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Putins »Wiederwahl«

Autoritäres Plebiszit ohne demokratische Legitimation

SWP-Aktuell 2024/A 15, 06.03.2024, 8 Seiten

doi:10.18449/2024A15

Forschungsgebiete

Die »Präsidentschaftswahl« 2024 ist so stark manipuliert wie keine andere Wahl in der postsowjetischen Geschichte Russlands. Der politische Kontext ist diktatorisch, die Usurpation der Macht durch das Regime umfassend. Es herrscht Kriegszensur. Politischer Wettbewerb wird nicht einmal simuliert. Der Tod Alexej Nawalnys hat die Atmosphäre der Angst, in der die Abstimmung stattfindet, verstärkt. Die »Wahl« ist ein autoritäres Plebiszit. Dennoch zeigten sich im Vorfeld regime- und kriegskritische Regungen in der Bevölkerung. Deutschland und Europa sollten klarstellen, dass diese Wahl nicht demokratisch ist und keine Legitimität besitzt. Wichtiger ist jedoch, den Kontakt zu kriegskritischen Menschen in Russland zu halten.

Am 17. März 2024 endet das wichtigste innenpolitische Projekt des russischen Regimes in den vergangenen zehn Jahren: die »Wiederwahl« Wladimir Putins zum Präsidenten. Putin lässt sich nicht nur zum fünften Mal im Amt bestätigen. Die kom­mende Amtsperiode wird – eigentlich verfassungswidrig – seine dritte in Folge sein. Auf diesen Moment hat der Kreml lange hingearbeitet. Nach den regime- und Putin-kritischen Massenprotesten im Win­ter 2011/12 stellte der russische Staat seine Politik in allen Bereichen auf autoritäre Stabilisierung um. Die untere Kammer des russischen Parlaments, die Staatsduma, ver­abschiedete eine lange Serie von Gesetzen, mit denen die politische Opposition und die unabhängige Zivilgesellschaft nach und nach ausgeschaltet wurden. Systematisch wurde das Instrumentarium zur Manipulation von Wahlen weiterentwickelt. Die Dumawahlen 2016 und 2021, die Präsidentschaftswahl 2018 sowie die lokalen und regionalen Wahlen der vergangenen Jahre sollten als Testläufe für die diesjährige »Prä­sidentschaftswahl« verstanden werden. Die staatlich kontrollierten Medien mutierten zu einem machtvollen Propagandainstrument, während unabhängiger Jour­nalismus aus dem Informationsraum verschwand. Das dominante Propagandanarrativ, das mit der Zeit zu einer Quasi-Ideologie heran­wuchs, ist eine Mischung von Ultrakonservatismus, Impe­rialismus, Anti­amerikanis­mus, Chauvinismus, Illiberalismus und Antifeminismus.

Nach 2014 nutzte das Regime die Annexion der Krim, um in weiten Teilen der Gesellschaft nationalistische Euphorie zu schüren. Dieses Hoch hielt jedoch nur bis 2018 – danach mussten die Repressionen ausgeweitet und die Propaganda­beschal­lung verstärkt werden, um den Staat gegen zunehmende Unzufriedenheit in der Bevöl­kerung abzuschirmen.

2020 ging Putin den entscheidenden Schritt und sicherte sich mit einer neuen Verfassung auch »rechtlich« die Fortsetzung seiner Herrschaft. Zwar enthält auch der neue Verfassungstext die Regel, dass zwei Amtszeiten nicht überschritten werden dürfen. Sie gilt explizit aber nicht für Per­sonen, die das Amt des Präsi­denten schon vor 2020 innehatten. Diese »Annul­lie­rung« seiner bisherigen Amts­perioden erlaubt es Putin, bis 2036 Staats­oberhaupt zu bleiben. Die Reform wurde unter zweifelhaften Bedingungen mitten in der ersten Phase der Corona-Pandemie durch­gepeitscht und in einem hochgradig mani­pulierten Referendum im Juli 2020 »bestä­tigt«.

