Der Europäische Rat hat Ende Juli keinen klaren Mechanismus für eine Koppelung von EU-Finanzzahlungen an den Respekt für die Grundwerte der Union gemäß Artikel 2 EU-Vertrag (EUV) vereinbart. Das Europäische Parlament (EP) verlangt mehrheitlich eine solche Konditionalisierung gegenüber einzelnen Mitgliedstaaten. Erst dann will es seine Zustimmung zum nächsten Mehrjährigen Finanzrahmen geben. Ein neuer gesamteuropäischer Bericht der Europäischen Kommission über die Rechtsstaatlichkeit, der diesen September vorgestellt werden soll, wird die Konfrontation mit Ungarn und Polen verschärfen. Eine langfristige Betrachtung der europäischen Politik in Sachen Rechtsstaatlichkeit relativiert zwar ein wenig die Sorge, dass unter deutscher Ratspräsidentschaft die letzte effektive Gelegenheit zum Handeln besteht. Allerdings wird das Vertagen der politischen Konflikte um die Kernwerte der Union immer kostenintensiver. Der EuGH und die Kommission können nicht allein als Hüter der Verträge agieren.
Die Lage der Rechtsstaatlichkeit in der EU bleibt durch die Corona-Pandemie angespannt. Im Fall einer erneuten Zuspitzung des Infektionsgeschehens im Herbst ist damit zu rechnen, dass in zahlreichen EU-Mitgliedstaaten weitere Einschränkungen der Bürgerrechte verhängt werden. Mindestens die Gewährleistung von Grundrechten für Drittstaatsangehörige und Asylsuchende steht in Zeiten von Grenzschließungen mehr denn je in Frage. Im Kontext der Finanzhilfen, die wegen der Covid-19-bedingten Wirtschaftskrise beschlossen wurden, ist zudem von einem Anstieg der Kriminalität und Korruption auszugehen.
Quer dazu geben die strukturellen Verhältnisse in einigen Mitgliedstaaten Anlass zur Sorge. In Bulgarien steht die Regierung wegen massiver Korruptionsvorwürfe seit Monaten stark unter Druck. Die politischen Eliten in Ländern wie Malta stehen im Verdacht, Kontakt mit Elementen des organisierten Verbrechens zu unterhalten.
Polen und Ungarn im Fokus
Vor allem aber spitzt sich die Debatte mit Polen und Ungarn über Rechtsstaatlichkeit weiter zu. Nach dem Abschluss der polnischen Präsidentschaftswahl im Juli ist in den kommenden Monaten zu erwarten, dass die PiS-Partei den Umbau des Justizsystems vollendet und die Möglichkeiten ihres Zugriffs auf die Medienlandschaft erweitert. Die amtierende Regierung hält sich jedenfalls offen, ob sie weitere Urteile und einstweilige Verfügungen des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zu ihren nationalen Justizreformen befolgen wird oder nicht. Das im Frühjahr ergangene Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Ankauf von Staatsanleihen in der Eurokrise (PSPP) konnte zwar durch Konsultationen zwischen dem Bundestag und der Europäischen Zentralbank (EZB) entschärft werden. Es bestärkte aber einige polnische Politiker in ihrer Argumentation, dass nationale Verfassungsgerichte einige Entscheide des EuGH zurückweisen können oder sogar sollten.
In Ungarn baut die Regierung derweil ihre Kontrolle über die öffentliche Debatte aus. Ende Juli fand ein Personalwechsel bei der kritischen Online-Plattform Index.hu statt, veranlasst durch den mutmaßlich mit Ministerpräsident Viktor Orbán-verbündeten Eigentümer des Medienunternehmens. Kurz darauf verabschiedete Ungarn eine Reform seiner nationalen Asylgesetzgebung, vordergründig um ein kritisches Urteil des EuGH zu sogenannten Transitzonen an seinen Außengrenzen umzusetzen. Tatsächlich vergrößert sich mit dem neuen Gesetz aber die Abweichung vom Gemeinsamen Europäischen Asylsystem und der Genfer Konvention. Im Gegenzug zur Beendigung der bislang haftähnlichen Bedingungen für Schutzsuchende soll es nun nur dann möglich sein, für ein Asylgesuch nach Ungarn einzureisen, wenn ein Vorantrag bei den ungarischen Botschaften in Kiew oder Belgrad bewilligt worden ist. Die Antwort der ungarischen Regierung auf ein weiteres Urteil des EuGH, welches das sogenannte Stop-Soros-Gesetz zur Registrierung und Beschränkung der Tätigkeiten von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) in Ungarn für widerrechtlich erklärte, steht aus. Die jüngste einsame Entscheidung Ungarns, seine Grenzen aufgrund eines schnellen Anstiegs an Corona-Infektionen mit Ausnahme derjenigen zu einigen Visegrád-Staaten zu schließen, verstärkte den Eindruck, dass sich Budapest von geltenden EU-Rechtsprinzipien (bspw. die Nicht-Diskriminierung) zunehmend abkoppelt.
