Die »Präsidentschaftswahl« 2024 ist so stark manipuliert wie keine andere Wahl in der postsowjetischen Geschichte Russlands. Der politische Kontext ist diktatorisch, die Usurpation der Macht durch das Regime umfassend. Es herrscht Kriegszensur. Politischer Wettbewerb wird nicht einmal simuliert. Der Tod Alexej Nawalnys hat die Atmosphäre der Angst, in der die Abstimmung stattfindet, verstärkt. Die »Wahl« ist ein autoritäres Plebiszit. Dennoch zeigten sich im Vorfeld regime- und kriegskritische Regungen in der Bevölkerung. Deutschland und Europa sollten klarstellen, dass diese Wahl nicht demokratisch ist und keine Legitimität besitzt. Wichtiger ist jedoch, den Kontakt zu kriegskritischen Menschen in Russland zu halten.
Am 17. März 2024 endet das wichtigste innenpolitische Projekt des russischen Regimes in den vergangenen zehn Jahren: die »Wiederwahl« Wladimir Putins zum Präsidenten. Putin lässt sich nicht nur zum fünften Mal im Amt bestätigen. Die kommende Amtsperiode wird – eigentlich verfassungswidrig – seine dritte in Folge sein. Auf diesen Moment hat der Kreml lange hingearbeitet. Nach den regime- und Putin-kritischen Massenprotesten im Winter 2011/12 stellte der russische Staat seine Politik in allen Bereichen auf autoritäre Stabilisierung um. Die untere Kammer des russischen Parlaments, die Staatsduma, verabschiedete eine lange Serie von Gesetzen, mit denen die politische Opposition und die unabhängige Zivilgesellschaft nach und nach ausgeschaltet wurden. Systematisch wurde das Instrumentarium zur Manipulation von Wahlen weiterentwickelt. Die Dumawahlen 2016 und 2021, die Präsidentschaftswahl 2018 sowie die lokalen und regionalen Wahlen der vergangenen Jahre sollten als Testläufe für die diesjährige »Präsidentschaftswahl« verstanden werden. Die staatlich kontrollierten Medien mutierten zu einem machtvollen Propagandainstrument, während unabhängiger Journalismus aus dem Informationsraum verschwand. Das dominante Propagandanarrativ, das mit der Zeit zu einer Quasi-Ideologie heranwuchs, ist eine Mischung von Ultrakonservatismus, Imperialismus, Antiamerikanismus, Chauvinismus, Illiberalismus und Antifeminismus.
Nach 2014 nutzte das Regime die Annexion der Krim, um in weiten Teilen der Gesellschaft nationalistische Euphorie zu schüren. Dieses Hoch hielt jedoch nur bis 2018 – danach mussten die Repressionen ausgeweitet und die Propagandabeschallung verstärkt werden, um den Staat gegen zunehmende Unzufriedenheit in der Bevölkerung abzuschirmen.
2020 ging Putin den entscheidenden Schritt und sicherte sich mit einer neuen Verfassung auch »rechtlich« die Fortsetzung seiner Herrschaft. Zwar enthält auch der neue Verfassungstext die Regel, dass zwei Amtszeiten nicht überschritten werden dürfen. Sie gilt explizit aber nicht für Personen, die das Amt des Präsidenten schon vor 2020 innehatten. Diese »Annullierung« seiner bisherigen Amtsperioden erlaubt es Putin, bis 2036 Staatsoberhaupt zu bleiben. Die Reform wurde unter zweifelhaften Bedingungen mitten in der ersten Phase der Corona-Pandemie durchgepeitscht und in einem hochgradig manipulierten Referendum im Juli 2020 »bestätigt«.