Die Corona-Pandemie und die Demokratiebewegung im Nachbarland Belarus im August 2020 setzten in Russland eine dras­tische politische Radikalisierung in Gang. Sie erreichte ihren Höhepunkt mit dem Beginn des vollumfänglichen Krieges gegen die Ukraine im Februar 2022, der im Inne­ren Russlands einen weiteren Autokratisierungsschub auslöste. Russland ist heute eine Diktatur mit totalitären und faschistischen Tendenzen. Das zeigt auch die »Prä­sidentschaftswahl« 2024.

Wahlprozess und Institutionen

Die neue Verfassung schränkt den Kreis derer deutlich ein, die sich für die russische Präsidentschaft bewerben können. Kandi­dat:innen müssen nun statt zehn mindestens 25 Jahre ständig in Russland gelebt haben. Anders als vor 2020 dürfen sie weder eine zweite Staatsbürgerschaft noch das Aufenthaltsrecht in einem ande­ren Staat besitzen oder jemals besessen haben. Von dieser neuen Regelung aus­drücklich ausgenommen sind russische Bürger:innen, die »früher die Staatsbürgerschaft eines Staates innehatten, der – oder ein Teil dessen – in die Russische Födera­tion auf­genommen wurde«. Dieser Zusatz verweist auf die russisch besetzten ukrainischen Gebiete, könnte aber in Zukunft auch für andere Gebietseroberungen gelten.

Es gibt zwei Wege zur Kandidatur. Kandi­dat:innen, die von nicht in der Staatsduma vertretenen Parteien aufgestellt werden, müssen der Zentralen Wahlkommission (ZWK) 100.000 Unterschriften vor­legen, um zugelassen zu werden. Von diesen Unter­schriften dürfen nicht mehr als 2.500 aus je einer Region kommen. Par­tei­lose Kandidat:innen haben deutlich höhere Hürden zu überwinden. Sie müssen eine Initiativgruppe mit 500 »Vertrauenspersonen« des öffentlichen Lebens (dove­rennye liza) zu­sammenstellen, die bereit sind, ihre Kan­di­datur zu unterstützen. Sodann brau­chen sie 300.000 Unterschriften (maximal 7.500 pro Region), um von der ZWK regi­striert zu werden.

Wichtiger als die formalen Regeln ist aber die informelle Praxis des Wahlprozesses. Hier liegt die Kontrolle beim sogenannten innenpolitischen Block der Präsidialadministration, für den Sergej Kirijenko verantwortlich ist. Seit 2016 ist er stell­vertretender Leiter der Präsidialadministration. In den 1990er Jahren galt der heute 61-Jähri­ge als »liberaler Technokrat«. Nach Wladi­mir Putins Machtantritt machte er eine steile Karriere in unterschiedlichen staat­lichen Behörden. Mit der Auf­sicht über die Wahlen, die russischen Regio­nen und die annektierten ukrainischen Gebiete ver­eint er zentrale Aufgabenfelder auf sich und hält damit wichtige Macht­instrumente in seinen Händen. Der innen­politische Block kontrol­liert und instruiert die Füh­run­gen der russischen Regionen und stellt sicher, dass sowohl die Wahl­beteiligung als auch das Wahlergebnis die Zielvorgaben erreichen.

Die technische Umsetzung und den Ablauf des Wahlprozesses verantwortet die Zentrale Wahlkommission, seit 2016 unter der Leitung von Ella Pamfilowa (60). Auch sie hat eine »liberale Vergangenheit«. Seit 2016 organisiert, gewährleistet und recht­fertigt sie die Manipulation der Präsidentschafts- und Dumawahlen.

Für den Wahlprozess wurde eine Vielzahl von Kontrollinstrumenten geschaffen. Die Unterschriftenlisten sind zum wichtigsten Hebel geworden, um Kandidat:innen wegen »formaler Mängel« von der Wahl auszuschließen und so das Kandidatenfeld zu kontrollieren.