Der lange Weg zu einer EU‑Rechtsstaatlichkeitspolitik
Demgegenüber steht die grundsätzliche Frage, welche Aufgaben und Mittel der EU beim Schutz des Rechtsstaatlichkeitsprinzips zukommen. Die Union lebt seit Jahrzehnten mit Mitgliedstaaten, die den Vorgaben der EU-Verträge nicht vollständig gerecht werden. Geopolitische Zwänge und die Leitidee, die Teilung des Kontinents überwinden zu wollen, haben seit den 1980er Jahren immer wieder den Ausschlag für eine Ausweitung der Gemeinschaft gegeben. Die daraus resultierenden Spannungen wurden 2007 im Rahmen der letzten Osterweiterung um Rumänien und Bulgarien besonders deutlich, als diese Staaten einem neuartigen sogenannten »Kooperations- und Verifikationsmechanismus« unterworfen wurden, der sich auf die Lage der Justiz und auf Korruptionsbekämpfung fokussiert. Bis heute verabschiedet die Europäische Kommission jedes Jahr Berichte zu diesen zwei Staaten, was aber nur wenige Auswirkungen hat.
Der 2007 verabschiedete Vertrag von Lissabon (EUV) untermauerte den Anspruch der Union, als »transformative Macht« für Liberalismus, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu wirken. Mit dem Inkrafttreten des EUV wurde die Europäische Grundrechtecharta rechtsverbindlich und in Artikel 7 EUV wurde ein politischer Mechanismus zur Verteidigung der Grundwerte der Union (gemäß Art. 2 EUV) ausgebaut. Damit sollte eine Lehre aus den frühen 2000er Jahren gezogen werden, als unkoordinierte Proteste einzelner Mitgliedstaaten gegen die erste offen rechtspopulistische Partei in einer Regierungskoalition, die FPÖ unter Jörg Haider, wirkungslos verrauchten. Gemäß Artikel 7 sollte der Rat nun in einem abgestuften Verfahren entscheiden, ob eine eindeutige Bedrohung der Grundwerte der Union vorliegt (Stufe 1, mit 4/5 Mehrheit) – oder ob aufgrund von »schwerwiegenden und anhaltenden Verletzungen« Sanktionen gegenüber einem Mitgliedstaat ausgesprochen werden sollten (Stufe 2, einstimmiger Beschluss im Europäischen Rat, anschließend mehrheitlicher Beschluss im Rat über konkrete Maßnahmen). Letzteres kann bis zum Entzug des Stimmrechts führen, was vielfach als »nukleare Option« bezeichnet wird.
Unabhängig von der Mutmaßung der Nicht-Anwendbarkeit solcher Sanktionen, die sich in diesem Begriff widerspiegelt, rückte die Debatte über die Rechtsstaatlichkeit in den folgenden Jahren in den Hintergrund. Um die Folgen der Wirtschafts- und Finanzkrise von 2008 zu bewältigen, wurden Verfahren der EU vielfach umgangen und teilweise einschneidend in nationale demokratische Systeme eingegriffen. Im Windschatten dieser Ausnahmesituation begann Viktor Orbán 2010 mit dem Umbau des ungarischen politischen Systems. Um seine Machtbasis abzusichern, ließ er unter anderem die Verfassung und das Wahlrecht zugunsten seiner Fidesz-Partei ändern. Die ersten Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn, die die Kommission wegen Änderung der Medienregulierung, wegen der Absenkung des Rentenalters von Richtern und Staatsanwälten und wegen Einschränkungen der Unabhängigkeit der Nationalbank und der Datenschutzbehörde einleitete, führten nur zu oberflächlichen Korrekturen. Die Kernprobleme, nämlich die drohende Umkehr des vor dem EU-Beitritt durchlaufenen demokratischen Transformationsprozesses (democratic backsliding) und die sich anbahnende Aushebelung der Gewaltenteilung, wurden in diesen Verfahren kaum offen thematisiert. Im Frühjahr 2014 präsentierte die Kommission jedoch einen »Rahmen zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips«. Kontinuierliche Dialoge mit und unter den Mitgliedstaaten sollten demnach ein gemeinsames Verständnis des je nach Land oft unterschiedlich aufgefassten Begriffs der Rechtsstaatlichkeit (bzw. der Rule of Law) schaffen. Ein Artikel-7-Verfahren sollte erst dann eröffnet werden, wenn ein mehrstufiger Prozess, in dem die Kommission Empfehlungen ausspricht, ergebnislos geblieben ist.