Die Corona-Pandemie und die Demokratiebewegung im Nachbarland Belarus im August 2020 setzten in Russland eine drastische politische Radikalisierung in Gang. Sie erreichte ihren Höhepunkt mit dem Beginn des vollumfänglichen Krieges gegen die Ukraine im Februar 2022, der im Inneren Russlands einen weiteren Autokratisierungsschub auslöste. Russland ist heute eine Diktatur mit totalitären und faschistischen Tendenzen. Das zeigt auch die »Präsidentschaftswahl« 2024.
Wahlprozess und Institutionen
Die neue Verfassung schränkt den Kreis derer deutlich ein, die sich für die russische Präsidentschaft bewerben können. Kandidat:innen müssen nun statt zehn mindestens 25 Jahre ständig in Russland gelebt haben. Anders als vor 2020 dürfen sie weder eine zweite Staatsbürgerschaft noch das Aufenthaltsrecht in einem anderen Staat besitzen oder jemals besessen haben. Von dieser neuen Regelung ausdrücklich ausgenommen sind russische Bürger:innen, die »früher die Staatsbürgerschaft eines Staates innehatten, der – oder ein Teil dessen – in die Russische Föderation aufgenommen wurde«. Dieser Zusatz verweist auf die russisch besetzten ukrainischen Gebiete, könnte aber in Zukunft auch für andere Gebietseroberungen gelten.
Es gibt zwei Wege zur Kandidatur. Kandidat:innen, die von nicht in der Staatsduma vertretenen Parteien aufgestellt werden, müssen der Zentralen Wahlkommission (ZWK) 100.000 Unterschriften vorlegen, um zugelassen zu werden. Von diesen Unterschriften dürfen nicht mehr als 2.500 aus je einer Region kommen. Parteilose Kandidat:innen haben deutlich höhere Hürden zu überwinden. Sie müssen eine Initiativgruppe mit 500 »Vertrauenspersonen« des öffentlichen Lebens (doverennye liza) zusammenstellen, die bereit sind, ihre Kandidatur zu unterstützen. Sodann brauchen sie 300.000 Unterschriften (maximal 7.500 pro Region), um von der ZWK registriert zu werden.
Wichtiger als die formalen Regeln ist aber die informelle Praxis des Wahlprozesses. Hier liegt die Kontrolle beim sogenannten innenpolitischen Block der Präsidialadministration, für den Sergej Kirijenko verantwortlich ist. Seit 2016 ist er stellvertretender Leiter der Präsidialadministration. In den 1990er Jahren galt der heute 61-Jährige als »liberaler Technokrat«. Nach Wladimir Putins Machtantritt machte er eine steile Karriere in unterschiedlichen staatlichen Behörden. Mit der Aufsicht über die Wahlen, die russischen Regionen und die annektierten ukrainischen Gebiete vereint er zentrale Aufgabenfelder auf sich und hält damit wichtige Machtinstrumente in seinen Händen. Der innenpolitische Block kontrolliert und instruiert die Führungen der russischen Regionen und stellt sicher, dass sowohl die Wahlbeteiligung als auch das Wahlergebnis die Zielvorgaben erreichen.
Die technische Umsetzung und den Ablauf des Wahlprozesses verantwortet die Zentrale Wahlkommission, seit 2016 unter der Leitung von Ella Pamfilowa (60). Auch sie hat eine »liberale Vergangenheit«. Seit 2016 organisiert, gewährleistet und rechtfertigt sie die Manipulation der Präsidentschafts- und Dumawahlen.
Für den Wahlprozess wurde eine Vielzahl von Kontrollinstrumenten geschaffen. Die Unterschriftenlisten sind zum wichtigsten Hebel geworden, um Kandidat:innen wegen »formaler Mängel« von der Wahl auszuschließen und so das Kandidatenfeld zu kontrollieren.
2020 wurde der Wahltermin von einem auf drei Tage ausgedehnt. Der längere Zeitraum bietet vielfältige Möglichkeiten für Fälschungen an der Wahlurne, zum Beispiel deren Auffüllen mit manipulierten Stimmzetteln (ballot stuffing) sowie die Fälschung von Wahllisten oder Wahlbeteiligung.