2020 wurde der Wahltermin von einem auf drei Tage ausgedehnt. Der längere Zeit­raum bietet vielfältige Möglichkeiten für Fälschungen an der Wahlurne, zum Bei­spiel deren Auffüllen mit manipulierten Stimmzetteln (ballot stuffing) sowie die Fälschung von Wahllisten oder Wahlbeteiligung.

Seit 2019 können Wähler:innen in immer mehr russischen Regio­nen elektronisch abstimmen. Bei der »Präsidentschaftswahl« 2024 wird diese Option in 29 Regionen zur Verfügung stehen, die insgesamt mehr als 47 Millionen Einwohner:innen zählen, ein Anteil von über 43 Prozent der Wahlberechtigten. So kön­nen Wahlvorgänge noch intransparenter gestaltet und Ergebnisse der analogen Wahl im Sinne des Regimes frisiert werden. Empfindlich eingeschränkt wurden der Zugang zu Videoaufnahmen aus Wahl­lokalen und andere Möglichkeiten, den Ablauf der Stimmabgabe zu überprüfen.

Der russische Staat hat unabhängige Wahlbeobachtung über die Jahre unmöglich gemacht. Die Präsidentschaftswahl 2018 war der letzte Wahlvorgang, der von der OSZE beobachtet wurde. Im Vorfeld der Dumawahl 2021 versuchte die russische Regierung, die Anzahl der OSZE-Beob­ach­ter:innen so stark zu reduzieren, dass eine professionelle Beobachtung nicht hätte stattfinden können. Daraufhin sah die OSZE von der Entsendung einer Mission ab. Derweil lädt Moskau immer mehr Ver­treter:innen russlandfreundlicher, meist rechts- oder linkspopulistischer Parteien aus EU-Mit­gliedstaaten zu Wahlen ein, darunter auch Politiker:innen der AfD und der Linken. Solche »Wahlbeobachter:innen« wurden – völkerrechtswidrig – auch auf der annektierten Krim eingesetzt. Ihre Akkla­mation, ebenso wie die der Wahl­beobachter:innen der Gemeinschaft Unab­hängiger Staaten (GUS), verkauft das Regime als Beleg für sauber durchgeführte demokratische Wahlen.

Zivilgesellschaftliche Wahlbeobachtung ist in Russland nicht mehr systematisch zu leisten. Die über viele Jahre hochprofessionell arbeiten­de zivilgesellschaftliche Orga­nisation Bewegung für das Wählerrecht – Golos (»Stimme«) wurde bereits 2013 zur »aus­ländischen Agentin« erklärt und 2016 vom Justizministerium liquidiert. Golos formier­te sich neu und betätigte sich fortan ohne Registrierung, sah sich aber stetig wachsenden Repressionen ausgesetzt. 2021 wurde die Organisation abermals als »aus­ländische Agentin« eingestuft. Viele ihrer Mitarbeitenden befinden sich seit 2022 im Exil. Im August 2023 wurde ihre wichtigste Füh­rungsfigur, Grigorij Mel­konjanz, in Moskau festgenommen. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm vor, mit einer »unerwünschten Organisation« zusammen­gearbeitet zu haben. Golos war unter ande­rem Mitglied der European Platform for Demo­cratic Elections (EPDE), beendete die Part­nerschaft jedoch, als die EPDE 2018 in Russland zur »unerwünschten Organisation« erklärt wurde. Die Einkerkerung von Grigorij Melkonjanz ist eine weitere Maß­nahme, um den Wahlprozess vollständig zu kontrollieren. Seine Untersuchungshaft dauert zunächst bis Mitte April. Es ist unwahrscheinlich, dass er in abseh­barer Zeit wieder auf freien Fuß kommt.

Die Kandidaten

Wladimir Putin tritt, wie bei allen Präsident­schaftswahlen seit 2000, als partei­unabhängiger Kandidat an. Das soll die besondere »Volksnähe« des Präsidenten belegen, der sich nicht hinter einer Partei verstecke, sondern die Samm­lung von Unterschriften für seine Bewerbung auf sich nehme. Die Partei der Macht, Einiges Russland, Anfang der 2000er Jahre gegrün­det, um parlamentarische Mehr­heiten zu organisieren und die Herrschaft des Regimes in den russischen Regionen abzu­sichern, »unterstützt« Putins Kandidatur lediglich. Seit zwei Jahrzehnten trägt die vordergründige Distanz zu Einiges Russland dazu bei, Putin das Image eines über den Niederungen der Politik schwebenden Füh­rers zu verleihen. In der Bevöl­kerung ist die Partei äußerst unbeliebt und dient so auch als Blitzableiter für Unzufriedenheit und Kritik.