Im Sommer 2015 brachen zusätzlich schroffe Differenzen zwischen den Mitgliedstaaten über den angemessenen Umgang mit der sogenannten Flüchtlingskrise auf. Im November übernahm die polnische PiS die Alleinregierung in Warschau und setzte umgehend ein Programm um, das ähnlich wie in Ungarn auf eine umfassende national-konservative Transformation abzielte. In der Folgezeit bestritt die Gruppe der Visegrád-Staaten offen die Rechtmäßigkeit von EU-Krisen-Beschlüssen, die eine verpflichtende Aufnahme von Asylsuchenden beinhalteten. Der Anwendungsvorrang des EU-Rechts wurde grundsätzlich in Frage gestellt. Die Entscheidung der britischen Wähler für den Brexit verdeutlichte kurz darauf die Gefahr eines Auseinanderfallens der gesamten Union. Erst mit der Niederlage Marine Le Pens bei der französischen Präsidentschaftswahl im Frühjahr 2017 zeichnete sich eine Trendwende beim befürchteten Vormarsch des Rechtspopulismus ab.
Danach sahen sich die supranationalen EU-Institutionen darin bestärkt, wieder aktiver für die Einhaltung EU-rechtlicher Vorgaben einzutreten. Gegen Ungarn wurden neue Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet. Grund dafür war die Bedrohung der Zentraleuropäischen Universität in Budapest und der Tätigkeit zahlreicher NGOs durch eine politische Kampagne gegen den US-Milliardär und Philanthropen George Soros. Da die Kommission mit der PiS-Regierung kein Einvernehmen über die Reform der Verfassungsgerichtsbarkeit erzielen konnte, eröffnete sie Ende 2017 erstmals ein Artikel-7-Verfahren. 2018 folgte auf Betreiben des EP ein weiteres Artikel-7-Verfahren gegen Ungarn. Grundlage ist der Vorwurf, die Regierung Orbán unterminiere die Gewaltenteilung und den fairen demokratischen Wettbewerb.
Die Mitgliedstaaten zeigten jedoch mehrheitlich kein Interesse an dieser Verschärfung der Auseinandersetzung. Eine Abstimmung im Rat gemäß Artikel 7 erschien politisch zu kostenintensiv und wenig erfolgversprechend. Stattdessen setzte sich die Neigung durch, die Debatte über Rechtsstaatlichkeit möglichst zu de-politisieren und an supranationale Institutionen zu delegieren.
Deshalb präsentierte die EU-Kommission im Zuge der Vorarbeiten für den nächsten Mehrjährigen Finanzrahmen 2018 einen Gesetzesvorschlag, mit dem die Auszahlung von Finanzhilfen an eine systematische Bewertung der Rechtsstaatlichkeit geknüpft würde. Dieser Vorschlag, der nach dem allgemeinen Gesetzgebungsverfahren und mit qualifizierter Mehrheit verabschiedet werden sollte, wurde ein Jahr später mit Änderungen vom scheidenden EP angenommen und an den Rat überwiesen (SWP Comment 48/2019).
Parallel ging die Kommission dazu über, das Instrument der Vertragsverletzungsverfahren proaktiv zu nutzen. In weiteren Verfahren gegen Polen und Ungarn ging es nicht mehr um eine fehlerhafte Umsetzung einzelner EU-Rechtsakte, sondern insgesamt um den Vorrang von EU-Rechtsprinzipien und Grundwerten, der durch nationale Reformprozesse in Frage gestellt wurde. Anstelle mehrstufiger und langwieriger Dialogprozesse werden seither zügig Verfahren vor dem EuGH angestrengt – auch mit dem Mittel der einstweiligen Verfügung, wie im Fall der polnischen Justizreform.