Seit 2019 können Wähler:innen in immer mehr russischen Regionen elektronisch abstimmen. Bei der »Präsidentschaftswahl« 2024 wird diese Option in 29 Regionen zur Verfügung stehen, die insgesamt mehr als 47 Millionen Einwohner:innen zählen, ein Anteil von über 43 Prozent der Wahlberechtigten. So können Wahlvorgänge noch intransparenter gestaltet und Ergebnisse der analogen Wahl im Sinne des Regimes frisiert werden. Empfindlich eingeschränkt wurden der Zugang zu Videoaufnahmen aus Wahllokalen und andere Möglichkeiten, den Ablauf der Stimmabgabe zu überprüfen.
Der russische Staat hat unabhängige Wahlbeobachtung über die Jahre unmöglich gemacht. Die Präsidentschaftswahl 2018 war der letzte Wahlvorgang, der von der OSZE beobachtet wurde. Im Vorfeld der Dumawahl 2021 versuchte die russische Regierung, die Anzahl der OSZE-Beobachter:innen so stark zu reduzieren, dass eine professionelle Beobachtung nicht hätte stattfinden können. Daraufhin sah die OSZE von der Entsendung einer Mission ab. Derweil lädt Moskau immer mehr Vertreter:innen russlandfreundlicher, meist rechts- oder linkspopulistischer Parteien aus EU-Mitgliedstaaten zu Wahlen ein, darunter auch Politiker:innen der AfD und der Linken. Solche »Wahlbeobachter:innen« wurden – völkerrechtswidrig – auch auf der annektierten Krim eingesetzt. Ihre Akklamation, ebenso wie die der Wahlbeobachter:innen der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS), verkauft das Regime als Beleg für sauber durchgeführte demokratische Wahlen.
Zivilgesellschaftliche Wahlbeobachtung ist in Russland nicht mehr systematisch zu leisten. Die über viele Jahre hochprofessionell arbeitende zivilgesellschaftliche Organisation Bewegung für das Wählerrecht – Golos (»Stimme«) wurde bereits 2013 zur »ausländischen Agentin« erklärt und 2016 vom Justizministerium liquidiert. Golos formierte sich neu und betätigte sich fortan ohne Registrierung, sah sich aber stetig wachsenden Repressionen ausgesetzt. 2021 wurde die Organisation abermals als »ausländische Agentin« eingestuft. Viele ihrer Mitarbeitenden befinden sich seit 2022 im Exil. Im August 2023 wurde ihre wichtigste Führungsfigur, Grigorij Melkonjanz, in Moskau festgenommen. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm vor, mit einer »unerwünschten Organisation« zusammengearbeitet zu haben. Golos war unter anderem Mitglied der European Platform for Democratic Elections (EPDE), beendete die Partnerschaft jedoch, als die EPDE 2018 in Russland zur »unerwünschten Organisation« erklärt wurde. Die Einkerkerung von Grigorij Melkonjanz ist eine weitere Maßnahme, um den Wahlprozess vollständig zu kontrollieren. Seine Untersuchungshaft dauert zunächst bis Mitte April. Es ist unwahrscheinlich, dass er in absehbarer Zeit wieder auf freien Fuß kommt.
Die Kandidaten
Wladimir Putin tritt, wie bei allen Präsidentschaftswahlen seit 2000, als parteiunabhängiger Kandidat an. Das soll die besondere »Volksnähe« des Präsidenten belegen, der sich nicht hinter einer Partei verstecke, sondern die Sammlung von Unterschriften für seine Bewerbung auf sich nehme. Die Partei der Macht, Einiges Russland, Anfang der 2000er Jahre gegründet, um parlamentarische Mehrheiten zu organisieren und die Herrschaft des Regimes in den russischen Regionen abzusichern, »unterstützt« Putins Kandidatur lediglich. Seit zwei Jahrzehnten trägt die vordergründige Distanz zu Einiges Russland dazu bei, Putin das Image eines über den Niederungen der Politik schwebenden Führers zu verleihen. In der Bevölkerung ist die Partei äußerst unbeliebt und dient so auch als Blitzableiter für Unzufriedenheit und Kritik.