Als unabhängiger Kandidat musste Putin eine Initiativgruppe zusammenstellen. Sie umfasst über 540 »Vertrauenspersonen« aus der Kulturszene, dem Showbusiness, den Medien, der Wissenschaft und anderem, dar­unter beispielsweise die Chefredakteurin des Propagandasenders RT, Margarita Simon­jan, oder der ultranationalistische Filmregisseur Nikita Michalkow. Auch Vertreter:innen staatlicher Behörden finden sich unter den Mitgliedern der Gruppe. Diverse staatliche Behörden werben außer­dem auf ihren Websites für Putins Kandi­datur. Die Nutzung solcher administrativer Ressourcen ist ein klarer Regelverstoß.

Putins Wahlkampfstab verkündete im Januar, über 2,5 Millionen Menschen hätten für seine Kandidatur unterschrieben. Davon wurden 315.000 Unterschriften der ZWK vorgelegt, die 60.000 davon stich­probenartig prüfte und für gültig befand. Beobachter:in­nen merkten an, es seien kaum öffentliche Aktivitäten zur Unterschriftensammlung für Putin sichtbar gewesen. Der Ver­dacht liegt nahe, dass auch hier massiv ad­ministrative Ressourcen eingesetzt wurden, etwa indem Behörden und Unternehmen ihre Mitarbeitenden bzw. Belegschaften kollektiv zur Unterschrift verpflichteten. Putins Kandidatur wurde am 29. Januar 2024 von der ZWK registriert.

Neben Putin wurden drei weitere Kandidaten zur Wahl zugelassen: Nikolaj Charito­now (75) von der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation (KPRF), Wladi­slaw Dawankow (39) von der Partei Neue Menschen und Leonid Sluzkij (56) von der sogenannten Liberal-Demokra­tischen Partei Russlands (LDPR). Insgesamt hatten 15 Per­sonen die Kandidatur bean­tragt. Im Jahr 2018 hatte es noch 36 Bewer­ber:innen gegeben, von denen neun zur Kan­didatur zugelassen wurden.

Der »Wahlkampf« 2024 kommt weitestgehend ohne politische Inhalte aus. Im vergangenen Jahrzehnt hat das Regime mit zunehmender Härte den politischen Wett­bewerb und pluralistische politische Debat­ten im öffentlichen Raum ausgelöscht. Es geht nun um die plebiszitäre Bestätigung der Herrschaft Putins. Wie schon bei der Vorbereitung der Kandidatur genießt dieser auch im Wahlkampf immense Vor­teile gegenüber den anderen Kandidaten. Er ist ununterbrochen in den staatlich kontrollierten Medien präsent. Westliche Medien deckten im Februar 2024 auf, dass der innenpolitische Block des Kreml mehrere Hundert Millionen Euro in die propagan­distische Begleitung von Putins Wiederwahl und die Sicherung seiner Herrschaft investiert.