Die besondere Rolle des EuGH
Der Europäische Gerichtshof hat seinerseits in den vergangenen fünf Jahren seine grundrechtliche Aufsicht deutlich erweitert. Er stützt sich dabei auf eine wachsende Zahl von Vorabentscheidungsverfahren zur Anwendbarkeit sensibler Rechtsakte im Bereich der EU-Justiz- und Innenpolitik. Oft geht es dabei um die Dublin-Verordnung und den Europäischen Haftbefehl. Die Praxis der asyl- und strafrechtlichen Zusammenarbeit gibt seit Jahren Grund für Zweifel, dass in allen EU-Mitgliedstaaten – auch jenseits der umstrittenen Entwicklungen in Ungarn und Polen – zentrale Werte und Rechte, wie die Menschenwürde oder das Recht auf ein faires Verfahren, hinreichend geschützt werden. Man spricht deshalb von einer Umkehrung der »Solange«-Doktrin des Bundesverfassungsgerichts, in dem Sinne, dass im Hinblick auf die Wahrung der essentiellen Grundrechte die EU-Ebene fortan nicht mehr im Zweifelsfall durch die nationalen Verfassungsgerichte kontrolliert werden sollte. Vielmehr wird der EuGH dafür mitverantwortlich, dass die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten nur so lange und so weit aufrechterhalten wird, wie diese ihrerseits rechtsstaatliche und liberale Werte effektiv garantieren. Die europäische Grundrechtecharta ist dabei in möglichst umfassendem Sinne anzuwenden (vgl. Art. 51).
Eine besonders weitreichende Auslegung ist die Argumentation des EuGH, dass Artikel 19(1) EUV und Artikel 47 Grundrechtecharta (Recht auf unabhängigen und effektiven Rechtsbehelf in Bereichen des Unionsrechts) eine Prüfung der allgemeinen Funktionsweise der nationalen Justiz erfordern kann. Dieser Ansatz spielt eine besonders wichtige Rolle bei der Auseinandersetzung über die polnischen Justizreformen, die auf nationalen Entscheidungen jenseits der expliziten Kompetenzen der EU beruhen. Ungeachtet der Stringenz der Schlussfolgerungen zu Artikel 19(1) besteht die Gefahr, dass der EuGH zunehmend als politischer Akteur mit eigenen Interessen der Kompetenzausweitung wahrgenommen wird. Kritische EU-Mitglieder können etwa darauf verweisen, dass nach Artikel 4(2) EUV und Artikel 72 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) die nationalen verfassungsmäßigen Strukturen und die nationale Verantwortung für die öffentliche Ordnung zu respektieren sind. Umgekehrt ergibt sich aber wiederum nach Artikel 4(3) EUV die Notwendigkeit eines Eingreifens aus Luxemburg, wenn Regierungen versuchen, nationale Richter und Justizbehörden an der Zusammenarbeit mit dem EuGH zu hindern. Insbesondere das Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 267 AEUV zur europarechtlich verbindlichen Klärung von Rechtsfragen ist unverzichtbar für das alltägliche Funktionieren der Union.
Der Europäische Rat zum Mehrjährigen Finanzrahmen
Vor dem Hintergrund dieser komplexen Vorgeschichte konnte der Europäische Rat vom 17. bis 21. Juli, der sich primär mit dem nächsten Mehrjährigen Finanzrahmen (MFR) und den kreditfinanzierten Sonderhilfen zur Abfederung der Corona-Krise befasste, keine Richtungsentscheidung zum weiteren Vorgehen in der Rechtsstaatlichkeitsthematik treffen. Ursprünglich sollte eine sogenannte Konditionalitätsregel, die EU-Zahlungen an Mitgliedstaaten einschränkt, wenn diese generelle Defizite in puncto Rechtsstaatlichkeit aufweisen, mit konkreten Bestimmungen auf den Weg gebracht werden. Stattdessen gab der Europäische Rat lediglich eine allgemeine Erklärung ab, dass ein solcher Mechanismus geschaffen werde und die finanziellen Interessen der Union im Einklang mit den Werten der Union gemäß Artikel 2 EUV zu schützen seien. Als einziges Detail wurde festgelegt, dass der Rat diesbezügliche Bewertungen der Kommission, die auf eine Beschränkung von Auszahlungen hinauslaufen, mit qualifizierter Mehrheit annehmen muss. Ursprünglich hatte die Kommission vorgeschlagen, dass ihre Ermessensentscheidungen nur mit einer qualifizierten Mehrheit der Mitgliedstaaten verhindert werden könnten.