Als unabhängiger Kandidat musste Putin eine Initiativgruppe zusammenstellen. Sie umfasst über 540 »Vertrauenspersonen« aus der Kulturszene, dem Showbusiness, den Medien, der Wissenschaft und anderem, darunter beispielsweise die Chefredakteurin des Propagandasenders RT, Margarita Simonjan, oder der ultranationalistische Filmregisseur Nikita Michalkow. Auch Vertreter:innen staatlicher Behörden finden sich unter den Mitgliedern der Gruppe. Diverse staatliche Behörden werben außerdem auf ihren Websites für Putins Kandidatur. Die Nutzung solcher administrativer Ressourcen ist ein klarer Regelverstoß.
Putins Wahlkampfstab verkündete im Januar, über 2,5 Millionen Menschen hätten für seine Kandidatur unterschrieben. Davon wurden 315.000 Unterschriften der ZWK vorgelegt, die 60.000 davon stichprobenartig prüfte und für gültig befand. Beobachter:innen merkten an, es seien kaum öffentliche Aktivitäten zur Unterschriftensammlung für Putin sichtbar gewesen. Der Verdacht liegt nahe, dass auch hier massiv administrative Ressourcen eingesetzt wurden, etwa indem Behörden und Unternehmen ihre Mitarbeitenden bzw. Belegschaften kollektiv zur Unterschrift verpflichteten. Putins Kandidatur wurde am 29. Januar 2024 von der ZWK registriert.
Neben Putin wurden drei weitere Kandidaten zur Wahl zugelassen: Nikolaj Charitonow (75) von der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation (KPRF), Wladislaw Dawankow (39) von der Partei Neue Menschen und Leonid Sluzkij (56) von der sogenannten Liberal-Demokratischen Partei Russlands (LDPR). Insgesamt hatten 15 Personen die Kandidatur beantragt. Im Jahr 2018 hatte es noch 36 Bewerber:innen gegeben, von denen neun zur Kandidatur zugelassen wurden.
Der »Wahlkampf« 2024 kommt weitestgehend ohne politische Inhalte aus. Im vergangenen Jahrzehnt hat das Regime mit zunehmender Härte den politischen Wettbewerb und pluralistische politische Debatten im öffentlichen Raum ausgelöscht. Es geht nun um die plebiszitäre Bestätigung der Herrschaft Putins. Wie schon bei der Vorbereitung der Kandidatur genießt dieser auch im Wahlkampf immense Vorteile gegenüber den anderen Kandidaten. Er ist ununterbrochen in den staatlich kontrollierten Medien präsent. Westliche Medien deckten im Februar 2024 auf, dass der innenpolitische Block des Kreml mehrere Hundert Millionen Euro in die propagandistische Begleitung von Putins Wiederwahl und die Sicherung seiner Herrschaft investiert.
Putins öffentliche Auftritte sind unterschiedlichen Themen gewidmet. Bei seiner Pressekonferenz im Dezember 2023 und während des Gesprächs mit dem amerikanischen Entertainer und Trump-Vertrauten Tucker Carlson im Februar 2024 lag der Schwerpunkt auf dem Patriotismus und dem »Verteidigungskampf« Russlands gegen den kollektiven Westen – als narrativer Rahmen für die »militärische Spezialoperation« in der Ukraine. Zu anderen Gelegenheiten werden die ultrakonservativen »traditionellen Werte« im Hinblick auf Ehe und Familie, Erziehung oder Religiosität in den Vordergrund gerückt, die 2020 Verfassungsrang erhielten. Dazu passend wurde 2024 zum »Jahr der Familie« in Russland erklärt. Putin nutzt außerdem Treffen mit Unternehmer:innen und Besuche in Wirtschaftsbetrieben, um den Eindruck von wirtschaftlicher Dynamik, Prosperität und Normalität zu erwecken. In seiner Ansprache an die Föderalversammlung (poslanie) am 29. Februar 2024 brachte Putin alle Themen im Zeichen des Krieges zusammen. Er beschwor Russlands Entschlossenheit und Fähigkeit, seine Kriegsziele (den Sieg über den »Nazismus«) zu erreichen, und betonte zugleich, die gesamte Zukunft und Entwicklung des Landes hänge von der Standhaftigkeit der Kämpfer an der Front ab. Ein Wahlprogramm sucht man derweil – auch auf seiner Wahlkampf-Website – vergeblich. Putins Wahlprogramm ist seine Person.
