Mandate bei den VN, der OAS oder der IACHR angesiedelt sind, liegt das politische Gewicht von Rechtsstaatsmissionen in der internationalen Sichtbarkeit und in der Kompetenz, die sie mobilisieren können. Zentral ist jeweils die Aushandlung des Mandats, damit die Unabhängigkeit der Sondermechanismen gewahrt bleibt und diese möglichst geringer politischer Einflussnahme im Land unterliegen. Dass diese Mechanismen auf eine gemeinsame Initiative nationaler Regierungen und internationaler Organisationen angewiesen sind, ist sowohl Vorteil als auch Nachteil: Vorteil, insofern ihnen der Zugang zu und die Kooperation mit den nationalen Strafverfolgungsbehörden eröffnet wird, mitunter sogar der Zugang zu Gerichten und durch eigene Gesetzesinitiativen zu Entscheidungsprozessen; damit können sie Veränderungen in den nationalen Ermittlungsbehörden, Staatsanwaltschaften und Gerichten in Gang setzen. Nachteilig wirkt sich dies aus, wenn die angestrengten Ermittlungen bis in die Machtelite vordringen oder deren Interessen berührt werden. Dann schwinden die konsensualen Grundlagen des Handelns der Kommissionen schnell, es kommt zu Abwehrreaktionen, die die Existenz der Sondermechanismen selbst in Frage stellen. Das gilt umso mehr, wenn die Berufung der Kommissionen wahltaktischem Kalkül folgt wie in Ecuador und El Salvador. Blickt man auf diese beiden Länder, entsteht der Eindruck, die neuen Regierungen wollen die politisch motivierte Strafverfolgung ihrer Amtsvorgänger international »bemänteln«.
Der internationale Faktor ist zudem bedeutsam, um für den Fall, dass die Arbeit der Kommissionen behindert wird, die politischen Kosten möglichst hoch zu halten. Das gelingt aber nur, wenn die Unterstützung aus der internationalen Gemeinschaft bestehen bleibt. Ein Beispiel: Als die USA ihr Engagement in der Unterstützergruppe für die CICIG reduzierten, war dies ihrer weiteren Arbeit abträglich. Die jeweiligen Mandate der Sondermechanismen werden mit den nationalen Regierungen ausgehandelt und bedürfen mitunter auch der Zustimmung der Parlamente. Dadurch wird die Verlängerung des Mandats zu einer schwierigen politischen Operation, wenn Regierungen und Parlamentsmehrheiten durch Wahlen wechseln. Das Mandat der CICIG in Guatemala war recht weit gefasst, sie konnte frei entscheiden, welche Fälle sie untersuchen wollte, wohingegen ihr honduranisches Pendant MACCIH diesbezüglich nur ein eingeschränktes Mandat besaß. Die CICIG wurde 2006 vom guatemaltekischen Staat eingeladen und erhielt fünfmal ein Verlängerungsmandat, bis das letzte im September 2019 ausgelaufen ist.
Wesentlich bei der Arbeit der CICIG war darüber hinaus die Mobilisierung der Zivilgesellschaft, die sich geradezu zu einem Partner der Kommission entwickelte und deren Arbeit unterstützte – selbst gegen die jeweilige Regierung. Diese breite gesellschaftliche Verankerung, die über eine generelle Verurteilung von Korruption hinausgehen muss, ist freilich abhängig von der Mobilisierungsfähigkeit der jeweiligen Gesellschaft. Nicht umsonst haben Sondermechanismen wie die MACCIH sogenannte »observatorios sociales« angeregt. Diese betreiben Wissensmanagement, beispielsweise indem Lernerfahrungen aufgezeichnet werden, begleiten die Sondermechanismen strategisch und bauen bei zivilgesellschaftlichen Organisationen Netzwerke auf. Auf diese Weise sollen die Wirkungen der Sondermechanismen auch sozial abgesichert und auf eine breite Basis gestellt werden.
Ein weiteres Element für ein erfolgreiches Wirken der Kommissionen ist die Wahrung ihrer Unabhängigkeit. Gewährleistet wird diese durch das politische und finanzielle Engagement ihrer Unterstützer, letzteres in Form freiwilliger Beiträge einzelner Geber. Dass dabei durchaus erhebliche Summen gestemmt werden müssen, hat die finanzielle Ausstattung der mittelfristig angelegten Missionen CICIG mit ca. 15 Millionen US-Dollar / Jahr und MACCIH mit 9 Millionen US-Dollar / Jahr gezeigt. Kritisch ist die Rolle großer Geber und deren politisches Gewicht, etwa im Fall der CICIG die Rolle der USA in Zentralamerika. Mit dem Antritt der Regierung Trump ist diese Unterstützung zurückgegangen. In Honduras konnten die USA eine Verlängerung des Mandats der MACCIH selbst bei einem politisch geschwächten Präsidenten wie Juan Orlando Hernández nicht bewirken.