Diese Umkehrung der Entscheidungsverfahren war bereits im Februar von Ratspräsident Charles Michel als Kompromissvorschlag ins Spiel gebracht worden. Vertreter des EP und externe Beobachter kritisierten daraufhin, dass die Konditionalisierungsbemühungen damit ins Leere laufen könnten. Staaten, denen Korruption und Misswirtschaft bei der Nutzung von EU-Mitteln vorgeworfen wird, könnten dann womöglich eine Blockademehrheit erreichen. Eine andere Lesart des Michel-Vorstoßes ist jedoch, dass die Mitgliedstaaten den Ermessensspielraum der EU-Kommission einhegen wollen. Schon jetzt gibt die Kommission beim Europäischen Semester zum Teil weitreichende Empfehlungen zu Fragen der innerstaatlichen Organisation ab. Für die Zukunft erwachsen ihr im Rahmen der Bewertung der nationalen Aufbau- und Resilienzpläne für die Vergabe der Corona-Sonderhilfen weitere Einflussmöglichkeiten (SWP-Studie 16/2020).
Entscheidend ist aber die Frage, ob der seit 2018 bestehende Kommissionsvorschlag für eine Koppelung von Auszahlungen von EU-Finanzmitteln an die Rechtsstaatlichkeit in den Empfängerländern grundsätzlich umgesetzt werden kann. In seiner Abschlusserklärung verspricht der Europäische Rat, dass er sich mit der Thematik erneut befassen wird. Kritiker sehen darin die Verfestigung der Tendenz, mit Hinweis auf den Zwang zur Einstimmigkeit weitere, bereits vorskizzierte Schritte zur Stärkung der Rechtsstaatlichkeit zurückzunehmen. Mindestens besteht das Risiko, dass im Zuge der weiteren Verhandlungen zwischen den Mitgliedstaaten das Zusammenspiel verschiedener Instrumente ausgehebelt wird. So erwähnte der ursprüngliche Entwurf des Gipfel-Kommuniqués etwa die Rolle des Rechnungshofs und des kommenden jährlichen Berichts zur Rechtsstaatlichkeit. Darin war auch die Rede von der Trennung der Verhandlungen über einen Mechanismus zur Konditionalisierung von Finanzzahlungen von anderen »in den Verträgen vorgesehenen Verfahren«. Diese Ausführungen wurden in den nächtlichen Verhandlungen des Gipfels nicht zufällig gestrichen. Unbestätigten Berichten zufolge forderte Viktor Orbán, dass zunächst die laufenden Artikel-7-Verfahren beendet werden müssten, bevor die Haushaltsverhandlungen zum Abschluss gebracht werden könnten.
Positiv anzumerken ist, dass der Europäische Rat die Kommission dennoch zu weiteren Anstrengungen bei der Bekämpfung von Betrug und Unregelmäßigkeiten unter Einschluss aller EU-Agenturen aufgefordert hat. Von besonderer Relevanz ist dabei die Europäische Staatsanwaltschaft (EUStA), die bis Jahresende ihre operative Arbeit zum Schutz der finanziellen Interessen der EU aufnehmen soll. Allerdings ist die Zusammenarbeit mit der EUStA nach Artikel 86 AEUV eine freiwillige Entscheidung, die bisher nur 22 Mitgliedstaaten getroffen haben. Neben Dänemark und Irland, die historisch eine Sonderrolle im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts spielen, sind Schweden, Polen und Ungarn nicht beigetreten. Schweden hat allerdings signalisiert, dass es seine Position ändern könnte. Deshalb erscheint es umso fragwürdiger, dass Polen und Ungarn von dieser Institution nicht erfasst werden. Beide Staaten sind die größten sogenannten Nettoempfänger von EU-Finanzhilfen. Mindestens im Hinblick auf Ungarn gibt es überzeugende Belege dafür, dass EU-Gelder veruntreut werden und dem persönlichen Netzwerk von Viktor Orbán zugutekommen.