Die Kampagnen seiner »Konkurrenten« sind ähnlich inhaltsleer. Nikolaj Charitonow ist als Kandidat kaum unabhängig von der KPRF sichtbar. Er hat keinen eigenen Webauftritt für den Wahlkampf und steht für die nationalistisch-sozialistischen Inhalte der Partei. Leonid Sluz kij wirbt mit dem Erbe seines Vorgängers Wladimir Schirinowskij, der mit seinem Vulgärimperialismus und Chauvinismus die russische Politik jahrzehntelang prägte. Der Hauptslogan auf Sluzkijs Website lautet: »Die Sache Schirinowskijs lebt!« Auch hier findet sich kein Wahlprogramm. Wladislaw Dawankow von der Partei Neue Menschen ist der einzige Kandidat, der auf seiner Website Ansätze eines politischen Programms anbietet. Er fordert beispielsweise weniger staatliche Kontrolle der Wirtschaft und mehr gesellschaftliche Freiheiten. In der alles bestimmenden Frage der »militärischen Spezialoperation« befindet auch er sich auf der offiziellen Linie: Er will sich zwar »für Frieden und Verhandlungen« einsetzen, »aber zu unseren Bedingungen, und ohne Rückschritte«.
Für eine erfolgreiche Wahlsimulation ist aus der Perspektive des Regimes auch die Wahlbeteiligung von großer Bedeutung. Es gibt Hinweise darauf, dass der Kreml im Herbst 2023 versuchte, Gennadij Sjuganow (79, KPRF) und Alexej Netschajew (57, Neue Menschen) zur Kandidatur zu bewegen. Beide sind als Parteivorsitzende öffentlich sichtbarer als die nun erkorenen Kandidaten Charitonow und Dawankow und hätten wahrscheinlich zum Wahltag mehr Menschen mobilisieren können. Charitonow und Dawankow hingegen tauchten in einer offenen Umfrage des unabhängigen Lewada-Zentrums vom Dezember 2023 als mögliche Kandidaten nicht einmal auf. Leonid Sluzkij von der LDPR wiederum hat große Probleme, in die Fußstapfen seines 2022 an Covid-19 verstorbenen Vorgängers Wladimir Schirinowskij zu treten. Zwar steht er ihm an extremistischen und chauvinistischen Positionen in nichts nach, erreicht aber bei weitem nicht dessen Breitenwirkung. Auch das schadet dem »Projekt Wahlbeteiligung«, weshalb die Präsidialadministration der Kampagne Sluzkijs laut Medienberichten Schützenhilfe leistet. Eine Umfrage des staatsnahen Meinungsforschungsinstituts VCIOM sah Wladimir Putin am 15. Februar 2024 mit 79 Prozent weit vor Dawankow, Charitonow (je 4 Prozent) und Sluzkij (2 Prozent).