Putins öffent­liche Auftritte sind unterschiedlichen The­men gewidmet. Bei seiner Pressekonferenz im Dezember 2023 und während des Gesprächs mit dem ameri­kanischen Enter­tainer und Trump-Vertrau­ten Tucker Carlson im Februar 2024 lag der Schwerpunkt auf dem Patriotismus und dem »Ver­teidigungskampf« Russlands gegen den kollektiven Westen – als narrativer Rahmen für die »militärische Spezialoperation« in der Ukraine. Zu anderen Gelegenheiten werden die ultrakonservativen »traditionellen Werte« im Hinblick auf Ehe und Familie, Erziehung oder Religiosität in den Vordergrund gerückt, die 2020 Ver­fassungsrang erhielten. Dazu passend wurde 2024 zum »Jahr der Familie« in Russ­land erklärt. Putin nutzt außerdem Treffen mit Unternehmer:innen und Besuche in Wirtschaftsbetrieben, um den Eindruck von wirtschaftlicher Dynamik, Prosperität und Normalität zu erwecken. In seiner Ansprache an die Föderalversamm­lung (poslanie) am 29. Februar 2024 brachte Putin alle Themen im Zeichen des Krieges zusammen. Er beschwor Russlands Ent­schlossenheit und Fähigkeit, seine Kriegsziele (den Sieg über den »Nazismus«) zu erreichen, und betonte zugleich, die gesamte Zukunft und Entwicklung des Landes hänge von der Standhaftigkeit der Kämpfer an der Front ab. Ein Wahl­programm sucht man derweil – auch auf seiner Wahlkampf-Website – vergeblich. Putins Wahlprogramm ist seine Person.

Die Kampagnen seiner »Konkurrenten« sind ähnlich inhaltsleer. Nikolaj Charito­now ist als Kandidat kaum unabhängig von der KPRF sichtbar. Er hat keinen eigenen Webauftritt für den Wahlkampf und steht für die nationalistisch-sozialistischen Inhalte der Partei. Leonid Sluz kij wirbt mit dem Erbe seines Vorgängers Wladimir Schi­rinowskij, der mit seinem Vulgärimpe­ria­lismus und Chauvinismus die russische Politik jahrzehntelang prägte. Der Haupt­slogan auf Sluzkijs Website lautet: »Die Sache Schirinowskijs lebt!« Auch hier findet sich kein Wahlprogramm. Wladislaw Dawan­kow von der Partei Neue Menschen ist der einzige Kandidat, der auf seiner Website Ansätze eines politischen Programms anbietet. Er fordert beispielsweise weniger staatliche Kontrolle der Wirtschaft und mehr gesellschaftliche Freiheiten. In der alles bestimmenden Frage der »militärischen Spezialoperation« befindet auch er sich auf der offiziellen Linie: Er will sich zwar »für Frieden und Verhandlungen« einsetzen, »aber zu unseren Bedingungen, und ohne Rückschritte«.

Für eine erfolgreiche Wahlsimulation ist aus der Perspektive des Regimes auch die Wahlbeteiligung von großer Bedeutung. Es gibt Hinweise darauf, dass der Kreml im Herbst 2023 versuchte, Gennadij Sjuganow (79, KPRF) und Alexej Netschajew (57, Neue Menschen) zur Kandidatur zu bewegen. Beide sind als Parteivorsitzende öffentlich sichtbarer als die nun erkorenen Kandi­daten Charitonow und Dawankow und hätten wahrscheinlich zum Wahltag mehr Menschen mobilisieren können. Cha­ri­to­now und Dawankow hingegen tauchten in einer offenen Umfrage des unabhängigen Lewada-Zentrums vom Dezember 2023 als mögliche Kandidaten nicht einmal auf. Leonid Sluzkij von der LDPR wiederum hat große Probleme, in die Fuß­stapfen seines 2022 an Covid-19 verstorbenen Vorgängers Wladimir Schirinowskij zu treten. Zwar steht er ihm an extremistischen und chau­vinistischen Positionen in nichts nach, erreicht aber bei weitem nicht dessen Breitenwirkung. Auch das schadet dem »Projekt Wahlbeteiligung«, weshalb die Präsidialadministration der Kam­pagne Sluzkijs laut Medienberichten Schützen­hilfe leistet. Eine Umfrage des staatsnahen Meinungsforschungsinstituts VCIOM sah Wladimir Putin am 15. Februar 2024 mit 79 Prozent weit vor Dawankow, Charito­now (je 4 Prozent) und Sluzkij (2 Prozent).