Wachsende Spannungen bis zum Ende der deutschen Ratspräsidentschaft
Das Europäische Parlament nahm in ungewöhnlich scharfer Weise Stellung zu den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates. Die Leiter von vier Fraktionen, die für insgesamt 498 der 705 Abgeordneten sprechen, bekräftigten in einem Brief an die deutsche Ratspräsidentschaft und die Kommission, dass das Parlament nur dann seine Zustimmung zum nächsten Mehrjährigen Finanzrahmen geben werde, wenn der Konditionalitätsmechanismus zur Rechtsstaatlichkeit in der 2018 vorgeschlagenen Form verabschiedet wird.
Es ist derzeit offen, ob dies tatsächlich eine rote Linie des Parlaments darstellt oder ob letztlich das Interesse auch des EPs an der finanziellen Handlungsfähigkeit der Union und an schnellen Hilfen zur wirtschaftlichen Erholung nach Abflauen der Corona-Pandemie überwiegen wird. Für einen Kompromiss sprechen die Erfahrungen vergangener Finanzverhandlungen und die Tatsache, dass das EP noch andere politische Ziele verfolgt, etwa eine Erhöhung der Mittel für Zukunftsprojekte und die ökologische Transformation. Grundsätzlich ist die Möglichkeit einer gesamteuropäischen Verschuldung, die für die Corona-Hilfen neu eröffnet wurde, dem Parlament viel wert.
Der Raum für mehrdeutige und damit eher konsensfähige Vereinbarungen zur Rechtsstaatlichkeit wird dennoch immer kleiner. Seit Beginn dieser Legislaturperiode soll ein »strukturierter Dialog« mit der Zivilgesellschaft, allen EU-Institutionen, unter den Mitgliedstaaten und mit dem Europarat geführt werden, um eine gemeinsame »Kultur der Rechtsstaatlichkeit« zu schaffen. Kristallisationspunkt dieser Bemühungen ist ein neuer jährlicher Bericht zur Rechtsstaatlichkeit, den die Kommission im September 2020 erstmals vorstellen wird. Darin soll die Lage in den Mitgliedstaaten in vier Bereichen erfasst werden: 1.) Unabhängigkeit der Justiz, 2.) Gewaltenteilung und Demokratie, 3.) Medienpluralismus und 4.) Korruptionsbekämpfung.
Es wäre nicht zu vermitteln, wenn dieser EU-weite Bericht im Hinblick auf Ungarn und Polen von den nahezu einhelligen Einschätzungen von Rechtswissenschaftlern, praktizierenden Juristen, der Venedig-Kommission des Europarats, Vertretern der Zivilgesellschaft und des Innenausschusses (LIBE) des Europäischen Parlaments abweichen würde. Zwar weisen auch andere Mitgliedstaaten mindestens bei der Korruptionsbekämpfung substantielle Defizite auf. Sollte der neue Rechtsstaatlichkeitsbericht die Vorwürfe gegen Polen und Ungarn jedoch relativieren, weil das Zusammenspiel aller vier genannten Dimensionen nicht hinreichend berücksichtigt wird, würde die Idee einer breiten Rechtsstaatlichkeitskultur ad absurdum geführt.
Liefert der neue Bericht hingegen eine Dokumentation der systematischen Gefahren für das institutionelle und konstitutionelle Gefüge Polens und Ungarns, drängt sich die Frage nach handfesten Maßnahmen auf. Angesichts der Veto-Möglichkeiten, über die alle EU-Mitglieder im Europäischen Rat und bei der nationalen Ratifizierung des nächsten MFR und der Corona-Hilfen verfügen, wird der Rechtsstaatlichkeitsmechanismus bei EU-Zahlungen voraussichtlich angepasst werden. Ebenso ist eine einstimmige Entscheidung des Europäischen Rates für politische Sanktionen gemäß Artikel 7(2) aufgrund schwerwiegender Verstöße eines Mitgliedstaats gegen die Grundwerte der Union nach wie vor ausgeschlossen. Nicht nur Polen und Ungarn, sondern mindestens einige weitere Visegrád-Staaten würden an diesem Punkt blockieren. Unklar ist hingegen, ob eine Abstimmung nach Artikel 7(1), bei der der Rat mit vier Fünfteln der Stimmen eine eindeutige Gefährdung der Grundwerte feststellen kann, zum Scheitern verurteilt ist. Von der breiteren Faktenbasis, auf die sich der Bericht zur Rechtsstaatlichkeit stützen wird, könnte hier neuer Druck ausgehen.
