In China haben die jüngsten Proteste Schwächen der von der Regierung forcierten Null-Covid-Politik offenbart. Mit der politischen Zentralisierung auf Staats- und Parteichef Xi Jinping steht sich das Regime selbst im Weg, meinen Angela Stanzel und Nadine Godehardt.
Wenige Wochen nach dem Ende des 20. Parteitages der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh), auf dem Xi Jinpings Übermacht für In- und Ausland sichtbar wurde, finden überall im Land Proteste gegen die Corona-Maßnahmen statt. Die absolute Zahl der Protestierenden ist dabei überschaubar; dafür nehmen die Proteste inhaltlich schnell aufeinander Bezug. Sie gehen von beinahe 80 Universitäten aus. Ähnlich wie bei den Protesten 2019 in Hongkong gehen vor allem junge Menschen auf die Straße. Gerade sie schaffen es, für einen Moment den digitalen Überwachungsstaat zu überlisten. In einem China, das während der Corona-Pandemie die Gesundheitsüberwachung beinahe auf alle Lebensbereiche ausgedehnt hat, waren Demonstrationen in diesem Ausmaß nicht zu erwarten.
Die vielen Videos der Protestierenden in sowohl chinesischen wie ausländischen sozialen Medien fangen die Stimmung dieses ersten von Frust und Freiheitsdrang geprägten Moments auf. Sichtbar ist, wie die Menschen sich versammeln, beinahe andächtig durch die Straßen ziehen und dabei immer wieder »Die Internationale« oder die chinesische Nationalhymne anstimmen. Letztere mit ihrem vielsagenden ersten Satz »Steht auf! Alle, die keine Sklaven mehr sein wollen.«
Kaum ein Satz mag die gegenwärtigen Gefühle der chinesischen Gesellschaft unter Xi Jinpings Null-Covid-Regime besser zusammenfassen. Waren die ersten zwei Jahre der Pandemie für viele Menschen in China durchaus akzeptabel und die Einschränkungen im Alltag deutlich geringer als im Ausland, hat sich das Blatt spätestens seit Sommer 2022 gewendet. Während die Welt sich langsam öffnet, ist die chinesische Stadtbevölkerung immer wieder mit endlosen harten Lockdowns konfrontiert. Die Menschen sind oftmals völlig abrupt an den Orten eingeschlossen, an denen sie sich gerade aufhalten. Dabei gibt es in China mitnichten ein einheitliches digitales Kontrollsystem, sondern lokal unterschiedliche Apps, die den Bewegungsradius der Menschen tagtäglich aufs Neue bestimmen. Unternehmen versuchen der Politik zu begegnen, indem sie in sogenannten geschlossenen Kreisläufen weiter produzieren und alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in einer Blase einsperren. Dass dies oftmals eine drankonische Verschlechterung der Arbeitsbedingungen zur Folge hat, zeigen beispielsweise die anhaltenden Proteste von Tausendenden Arbeiterinnen und Arbeitern des Foxconn-Werks in Zhengzhou.
Ein Ausweg aus der Null-Covid-Politik ist unter dem Regime des chinesischen Präsidenten Xi Jinping nur schwer vorstellbar. In den drei Jahren der Pandemie sind zwar eine Vielzahl von Quarantänezentren gebaut worden, auch hat sich eine Covid-Test-Industrie etabliert. Dagegen hat die chinesische Regierung es aber versäumt, das Gesundheitswesen zu modernisieren und beispielsweise den Aufbau von dringend benötigten Intensivstationen zu finanzieren. Wenn China jetzt begänne, die Bevölkerung durchzuimpfen – und es gibt klare Anzeichen dafür, dass zumindest die Bevölkerung über 80 möglichst schnell geboostert werden soll – wäre das Land selbst bei einer vorsichtigen Öffnungspolitik zunächst mit hohen Infektionszahlen konfrontiert – und einem überforderten Gesundheitswesen. Selbst eine umfassende Impfkampagne mithilfe eines ausländischen mRNA-Impfstoffes kann Monate dauern und würde die Fehler der Null-Covid-Politik vor allem im Vergleich zum Ausland offenlegen.
Die Zulassung eines ausländischen Impfstoffes könnte aber Xis Legitimation innerhalb der chinesischen Gesellschaft durchaus wieder stärken, insbesondere wenn der chinesischen Gesellschaft damit der letzte harte Covid-Winter angekündigt würde. Möglich ist, dass das Versprechen einer Impfkampagne zumindest für diesen Winter noch einmal die Bereitschaft erhöht, harte Lockdowns in Kauf zu nehmen. Beides in Kombination ist im Grunde der einzige Weg, der China jetzt noch bleibt.
Ohne Einsicht bei Xi Jinping wird es also keinen Ausweg aus dem Covid-Dilemma geben. Dass an sich offenbart bereits ein weiteres Problem: Die politische Macht in China ist immer stärker auf Xi hin zentralisiert. Der Tod des früheren Staats- und Parteichefs Jiang Zemin und die offensichtlich schwere Erkrankung von Xis Vorgänger Hu Jintao führen zudem dazu, dass jetzt auch kein ehemaliger Generalsekretär Xi mehr auf die Finger schauen kann. Gepaart mit einem Ständigen Ausschuss des Politbüros, in dem nur Loyalisten versammelt sind, sieht sich Xi im Grunde keinen innerparteilichen Widerstand mehr gegenüber. Mit Blick auf die Covid-Politik zeigt sich allerdings der Nachteil dieser Personenbezogenheit. Für ein autoritäres Regime ist es grundsätzlich kaum möglich Fehler einzugestehen, aber die besondere Doppelstruktur von Staat und Partei in China sowie die kollektive Führung haben es der KPCh in der Vergangenheit immer wieder ermöglicht, Kurskorrekturen vorzunehmen. Dieser nützlichen Flexibilität des Regimes ist spätestens mit dem 20. Parteitag ein Ende gesetzt worden. Daher kann ein wirklicher Kurswechsel in der chinesischen Covid-Politik nur dann stattfinden, wenn sich Xi selbst neuorientiert und seine bisherige Strategie (er hatte bereits 2020 den Sieg über das Coronavirus verkündet) aufgibt.
Deutschland und Europa haben kaum direkte Einflussmöglichkeiten auf die Covid-Politik der KPCh, können aber zweierlei Auswege anbieten: Erstens können deutsche und europäische Politikerinnen und Politiker Angebote für Impfstoffe unterbreiten, so wie Bundeskanzler Scholz es während seines Besuchs in China am 4. November 2022 versucht hatte. Dabei können sie hervorheben, wie wirksam europäische Impfstoffe sind. Das hatte EU-Ratspräsident Charles Michel bei seinem Besuch in Peking am 1. Dezember 2022 betont.
Zweitens können europäische Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger signalisieren, dass die Proteste in China gehört werden. In Anerkennung der sich rapide verschlechternden Menschenrechtslage sollten sie sich dafür einsetzen, dass Deutschland und andere EU-Staaten politisch Verfolgten aus China Asyl anbieten.
Developments at the Party Congress suggest China’s relationship with Europe won’t get any easier. European capitals must be ready to respond.
4 scenarios for China-EU relations amid the war in Ukraine.
Neue Substanz im Systemkonflikt mit China
doi:10.18449/2021A30
The German Institute for International and Security Affairs – Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) and the Clingendael Institute are collaborating on digital geopolitics and connectivity in the light of the corona crisis.
Vier Herausforderungen für den mächtigsten Mann Chinas
doi:10.18449/2020A26