Kandidat:innen, die keine sein dürfen

Der wichtigste Konkurrent Wladimir Putins war Alexej Nawalny (47, verst.), der erfolg­reichste Oppositionspolitiker Russlands in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten. Nawalny spielte eine zentrale Rolle bei den Anti-Regime-Protesten im Winter 2011/12. 2013 landete er trotz massiver Manipulation bei den Bürgermeister­wahlen in Mos­kau überraschend auf Platz 2 hinter dem Amts­inhaber Sergej Sobjanin. Danach wurde er in einem politisch motivierten Korruptionsprozess zu einer Haftstrafe auf Bewährung verurteilt und damit seines passiven Wahlrechts beraubt. 2016 erreich­te Nawalny, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte dieses Urteil kas­sierte, und verkündete daraufhin seine Kandidatur zur Präsidentschaftswahl 2018. Er bekam viel Zu­spruch, vor allem bei jüngeren Menschen im ganzen Land. Es folgte der nächste Prozess wegen angeb­licher Kor­ruption, bei dem Nawalny 2017 zu fünf Jahren Haft auf Bewährung ver­urteilt wurde. Die ZWK nahm diese Vor­strafe zum Anlass, seine Kandidatur abzulehnen. Nawalny und seine Mitstreiter:innen führten ihren politischen Kampf anderweitig fort. Sie warben dafür, bei Wahlen gezielt Kandidaten der syste­mischen Opposition zu unterstützen, um die Partei der Macht, Einiges Russland, zu schwächen. Mit dieser Strategie der »klugen Abstimmung« (umnoe golosowanije) er­ran­gen sie vor allem bei Lokalwahlen immer wieder überraschende Erfolge. Nawalnys Stiftung setzte zudem ihre investigative Arbeit fort und deckte Korruptionsnetzwerke auf höchster staat­licher Ebene auf. Die Filme über die Ver­strickungen Dmitrij Medwedews (2017) und Wladimir Putins (2021) wurden millionenfach gesehen.

Nawalny überlebte im August 2020 nur knapp einen Giftmordanschlag. Im Januar 2021 wurde er in Moskau festgenommen und in mehreren Schauprozessen zu ins­gesamt 20 Jahren verschärfter Lagerhaft verurteilt. Aus der Gefangenschaft distan­zierte sich Nawalny immer wieder scharf vom Krieg gegen die Ukraine. Er ist am 16. Februar 2024 in der Haft ums Leben gekommen. Durch diesen politischen Mord auf Raten hat das Putin-Regime endgültig sichergestellt, dass sein schärfster Wider­sacher niemals zu einer Präsidentschaftswahl wird antreten können.

Im November 2023 kündigte die weit­gehend unbekannte Jekaterina Dunzowa (40), eine Journalistin und Lokalpolitikerin aus Rschew nordwestlich von Moskau, über­raschend ihre Präsidentschaftskandi­datur an. Sie forderte Demokratie, mehr Toleranz gegenüber LGBTIQ*-Menschen, eine öko­logischere und sozialere Politik. Vor allem aber trat sie mit offen kriegskritischen Positionen an die Öffentlichkeit. Während sie in den staatlich kontrollierten Medien kaum vorkam, berichteten die unabhängigen Exilmedien ausführlich über sie. Ihre Kampagne nahm auch in den sozialen Medien Fahrt auf. Dunzowa wurde immer wieder mit Swjatlana Zichanouskaja verglichen, die 2020 bei der belarussischen Präsidentschaftswahl angetreten war und diese mit an Sicherheit gren­zender Wahr­scheinlichkeit gegen Macht­haber Luka­schenka gewann. Sie wurde, gemeinsam mit Maryja Kalesnikawa und Weranika Zepkala, zur Kristallisationsfigur der bela­russischen Demokratiebewegung. Mög­licherweise veranlasste gerade dieser Ver­gleich das russische Regime, Jekaterina Dunzowa sofort aus dem Rennen zu neh­men, um einem russischen »Zicha­nouskaja-Effekt« vorzubeugen. Die Zentrale Wahlkommission entdeckte »schwere Feh­ler« in der Liste der Mitglieder von Dun­zowas Initiativ­gruppe und ver­weigerte ihr die Registrierung.