Allerdings trifft das Instrument der Sondermechanismen auch auf Widerstand: Generelle Ablehnung artikuliert sich in Kreisen, die sie als Beschädigung der nationalen Souveränität und als Ausgeliefertsein an internationale Organisationen betrachten. Obwohl das Muster »geteilter Souveränität« gerade die Aneignung des Handelns im nationalen Kontext erleichtern sollte, ist die Wahrnehmung der Kommissionen als »Intervention in innere Angelegenheiten« durch lokale Machtstrukturen immer mehr zu einem Hindernis geworden. Trotz nachweisbarer Erfolge von CICIG und MACCIH, was den Aufbau nationaler Kapazitäten durch Beratung und Begleitung anbetrifft, haben sich die Strukturen in den Behörden als sehr widerständig erwiesen, wenn es um externe Einflussnahme bei der Korruptionsbekämpfung geht. Dies schließt nicht aus, dass spektakuläre Fälle bis in die höchsten Ränge des Staates hinein ermittelt werden konnten – die Verurteilungen lassen indes noch immer auf sich warten. Fazit: Die Anklagebehörden konnten institutionell nachhaltig gestärkt werden, während das auf die Gerichtsinstanzen weniger zutrifft.
Perspektiven der Rechtsstaatsförderung
Mit ihrer Ressortgemeinsamen Strategie zur Rechtsstaatsförderung vom Juli 2019 hat die Bundesregierung die Rolle des Rechts und der Justiz bei Krisenprävention, Konfliktbewältigung und Friedensförderung anerkannt. Damit hat sie die Vorgaben von Ziel 16 der VN-Agenda 2030 aufgenommen, das gleichberechtigten Zugang zu Recht sowie den Aufbau effektiver, rechenschaftspflichtiger und inklusiver Institutionen in den Vordergrund rückt. In der Vergangenheit hat Deutschland das innovative Potential der international gestützten Sondermechanismen (Rechtsstaatsmissionen und Expertenkommissionen) finanziell gefördert, ferner durch die Entsendung von Fachkräften und durch politische Begleitung.
Die bisherigen Erfahrungen mit den Sondermechanismen unterstreichen die Bedeutung der jeweiligen kulturellen, politischen und institutionellen Kontexte, die für eine erfolgreiche Umsetzung der Ziele maßgeblich sind: Als erfolgskritisch hat sich zum einen die Unterstützung durch die Zivilgesellschaft herausgestellt. Trotz der Ausrichtung auf staatliche Strukturen sollten ihr von Beginn an Beteiligungsmöglichkeiten eingeräumt werden durch Eingaben, Mechanismen der Rechenschaftspflicht sowie zum Zweck des Erwartungsmanagements. Zum anderen haben die Erfahrungen der CICIG und der Expertengruppen (GIEIs) gezeigt, dass die Rolle der Medien für die Akzeptanz, aber auch die Durchsetzungsfähigkeit international gestützter Missionen ausschlaggebend ist.
Für die Strategien deutscher Rechtsstaatsförderung stellen die Rechtsstaatsmissionen und Expertenkommissionen weiterhin einen sinnvollen Baustein dar, auch wenn er sehr schwierig zu handhaben ist. Diese Mechanismen müssen intensiv durch die Diplomatie begleitet werden, auf der Grundlage enger Zusammenarbeit verschiedener Regierungen. Es gilt genau auszutarieren, wie tief die Mechanismen in nationale Ermittlungs- und Entscheidungsprozesse eingreifen, um souveränitätsschonend verfahren zu können. Rein technische Rechtsstaatsreformen vernachlässigen Fragen der praktischen Machtausübung und bleiben daher erfolglos. Die Bundesregierung sollte ihre Rechtsstaatsprogramme durch rigide Kontext- und Interessenanalysen politisch einbetten und mit diplomatischem Druck flankieren. Außerdem sollte sie ihre lokalen Partner diversifizieren, um dem einseitigen Missbrauch ihrer Programme vorzubeugen. Mit schnellen Ergebnissen sollte man dennoch nicht rechnen; nicht zuletzt sind die Wirkungsketten so lang, dass kein unmittelbarer Impact erwartet werden kann.
Wichtig ist, dass lokal variierende Rechtsstaatsbegriffe, schwache staatliche Strukturen und die enge Verflechtung wirtschaftlicher und politischer Interessen beachtet werden. Überdies müssen die Sondermechanismen mittelfristig und unabhängig angelegt sein, wenn sie hinreichende Durchschlagskraft entwickeln sollen. Ohne Einpassung in lokale Kontexte, Rechtstraditionen und institutionelle Formate sowie genaue Beobachtung der jeweiligen Machtrelationen wird es kaum möglich sein, erfolgreich vorzugehen gegen korrupte Seilschaften und ihre Strategien, Strafverfolgung zu vermeiden, wie auch gegen die Verletzung von Menschenrechten.
Prof. Dr. Günther Maihold ist Stellvertretender Direktor der SWP.
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doi: 10.18449/2020A09