Kandidat:innen, die keine sein dürfen
Der wichtigste Konkurrent Wladimir Putins war Alexej Nawalny (47, verst.), der erfolgreichste Oppositionspolitiker Russlands in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten. Nawalny spielte eine zentrale Rolle bei den Anti-Regime-Protesten im Winter 2011/12. 2013 landete er trotz massiver Manipulation bei den Bürgermeisterwahlen in Moskau überraschend auf Platz 2 hinter dem Amtsinhaber Sergej Sobjanin. Danach wurde er in einem politisch motivierten Korruptionsprozess zu einer Haftstrafe auf Bewährung verurteilt und damit seines passiven Wahlrechts beraubt. 2016 erreichte Nawalny, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte dieses Urteil kassierte, und verkündete daraufhin seine Kandidatur zur Präsidentschaftswahl 2018. Er bekam viel Zuspruch, vor allem bei jüngeren Menschen im ganzen Land. Es folgte der nächste Prozess wegen angeblicher Korruption, bei dem Nawalny 2017 zu fünf Jahren Haft auf Bewährung verurteilt wurde. Die ZWK nahm diese Vorstrafe zum Anlass, seine Kandidatur abzulehnen. Nawalny und seine Mitstreiter:innen führten ihren politischen Kampf anderweitig fort. Sie warben dafür, bei Wahlen gezielt Kandidaten der systemischen Opposition zu unterstützen, um die Partei der Macht, Einiges Russland, zu schwächen. Mit dieser Strategie der »klugen Abstimmung« (umnoe golosowanije) errangen sie vor allem bei Lokalwahlen immer wieder überraschende Erfolge. Nawalnys Stiftung setzte zudem ihre investigative Arbeit fort und deckte Korruptionsnetzwerke auf höchster staatlicher Ebene auf. Die Filme über die Verstrickungen Dmitrij Medwedews (2017) und Wladimir Putins (2021) wurden millionenfach gesehen.
Nawalny überlebte im August 2020 nur knapp einen Giftmordanschlag. Im Januar 2021 wurde er in Moskau festgenommen und in mehreren Schauprozessen zu insgesamt 20 Jahren verschärfter Lagerhaft verurteilt. Aus der Gefangenschaft distanzierte sich Nawalny immer wieder scharf vom Krieg gegen die Ukraine. Er ist am 16. Februar 2024 in der Haft ums Leben gekommen. Durch diesen politischen Mord auf Raten hat das Putin-Regime endgültig sichergestellt, dass sein schärfster Widersacher niemals zu einer Präsidentschaftswahl wird antreten können.
Im November 2023 kündigte die weitgehend unbekannte Jekaterina Dunzowa (40), eine Journalistin und Lokalpolitikerin aus Rschew nordwestlich von Moskau, überraschend ihre Präsidentschaftskandidatur an. Sie forderte Demokratie, mehr Toleranz gegenüber LGBTIQ*-Menschen, eine ökologischere und sozialere Politik. Vor allem aber trat sie mit offen kriegskritischen Positionen an die Öffentlichkeit. Während sie in den staatlich kontrollierten Medien kaum vorkam, berichteten die unabhängigen Exilmedien ausführlich über sie. Ihre Kampagne nahm auch in den sozialen Medien Fahrt auf. Dunzowa wurde immer wieder mit Swjatlana Zichanouskaja verglichen, die 2020 bei der belarussischen Präsidentschaftswahl angetreten war und diese mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gegen Machthaber Lukaschenka gewann. Sie wurde, gemeinsam mit Maryja Kalesnikawa und Weranika Zepkala, zur Kristallisationsfigur der belarussischen Demokratiebewegung. Möglicherweise veranlasste gerade dieser Vergleich das russische Regime, Jekaterina Dunzowa sofort aus dem Rennen zu nehmen, um einem russischen »Zichanouskaja-Effekt« vorzubeugen. Die Zentrale Wahlkommission entdeckte »schwere Fehler« in der Liste der Mitglieder von Dunzowas Initiativgruppe und verweigerte ihr die Registrierung.
