Entgegen mancher Erwartung erhöht die Corona-Pandemie die Akzeptanz von wissenschaftlicher Beratung der Politik nicht. Fachleuten schlägt nach wie vor Misstrauen entgegen. Dagegen hilft Selbstaufklärung über die eigene politische Rolle, meint Lars Brozus.
Wie kann wissenschaftsbasierte Politikberatung ihre wissenschaftliche Integrität und politische Relevanz gleichermaßen sicherstellen? Aufgeworfen hat diese Frage zuletzt die Corona-Krise. Zu Beginn der Pandemie stieg die Nachfrage nach Beratung steil an, und zwar sowohl in der Politik als auch der Öffentlichkeit. In fachlicher Hinsicht ging es dabei zunächst um medizinische und gesundheitspolitische Aspekte: Welche Maßnahmen sind am besten dafür geeignet, die Ausbreitung des Virus zu begrenzen? Wie lange wird es dauern, bis ein Impfstoff bereitsteht? Wie kann man eine Überlastung des Gesundheitssystems verhindern? Parallel dazu baute sich rasch ein immer größeres Beratungsangebot auf, das sich mit verschiedensten Facetten der Krise befasste: Wie wirkt sich Homeschooling auf Familien aus? Welche Konsequenzen wird die Pandemie für die internationale Ordnung haben? Wann werden ihre ökonomischen Folgen überwunden sein?
Von der Politik wurde der »Expertise-Boom« zunächst als »Stunde der Erklärer« gewürdigt. Im Krisenverlauf wurde jedoch deutlich, dass die steigende Nachfrage nach Beratungsleistungen sich nicht automatisch in eine höhere Wertschätzung übersetzt – oder gar in größeres Vertrauen in die Ratschläge und Empfehlungen der Fachleute. Stattdessen mehrten sich Skepsis und Zweifel in Öffentlichkeit und Politik. Kritisiert wurde die Uneinigkeit unter Expertinnen und Experten, etwa mit Blick auf epidemiologische Schutzmaßnahmen wie die Mund-Nase-Bedeckung, aber auch, dass sie ihre Einschätzungen und Empfehlungen abänderten, wenn neue Informationen vorlagen. Fachlicher Rat, so der Eindruck der Skeptiker, stellt keine belastbare Basis für politische Maßnahmen dar, was seine Relevanz zwangsläufig mindert.
Eine kürzlich erschienene Umfrage, die danach fragt, wie die Pandemie sich auf die öffentliche Meinung in neun EU-Mitgliedstaaten auswirkt, dokumentiert das Ausmaß der gesellschaftlichen Skepsis. Demnach hat die Mehrheit der Befragten kein Vertrauen in die Unabhängigkeit von Fachleuten. Nur 35 Prozent von ihnen betrachten Expertise als hilfreich. Mehr als 60 Prozent sind hingegen der Ansicht, dass Fachwissen durch die Politik instrumentalisiert, wenn nicht sogar manipuliert wird. Der Befund bestätigt Analysen der Brexit-Entscheidung und der amerikanischen Präsidentschaftswahl von 2016. Sie zeigen, dass die mit fachlicher Autorität ausgesprochenen Warnungen vieler Expertinnen und Experten vor den Konsequenzen des Austritts Großbritanniens aus der EU oder einer Regierung Trump als Parteinahme eingeordnet wurden. Dies trug zur Mobilisierung des Leave-Lagers bzw. der Republikaner in den USA bei. Ausgerechnet ein Politiker, der britische Justizminister Michael Gove, brachte es auf den Punkt. Als er nach wissenschaftlicher Unterstützung für die Leave-Kampagne gefragt wurde, antwortete er: »People have had enough of experts«. Schließlich lägen sie mit ihren Ratschlägen häufig falsch.