Etwas weiter kam Boris Nadeschdin (60), der für die liberale und bedeutungslose Partei Bürgerliche Initiative antrat. Nadesch­din ist schon seit den 1990er Jahren poli­tisch aktiv. Im liberalen Spektrum der außersystemischen Opposition wurde ihm häufig vorgeworfen, er habe sich vom Putin-Regime instrumentalisieren lassen, zum Beispiel bei seinen zahlreichen Auf­tritten in den Propaganda-Talkshows der staatlich kontrollierten Fernsehsender. Auch Nadeschdin übte Kritik an der »mili­tärischen Spezialoperation«, wenn auch wesentlich vorsichtiger als Dunzowa. Seine Unterschriftensammlung gewann – wiede­r­um völlig überraschend – im Januar 2024 erheblich an Schwung. Vielerorts bildeten sich lange Schlangen, weil Menschen trotz des hohen persönlichen Risikos seine Kan­di­da­tur unterstützen wollten. Nach und nach stellten sich andere Oppositionelle hinter ihn. Den Anfang machte Jekaterina Dun­zowa, nachdem ihre eige­ne Kandidatur ab­gelehnt worden war. Es folgten Oppositionelle in Exil oder Gefangenschaft, so Maxim Katz, Michail Chodorkowski und Alexej Nawalny. Nadeschdin sammelte bis Anfang Februar nach eigenen Angaben über 200.000 Unter­schriften, von denen er nach eingehender Prüfung die geforderten 100.000 einreichte. Wie nicht anders zu erwarten, stufte die ZWK 9.000 von ihnen als »formal nicht genügend« ein und beendete so seine Kan­didatur.

Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass Nadeschdins Kandidatur mit dem Kreml abgestimmt war. Für einen solchen Schritt wären unterschiedliche Motive denkbar: Die kontrollierte Zulassung eines liberalen Politikers könnte als Stimmungstest dienen. Seine Niederlage könnte die regime- und kriegskritischen Bevölkerungs­teile weiter demoralisieren und die »Legi­timität« des Regimes in den Augen der Mehrheit stärken. Wie schon häufig erlag der Kreml aber auch hier seiner eigenen Fehleinschätzung. Dunzowas und Nadeschdins Bewerbungen machten sichtbar, dass es in der Bevölkerung noch heute signifikantes Potential für eine Mobilisierung gegen den Krieg gibt. Das zeigen auch die Proteste von Ehefrauen russischer Sol­daten, die in der Ukraine kämpfen. Dun­zowa und Nadeschdin profitierten von den aus dem Exil arbeitenden unabhängigen russischen Medien. Während die staatlich kontrollierten Medien in Russland ihre Bewerbungen weitgehend ignorierten, berichteten die Nachrichtenwebsite Medusa, die Nowaja Gaseta, der Fernsehkanal TVRain und viele andere ausführlich. Die im Berli­ner Exil lebende Politologin und Publizistin Jekate­rina Schulman führte im Januar 2024 ein Interview mit Boris Nadesch­din, das auf Youtube über eine Million Mal aufgerufen wurde. Ohne die Berichterstattung der Exil­medien hätten die Bewerbungen von Jekaterina Dunzowa und Boris Nadesch­din ihre gesellschaftliche Wirkung kaum ent­falten können. Diese Medien boten eine Plattform für die kollektive Trauer um Alexej Nawalny, ohne die die Menschenmassen bei seiner Beerdigung am 1. März 2024 kaum denkbar gewesen wären. Der Trauerzug wurde rasch zu einer politischen Demonstration; die Menschen skandierten Slogans wie »Nein zum Krieg«, »Russland ohne Putin«, »Russland wird frei sein«.

Ende der Legitimität – was tun?