Etwas weiter kam Boris Nadeschdin (60), der für die liberale und bedeutungslose Partei Bürgerliche Initiative antrat. Nadeschdin ist schon seit den 1990er Jahren politisch aktiv. Im liberalen Spektrum der außersystemischen Opposition wurde ihm häufig vorgeworfen, er habe sich vom Putin-Regime instrumentalisieren lassen, zum Beispiel bei seinen zahlreichen Auftritten in den Propaganda-Talkshows der staatlich kontrollierten Fernsehsender. Auch Nadeschdin übte Kritik an der »militärischen Spezialoperation«, wenn auch wesentlich vorsichtiger als Dunzowa. Seine Unterschriftensammlung gewann – wiederum völlig überraschend – im Januar 2024 erheblich an Schwung. Vielerorts bildeten sich lange Schlangen, weil Menschen trotz des hohen persönlichen Risikos seine Kandidatur unterstützen wollten. Nach und nach stellten sich andere Oppositionelle hinter ihn. Den Anfang machte Jekaterina Dunzowa, nachdem ihre eigene Kandidatur abgelehnt worden war. Es folgten Oppositionelle in Exil oder Gefangenschaft, so Maxim Katz, Michail Chodorkowski und Alexej Nawalny. Nadeschdin sammelte bis Anfang Februar nach eigenen Angaben über 200.000 Unterschriften, von denen er nach eingehender Prüfung die geforderten 100.000 einreichte. Wie nicht anders zu erwarten, stufte die ZWK 9.000 von ihnen als »formal nicht genügend« ein und beendete so seine Kandidatur.
Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass Nadeschdins Kandidatur mit dem Kreml abgestimmt war. Für einen solchen Schritt wären unterschiedliche Motive denkbar: Die kontrollierte Zulassung eines liberalen Politikers könnte als Stimmungstest dienen. Seine Niederlage könnte die regime- und kriegskritischen Bevölkerungsteile weiter demoralisieren und die »Legitimität« des Regimes in den Augen der Mehrheit stärken. Wie schon häufig erlag der Kreml aber auch hier seiner eigenen Fehleinschätzung. Dunzowas und Nadeschdins Bewerbungen machten sichtbar, dass es in der Bevölkerung noch heute signifikantes Potential für eine Mobilisierung gegen den Krieg gibt. Das zeigen auch die Proteste von Ehefrauen russischer Soldaten, die in der Ukraine kämpfen. Dunzowa und Nadeschdin profitierten von den aus dem Exil arbeitenden unabhängigen russischen Medien. Während die staatlich kontrollierten Medien in Russland ihre Bewerbungen weitgehend ignorierten, berichteten die Nachrichtenwebsite Medusa, die Nowaja Gaseta, der Fernsehkanal TVRain und viele andere ausführlich. Die im Berliner Exil lebende Politologin und Publizistin Jekaterina Schulman führte im Januar 2024 ein Interview mit Boris Nadeschdin, das auf Youtube über eine Million Mal aufgerufen wurde. Ohne die Berichterstattung der Exilmedien hätten die Bewerbungen von Jekaterina Dunzowa und Boris Nadeschdin ihre gesellschaftliche Wirkung kaum entfalten können. Diese Medien boten eine Plattform für die kollektive Trauer um Alexej Nawalny, ohne die die Menschenmassen bei seiner Beerdigung am 1. März 2024 kaum denkbar gewesen wären. Der Trauerzug wurde rasch zu einer politischen Demonstration; die Menschen skandierten Slogans wie »Nein zum Krieg«, »Russland ohne Putin«, »Russland wird frei sein«.
Ende der Legitimität – was tun?
