Die NATO geht davon aus, dass die Defizite in den Afghanischen Nationalen Sicherheitskräften vor allem technischer Natur sind. Weil diese Annahme grundlegend falsch ist, ist ein Erfolg der Resolute Support Mission unwahrscheinlich.
Kurz gesagt, 20.01.2015 ForschungsgebieteDie NATO geht davon aus, dass die Defizite in den Afghanischen Nationalen Sicherheitskräften vor allem technischer Natur sind. Weil diese Annahme grundlegend falsch ist, ist ein Erfolg der Resolute Support Mission unwahrscheinlich. Eine Analyse von Philipp Münch
Anfang 2015 hat die neue Mission der NATO »Resolute Support« ihren Dienst in Afghanistan offiziell begonnen. Sie ist mit derzeit rund 13.000 Soldaten sehr viel kleiner als ihre Vorgängerin ISAF, die bis zu 132.000 Angehörige hatte. Anders als ISAF soll Resolute Support nicht selbst in Kämpfe eingreifen, sondern lediglich die Spitzen der Afghanischen Nationalen Sicherheitskräfte ausbilden, anleiten und unterstützen. Diesem Ansatz liegt die Annahme zugrunde, dass die Sicherheitskräfte im Großen und Ganzen bereits wie moderne Organisationen funktionieren. Als solche würde sich ihre Praxis weitgehend an ihrer formalen Struktur orientieren; ihre Vertreter würden zuvorderst das offizielle Organisationsziel verfolgen. Dies ist jedoch nicht der Fall. Resolute Support ist damit wenig erfolgversprechend.
Die Sicherheitskräfte sind von einer politischen Ökonomie geprägt, die sich auf insbesondere zwei Aspekte zuspitzen lässt: Zum einen bereichern sich ihre Verantwortlichen an den zur Verfügung stehenden Mitteln, zum anderen sind sie unmittelbar in das politische Patronagesystem Afghanistans eingebettet. Signifikante Teile des Führungspersonals aller Teile der Sicherheitskräfte, also der Afghanischen Nationalarmee, der Afghanischen Nationalpolizei und des Geheimdienstes, veruntreuen größere Mengen der von den internationalen Unterstützern bereitgestellten Versorgungsgüter und des sonstigen Materials. Auch bereichern sie sich an den ebenfalls von Gebern finanzierten Gehältern ihrer teilweise nur auf dem Papier existierenden Untergebenen. All dies belegen etwa die regelmäßigen Berichte des Rechnungsprüfers des US-amerikanischen Afghanistan-Engagements, des Special Investigator General for Afghanistan Reconstruction (SIGAR).
Insbesondere die Nationalpolizei kassiert oftmals – auf den untersten Ebenen auch wegen ihres geringen, teilweise noch von Vorgesetzten reduzierten Soldes – unrechtmäßig Gelder bei Straßenkontrollen. Hinzu kommen, mitunter auch durch den Geheimdienst, Schutzgelderpressungen oder sogar Entführungen. Die Soldaten der Nationalarmee hingegen sind offenbar seltener hieran beteiligt, was darauf zurückzuführen sein dürfte, dass sie durch ihren Dienst in stets von Aufständischen bedrohten Kasernen und Außenposten stärker von der Bevölkerung abgeschottet sind.
Vor allem das Führungspersonal ist in den Sicherheitskräften Teil eines den gesamten afghanischen Staatsapparat umfassenden Patronagesystems. Versuche der internationalen Geber, schon zu Beginn des afghanischen Staatsaufbaus einen leistungsorientierten Auswahlprozess bei der Vergabe von Posten durchzusetzen, waren bestenfalls teilweise erfolgreich. Auch wenn es häufiger professionelle Polizeioffiziere gibt als früher, so ist insbesondere die Stellenbesetzung bei der Nationalpolizei stark von den lokalen Machtverhältnissen abhängig. Posten können vielfach gekauft werden – eine Investition, die sich angesichts der unrechtmäßig kassierten Gelder bezahlt macht. Daneben vergeben einflussreiche Akteure Ämter in den Sicherheitskräften auch, um Unterstützernetzwerke aufzubauen. So sind Fraktionen entstanden, die um politischen Einfluss und den Zugriff auf Ressourcen konkurrieren.
Offenbar auch, weil das Ringen um politischen Einfluss und die persönliche Bereicherung den Ton angeben, sind größere Teile der Sicherheitskräfte nur noch wenig motiviert, gegen die Aufständischen zu kämpfen. Dies legen die immer zahlreicheren Berichte über informelle Waffenstillstände nahe, die etwa Verbände der Nationalarmee mit den Aufständischen schließen. Rund siebzig Prozent der Verluste in den Sicherheitskräften gehen zudem nicht auf Tote und Verwundete zurück, sondern auf freiwillige Abgänge wie Desertionen. So machen laut US Department of Defense Soldaten, die ihren Vertrag nicht verlängern, etwa ein Drittel der Verluste aus.
Auch die Verantwortlichen von Resolute Support haben zahlreiche Defizite bei den Sicherheitskräften erkannt. Diese sehen sie vor allem in den Bereichen Logistik, Rechenschaftslegung, Nachrichtenwesen und bei der Kooperation zwischen Nationalarmee, Nationalpolizei und Geheimdienst sowie einzelnen Verbänden. Sie gehen davon aus, dass man es zuallererst mit »technischen« Problemen zu tun hat, die in den mangelnden Fähigkeiten der Soldaten, Polizisten und Geheimdienstler begründet sind. Dem will man beikommen, indem die Führungsspitzen geschult und unterstützt werden. Ohne Zweifel gibt es hier Nachholbedarf. Allerdings wird mit der skizzierten politischen Ökonomie die Hauptursache der Probleme völlig vernachlässigt. So sind es etwa nicht in erster Linie Organisationsprobleme, die zu logistischen Problemen führen, sondern die Veruntreuung von Versorgungsgütern. Probleme im Nachrichtenwesen und bei der Kooperation im Allgemeinen gehen auf die Konkurrenz der Fraktionen in den Sicherheitskräften zurück. Ausbildung wird diese Probleme nicht beseitigen können.
Es ist somit nicht zu erwarten, dass Resolute Support mit dem jetzigen Mandat erfolgreich sein wird. Sinnvoller erschiene es, Kommandeure größerer bewaffneter Gruppen vor breitflächiger Gewalt im Maßstab der 1990er Jahre abzuschrecken, wie es die ISAF dreizehn Jahre lang überwiegend vermochte. Es wäre hingegen Aufgabe der afghanischen Staatsspitzen, gegenüber der Führung der Sicherheitskräfte durchzugreifen und insbesondere die Bereicherung zu sanktionieren. Die gegenwärtige Regierung der nationalen Einheit bietet hierfür allerdings ungünstige Bedingungen, denn ihre beiden Lager sind jeweils auf Unterstützung in allen staatlichen Institutionen angewiesen. Diese werden sie kaum gefährden wollen.
Dieses »Kurz gesagt« ist auch bei Handelsblatt.com, Zeit.de und Euractiv.de erschienen.
NATO´s New Mission versus the Political Economy of the Afghan National Security Forces