Russland galt in den 2010er Jahren als elektorale Autokratie mit kompetitiven Nischen, in denen die politische Opposition zumindest kleine Erfolge erzielen konnte. Diese waren zwar meist auf die lokale Ebene beschränkt. Aber bei der Präsidentschaftswahl 2018 traten mit Grigorij Jaw­linskij von der liberalen Partei Jabloko und Xenia Sobtschak immerhin noch zwei mehr oder weniger außersystemische Kandidat:innen an. 2024 ist auch von diesem kontrollierten Wett­bewerb nichts mehr übrig. Die »Wahl« ist ein autoritäres Plebiszit zur Bestätigung der Herrschaft Wladimir Putins. Das Ergebnis steht fest: Putin wird im Amt bestätigt werden – wahrscheinlich mit einem Ergebnis, das über dem von 2018 (77 Prozent) liegt.

Dieses Plebiszit wird vor dem Hintergrund des völkerrechtswidrigen Angriffskriegs gegen die Ukraine abgehalten. Putin trägt die Verantwortung für diesen Krieg und die mit ihm verbundenen Verbrechen. Der Internationale Strafgerichtshof hat im März 2023 wegen der massenhaften Depor­tation von Kindern aus den besetzten ukra­inischen Gebieten Haftbefehl gegen den russischen Staatschef erlassen.

Die »Abstimmung« wird auch in den von Russland besetzten ukrainischen Gebieten stattfinden. Das ist nichts Neues – Russ­land führt seit 2014 Wahlen auf der besetz­ten Krim durch. Im russischen Parlament (Staatsduma und Föderationsrat) sitzen seitdem illegitime Vertreter:innen der Krim. 2024 betrifft dieser völkerrechtswidrige Vorgang fünf ukrainische Regionen mit einer Vorkriegsbevölkerung von etwa zehn Millionen Menschen.

Es gibt also eine Vielzahl von Gründen, die Legitimität der russischen Präsidentschaftswahl 2024 zu bestreiten. Entsprechende Forderungen kommen von der russischen Exilopposition, von der Parla­mentarischen Versammlung des Europarats, aus dem Europäischen Parla­ment und auch aus der Ukraine. Einen solchen Schritt vollzog die EU nach der belarussischen Präsidentschaftswahl 2020, als sie die Herrschaft Lukaschenkas für illegitim erklärte. Die innenpolitische Situation in Russland unterscheidet sich in zwei Punk­ten von der in Belarus: Zum einen gibt es keine Alter­nativkandidat:innen, deren Wahlsieg durch Fälschungen ver­hindert werden wird. Zum anderen muss davon ausgegangen werden, dass anders als in Belarus 2020 eine Mehrheit der russischen Bevölkerung den Präsidenten weiterhin unterstützt.

Wladimir Putin steht seit 2022 unter west­lichen Sanktionen. Es gibt kaum noch direkten Kontakt zwischen ihm und west­lichen Staatsspitzen. Deutschland und die EU sollten eindeutig zum autoritären und illegitimen Charakter des Ple­biszits Mitte März 2024 Stellung beziehen. Das ist ein wichtiges Signal an kriegs- und regimekritische Russ:innen im Land und außer­halb. Die EU sollte weitere Akteur:innen auf ihre Sanktionsliste setzen, die an der Durch­führung der »Wahl« beteiligt sind. Aller­dings wird sich dadurch kurzfristig weder das Verhältnis zum russischen Macht­haber oder der Um­gang mit ihm ändern, noch werden die innen­politischen Verhältnisse in Russland in Bewegung geraten. Wichtiger scheint deshalb, auf die kriegs­kritischen und demokratischen Regun­gen im Vorfeld der Wahlen zu reagieren. Das bedeutet, die demokratische russische Opposition, die unabhängige Zivilgesellschaft und unab­hängige Medien (soweit möglich) im Land und besonders im Exil nach Kräften zu unterstützen und dafür Sorge zu tragen, dass sie auch weiter­hin andersdenkende Menschen in Russland erreichen. Politischer Wandel in Russland bleibt jedoch hochgradig unwahrscheinlich, solange das Putin-Regime seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine mit Aussicht auf Erfolg weiter­führen kann. Daran wird sich auch nach dem autoritären Plebiszit vom 17. März 2024 nichts ändern.

Dr. Sabine Fischer ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien.

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