Russland galt in den 2010er Jahren als elektorale Autokratie mit kompetitiven Nischen, in denen die politische Opposition zumindest kleine Erfolge erzielen konnte. Diese waren zwar meist auf die lokale Ebene beschränkt. Aber bei der Präsidentschaftswahl 2018 traten mit Grigorij Jawlinskij von der liberalen Partei Jabloko und Xenia Sobtschak immerhin noch zwei mehr oder weniger außersystemische Kandidat:innen an. 2024 ist auch von diesem kontrollierten Wettbewerb nichts mehr übrig. Die »Wahl« ist ein autoritäres Plebiszit zur Bestätigung der Herrschaft Wladimir Putins. Das Ergebnis steht fest: Putin wird im Amt bestätigt werden – wahrscheinlich mit einem Ergebnis, das über dem von 2018 (77 Prozent) liegt.
Dieses Plebiszit wird vor dem Hintergrund des völkerrechtswidrigen Angriffskriegs gegen die Ukraine abgehalten. Putin trägt die Verantwortung für diesen Krieg und die mit ihm verbundenen Verbrechen. Der Internationale Strafgerichtshof hat im März 2023 wegen der massenhaften Deportation von Kindern aus den besetzten ukrainischen Gebieten Haftbefehl gegen den russischen Staatschef erlassen.
Die »Abstimmung« wird auch in den von Russland besetzten ukrainischen Gebieten stattfinden. Das ist nichts Neues – Russland führt seit 2014 Wahlen auf der besetzten Krim durch. Im russischen Parlament (Staatsduma und Föderationsrat) sitzen seitdem illegitime Vertreter:innen der Krim. 2024 betrifft dieser völkerrechtswidrige Vorgang fünf ukrainische Regionen mit einer Vorkriegsbevölkerung von etwa zehn Millionen Menschen.
Es gibt also eine Vielzahl von Gründen, die Legitimität der russischen Präsidentschaftswahl 2024 zu bestreiten. Entsprechende Forderungen kommen von der russischen Exilopposition, von der Parlamentarischen Versammlung des Europarats, aus dem Europäischen Parlament und auch aus der Ukraine. Einen solchen Schritt vollzog die EU nach der belarussischen Präsidentschaftswahl 2020, als sie die Herrschaft Lukaschenkas für illegitim erklärte. Die innenpolitische Situation in Russland unterscheidet sich in zwei Punkten von der in Belarus: Zum einen gibt es keine Alternativkandidat:innen, deren Wahlsieg durch Fälschungen verhindert werden wird. Zum anderen muss davon ausgegangen werden, dass anders als in Belarus 2020 eine Mehrheit der russischen Bevölkerung den Präsidenten weiterhin unterstützt.
Wladimir Putin steht seit 2022 unter westlichen Sanktionen. Es gibt kaum noch direkten Kontakt zwischen ihm und westlichen Staatsspitzen. Deutschland und die EU sollten eindeutig zum autoritären und illegitimen Charakter des Plebiszits Mitte März 2024 Stellung beziehen. Das ist ein wichtiges Signal an kriegs- und regimekritische Russ:innen im Land und außerhalb. Die EU sollte weitere Akteur:innen auf ihre Sanktionsliste setzen, die an der Durchführung der »Wahl« beteiligt sind. Allerdings wird sich dadurch kurzfristig weder das Verhältnis zum russischen Machthaber oder der Umgang mit ihm ändern, noch werden die innenpolitischen Verhältnisse in Russland in Bewegung geraten. Wichtiger scheint deshalb, auf die kriegskritischen und demokratischen Regungen im Vorfeld der Wahlen zu reagieren. Das bedeutet, die demokratische russische Opposition, die unabhängige Zivilgesellschaft und unabhängige Medien (soweit möglich) im Land und besonders im Exil nach Kräften zu unterstützen und dafür Sorge zu tragen, dass sie auch weiterhin andersdenkende Menschen in Russland erreichen. Politischer Wandel in Russland bleibt jedoch hochgradig unwahrscheinlich, solange das Putin-Regime seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine mit Aussicht auf Erfolg weiterführen kann. Daran wird sich auch nach dem autoritären Plebiszit vom 17. März 2024 nichts ändern.
Dr. Sabine Fischer ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien.
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DOI: 10.18449/2024A15