Grundsätzliche politische Konfliktlinien
Spätestens 2021 werden weitere strategische Entscheidungen zur Rechtsstaatlichkeit fallen müssen, auch jenseits des derzeit besonders umstrittenen Konditionalitätsmechanismus. Die EU befindet sich auf diesem Feld immer noch in einem Lernprozess.
Ein politisches Lager tritt diesbezüglich für eine Fortführung von dialogbasierten Ansätzen ein. Es besteht nämlich nach wie vor ein starkes Interesse aller Mitgliedstaaten am europäischen Binnenmarkt – wie sich parallel an den Brexit-Verhandlungen zeigt. Somit ist keine fundamentale Blockade der EU zu erwarten, sondern eine stärker politisierte Auseinandersetzung über Themen, die bis vor wenigen Jahren noch weitgehend auf nationaler Ebene verhandelt wurden. Wenn sich die EU in Fragen der gesellschaftlichen Werte und nationalen Identität (vor allem bei den Themen Migration und Geschlechterpolitik) etwas zurücknimmt, könnte eine Deeskalation erreicht werden. Ohnehin ist es nicht realistisch oder legitim, durch Zwangsmaßnahmen von außen bzw. der europäischen Ebene einen Wandel in den Mitgliedstaaten zu erzwingen. Vielmehr ist damit zu rechnen, dass mit einem politischen Generationenwechsel der Liberalismus weiter Raum greifen und zu veränderten Mehrheits- und Machtverhältnissen führen wird. Dies zeigt sich bereits an den knappen Wahlausgängen in Polen, an der Formation einer vereinten Opposition in Ungarn und an den öffentlichen Protesten der letzten Monate in Rumänien, Malta und Bulgarien. Eine immer fragilere Weltordnung wirkt zusätzlich disziplinierend für den europäischen Zusammenhalt. Deshalb sollte die Rhetorik populistischer Kräfte, die dafür plädieren, die EU in eine nationalistische, illiberale Union der Vaterländer umzuformen, nicht überschätzt werden.
Aus der entgegengesetzten Perspektive bleibt die Gefahr einer Desintegration sehr real. Das Versprechen europäischer Populisten, den Liberalismus zurückzudrängen, ist Ausdruck tiefgreifender Prozesse des innergesellschaftlichen und internationalen Wandels. Die EU steht für eine vermeintlich überkommene multilaterale westliche Ordnung. Im Gegensatz zu den Mitgliedstaaten verfügt sie (noch) nicht über eine allgemeine Souveränität oder Machtmittel, um sich in der neuen Lage zu behaupten. Vielmehr begründet sie ihren Gestaltungsanspruch aus der Selbstbindung der Mitgliedstaaten an die europäischen Verträge. Entschlossenen Gegnern kann die Union schlecht Gegenwehr leisten. Sie war bislang noch nicht einmal imstande, ihre bedeutende finanzielle Unterstützung für hart europaskeptische Regierungen oder korrupte Eliten einzuschränken. Weitergehende politische Sanktionen wie der Entzug der Stimmrechte eines Mitgliedstaats sind offensichtlich noch weniger im Konsens durchzusetzen. Bestenfalls kann die Union, wie im Fall des Brexits, einen freiwilligen Austritt begleiten, während sie ohnehin kontinuierlich nationale Sonderregeln, die offene Nicht-Umsetzung von EU-Recht oder Opt-Outs hinnehmen muss. Parallel findet eine interne Abkoppelung statt: Junge, gut ausgebildete Bürger wandern in nordwesteuropäische Staaten ab und lassen zunehmend autoritäre, alternde Mitgliedstaaten »zweiter Klasse« hinter sich. Letztere lähmen die Union bei der Bewältigung der eigentlich dringenden strategischen Aufgaben (Außenpolitik, Nachhaltigkeit, Wettbewerbsfähigkeit). Insofern ist die Verteidigung der Rechtsstaatlichkeit in den Mitgliedstaaten tatsächlich prioritäre Aufgabe der Union, nicht zuletzt da sie eine Mitverantwortung an der aktuellen Situation auf nationaler Ebene hat.