Insbesondere die professionelle Politikberatung von Forschungsinstituten oder wissenschaftlichen Think Tanks ist damit konfrontiert, dass ihre Empfehlungen von konkurrierenden politischen Lagern je nach Übereinstimmung mit deren Positionen entweder vereinnahmt oder zurückgewiesen werden. Ob es um den Klimawandel, die Weltfinanzkrise oder Flucht und Migration geht, stets gerät wissenschaftliche Expertise zwischen die politischen Fronten. In der Branche wird deshalb intensiv darüber nachgedacht, wie sich das Verhältnis zu Politik und Öffentlichkeit entkrampfen lässt. Als mögliche Lösung wird über eine bessere Zusammenarbeit von Think Tanks und Politik diskutiert, etwa durch mehr Personalaustausch mit der Administration. Als Vorbild hierfür wird die ausgeprägte »Drehtür-Kultur« in den USA angeführt – von der Wissenschaft in die Politik und beim nächsten Regierungswechsel wieder zurück, was den Wissenstransfer zwischen beiden Sphären befördere. Aber gerade der Blick über den Atlantik verdeutlicht die Problematik: Je stärker dort die politische Polarisierung ausfällt, desto offener wird die Unabhängigkeit wissenschaftlicher Expertise in Zweifel gezogen. Wissenschaftsbasierte Beratung wird zu einer Waffe im politischen Wettbewerb, selbst wenn sich seriöse Think Tanks um Neutralität bemühen. Die Rede ist von »weaponizing science«: Gegen jede Expertise lässt sich Gegenexpertise mobilisieren.
Die Entwicklung in den USA mahnt zudem, dass auch ein zweiter Vorschlag, der wissenschaftlicher Expertise mehr Glaubwürdigkeit verschaffen soll, kontraproduktiv sein könnte: nämlich verstärkt den Dialog mit der Gesellschaft zu suchen, um diese über politische Alternativen samt ihren Konsequenzen und Kosten zu informieren. Die Folge: mehr Publikumsveranstaltungen und Öffentlichkeitsarbeit, weniger akribisch erstellte Studien. Obendrein ist das Risiko, dass auch solche Bemühungen als Vereinnahmung der Beratung durch die Politik wahrgenommen werden, sehr hoch.
Die vorgeschlagenen Maßnahmen mögen in den »guten alten Zeiten« der Politikberatung zielführend gewesen sein. Mittlerweile legt die verfügbare Evidenz nahe, dass ihre Umsetzung weder die politische Relevanz noch die öffentliche Glaubwürdigkeit erhöht. Maßgebliche Kriterien für gute wissenschaftsbasierte Politikberatung sind heute viel eher Transparenz mit Blick auf Finanzierung, Organisationsstrukturen und Forschungsprogramm sowie rigide Qualitätssicherungsmaßnahmen sowohl für die wissenschaftliche Arbeit als auch die eigentliche Beratungstätigkeit. Darüber hinaus sollten sich Expertinnen und Experten über die eigene politische Rolle klarer werden. Institutionell geht es darum, deutlich zu machen, dass wissenschaftliche Politikberaterinnen und –berater unterschiedliche Perspektiven auf ein Thema einnehmen und damit zu unterschiedlichen Schlüssen kommen können. Erkennbare Multiperspektivität kann helfen, dem Eindruck der Vereinnahmung entgegenzuwirken. Schließlich muss sich die Branche offen mit vermeintlichen und tatsächlichen Irrtümern auseinandersetzen, da (scheinbare) Fehlschläge häufig als Argument genutzt werden, um Expertenrat grundsätzlich abzulehnen. Das ist alles andere als angenehm, gehört aber zur Selbstaufklärung der wissenschaftsbasierten Politikberatung. Gelingt diese, sollte sich fast von selbst eine angemessene Distanz zwischen Beratung und Politik ergeben, die Unabhängigkeit, Glaubwürdigkeit und Relevanz sichert.
Systematische Vorausschau als Grundlage evidenzbasierter Vorsorgepolitik
doi:10.18449/2020A42
Die strategische Vorausschau kann helfen, für Konflikte besser gewappnet zu sein. Doch politische Spielregeln müssen beachtet werden.
Wenn Wissenschaftler am 22. April auf die Straße gehen, sollte es auch um die Frage gehen, wie sie angesichts der Politisierung von Wissenschaft ihre Unabhängigkeit bewahren können, meinen Lars Brozus und Oliver Geden.