Mögliche nächste Schritte
Zwischen diesen gegensätzlichen Perspektiven bleiben durchaus Handlungsoptionen. Zunächst sollte das Augenmerk in allen Mitgliedstaaten darauf gerichtet bleiben, Einschränkungen von Grundrechten im Dienste der Bekämpfung der Corona-Pandemie zu minimieren. Die Berichterstattung der Europäischen Grundrechteagentur ergänzt dabei den unter Federführung der Kommission erstellten Rechtsstaatlichkeitsbericht. Die Idee einer gemeinsamen europäischen Kultur der Rechtsstaatlichkeit sollte möglichst flächendeckend eingelöst werden, bevor sich die Debatte auf einzelne Staaten wie Ungarn versteift. Dies gilt insbesondere mit Blick auf die Situation von irregulären Zuwanderern an allen EU-Außengrenzen. Das ursprüngliche Ziel der deutschen Ratspräsidentschaft, den Beitritt der EU zur Europäischen Menschenrechtskonvention wieder aufzugreifen, sollte ebenso wenig vergessen werden.
Aus pragmatischer Sicht sollten die reduzierten Erklärungen des Europäischen Rates, mit denen er an einen stärkeren Einsatz bei der Korruptionsbekämpfung appelliert, mit Nachdruck beim Wort genommen werden. Die Europäische Staatsanwaltschaft sollte eine stabile Rückendeckung von möglichst vielen Mitgliedstaaten erhalten. Ergänzend sollte die Kommission darin bestärkt werden, ihren Ermessensspielraum bei der Mittelvergabe schon jetzt so weit wie möglich an die Einhaltung geltender Rechtsprinzipien, wie etwa die Nicht-Diskriminierung, zu knüpfen.
Änderungen beim Mechanismus zur Konditionalisierung von EU-Auszahlungen werden voraussichtlich akzeptiert werden müssen. Eine Einigung zu diesem Dossier sollte jedoch nicht um jeden Preis erfolgen und so weit wie möglich von den Verhandlungen über den MFR zeitlich entkoppelt werden. Es sollte das Ziel bleiben, die Vergabe europäischer Mittel an eine Gesamtbewertung der Rechtsstaatlichkeit und der Gewaltenteilung in einzelnen Mitgliedstaaten zu binden. Eine Engführung der Konditionalisierung auf »finanzielle Unregelmäßigkeiten« wäre nicht ausreichend.
Unabhängig davon sollten die Artikel-7-Verfahren gegen Polen und Ungarn nicht bis zum Ende der deutschen Ratspräsidentschaft abgeschlossen werden. 2021 muss vielmehr der Versuch unternommen werden, nach Artikel 7(1) über die Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der Grundwerte der Union abzustimmen. Eine unbestimmte Vertagung würde letztlich größere Schäden verursachen als eine unbequeme, aber zurechenbare politische Entscheidung des Rats.
Die Eröffnung weiterer Vertragsverletzungsverfahren vor dem EuGH kann diese kollektive Verantwortung der Mitgliedstaaten nicht ersetzen. Andernfalls wird es Kritikern zu einfach gemacht, den Konflikt in Sachen Rechtsstaatlichkeit als ein Problem übergriffiger supranationaler Institutionen darzustellen. Neben dem EuGH und der Kommission bezieht das Europäische Parlament zunehmend hart Position zur Lage in einzelnen Mitgliedstaaten. Letztlich können die EU-Institutionen aber nur auf die Einhaltung des EU-Rechts drängen. Eine allgemeine Bewertung der demokratischen Situation und Gewaltenteilung auf nationaler Ebene bedarf einer zusätzlichen politischen Legitimation.
Schließlich sollten EU-Rechtsakte in grundrechtlich sensiblen Bereichen wie der Justiz- und Innenpolitik mit mehr Vorbehalten versehen werden, um einer erhöhten Diversität der Wertvorstellungen unter den Mitgliedstaaten zu entsprechen. Dies gilt etwa für die Nutzung des Europäischen Haftbefehls. Abstufungen des EU-Rechts bis hin zu einer Neubelebung der flexiblen Integration sind so lange notwendig, bis innerstaatliche demokratische Veränderungsprozesse zu einem belastbareren Werte-Konsens unter allen Mitgliedstaaten führen.
Dr. Raphael Bossong ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe EU / Europa.
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doi: 10.18449/2020A72