Im Jahr 2017 haben sich die Außen- und Verteidigungsministerinnen und -minister fast aller EU-Staaten zu einer Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit (PESCO) im Bereich der Verteidigungspolitik der Europäischen Union entschlossen. Die Diskussionen, die in Think-Tanks der Mitgliedstaaten über diese Initiative geführt werden, zeigen, dass die Erwartungen an eine europäische Verteidigungsarchitektur weit auseinandergehen und ganz unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt werden. Dies gilt vor allem für Polen und Frankreich. In Polen wird europäische Verteidigungspolitik in erster Linie als eine Form der kollektiven Landesverteidigung gegenüber Russland verstanden, die sich in den Nato-Rahmen einfügen muss. Für Frankreich hingegen ergeben sich Risiken für die eigene und die europäische Sicherheit primär aus Richtung der südlichen Nachbarschaft. Deswegen legt Paris besonderen Wert auf den Aufbau von militärischen Interventionskapazitäten. Diese unterschiedlichen Präferenzen der zwei größten und wichtigsten Nachbarstaaten Deutschlands spiegeln sich deutlich in wissenschaftlichen Analysen und Kommentaren europäischer Think-Tanks zu Fragen der europäischen Rüstungspolitik und der weiteren Integration der europäischen Verteidigungspolitik wider.
Inhaltsverzeichnis
Ein Blick über die Debatten, die in europäischen Think-Tank-Publikationen über die gemeinsame Verteidigungs- und Sicherheitspolitik geführt werden, zeigt, dass die Präferenzen der EU-Mitgliedstaaten in diesem Politikfeld stark variieren. Die Unterschiede werden insbesondere dann deutlich sichtbar, wenn über den Nutzen der neuen Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit (PESCO) im Bereich der Sicherheits- und Verteidigungspolitik räsoniert wird, zu der sich 25 EU-Mitgliedstaaten im Jahr 2017 bekannt haben. Im Rahmen der PESCO sollen die beteiligten Staaten unter anderem »Verteidigungsfähigkeiten gemeinsam entwickeln, […] die operative Einsatzbereitschaft verbessern und den Beitrag ihrer Streitkräfte ausweiten«, wie es in der offiziellen Verlautbarung der EU heißt (Anm.: wissenschaftliche Einordnungen der PESCO und Kommentare zu dieser Initiative finden sich in den besprochenen und in den weiterführenden Publikationen, die am Ende dieses Literaturüberblicks aufgeführt sind). Besonders klar treten die Differenzen in der Bewertung der PESCO zutage, wenn eine Auswahl von Think-Tank-Publikationen beleuchtet wird, die seit 2017 erschienen sind und sich hauptsächlich mit der Haltung Frankreichs und Polens zu diesem Prozess befassen. Viele Analysen vor allem – aber nicht nur – aus diesen beiden Ländern nehmen direkt Bezug auf die divergierenden verteidigungspolitischen Interessen des jeweils anderen EU-Mitglieds.
Ziel dieser Zeitschriftenschau ist es, die in Bezug auf Polen und Frankreich unterschiedlichen Problemwahrnehmungen, Interessenbeschreibungen und Handlungsempfehlungen in den Publikationen einander gegenüberzustellen und in den europäischen Diskurs über Verteidigungspolitik einzuordnen. Die hier untersuchten Veröffentlichungen wurden nach zwei Kriterien ausgewählt: Erstens wurden Analysen und Kommentare von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern französischer und polnischer Think-Tanks herangezogen, die um Publikationen aus anderen EU-Mitgliedstaaten ergänzt wurden, wodurch sich jeweils die Innen- und Außenperspektive auf die geführten Debatten erschließen lässt. Zweitens wurden solche Publikationen in die Auswahl aufgenommen, die die seit 2017 eingetretenen neuen Entwicklungen in der europäischen Verteidigungspolitik wissenschaftlich beleuchten. Dies schließt öffentlich zugängliche Policy-Briefs, Analysen und Kommentierungen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus europäischen Think-Tanks mit ein. Im Zuge der folgenden Abschnitte zu den Diskursen, die sich auf Polen und Frankreich beziehen, wird auch auf EU-institutionelle Faktoren und auf Integrationsaspekte eingegangen sowie auf deren verteidigungs- und rüstungspolitische Dimension. Die meisten der hier besprochenen Beiträge haben sich mit diesen weitergehenden Themen befasst.
Polen: Das Nato-Bündnis als erste Priorität
In der polnischen Debatte wird ein distanziertes Verhältnis gegenüber einer zunehmend integrierten EU-Verteidigungspolitik erkennbar.
Justyna Gotkowska vom polnischen Centre for Eastern Studies (OSW) entdeckt in den jüngsten verteidigungspolitischen EU-Initiativen wie der PESCO kaum hilfreiche Ansätze, die den europäischen Integrationsprozess wieder befördern könnten. PESCO sei keine angemessene Antwort der EU auf die neuen globalen und regionalen Herausforderungen in der Sicherheitspolitik. So trage PESCO den ungelösten strategischen Widerspruch zwischen den Präferenzen Deutschlands und Frankreichs in sich. Während Berlin in Verteidigungsfragen einen inklusiven und integrationspolitischen Ansatz verfolge, setze Frankreichs seine Prioritäten eher auf eine exklusive und militärisch effektive EU-Verteidigungspolitik. Wenn sich die integrationsfördernden Erwartungen an PESCO nicht bewahrheiteten, sei eine weitere Fragmentierung Europas in diesem Politikfeld zu befürchten. Die Unterschiede in der strategischen Kultur der EU-Mitgliedstaaten könnten laut Gotkowska in der Folge sogar noch zunehmen, und dies insbesondere zwischen den Schlüsselakteuren innerhalb der Union, zu denen sie Frankreich, Deutschland und Polen zählt. Während Paris seine und Europas Sicherheitsinteressen eindeutig in Nordafrika bedroht sehe, richte sich das Hauptaugenmerk in Warschau auf die Sicherung der europäischen Ostflanke, die vom Baltikum über Polen bis nach Rumänien reicht. Die Autorin diagnostiziert eine Überfokussierung auf PESCO und eine schleichende Abkehr der EU vom transatlantischen Bündnis. Diese Entwicklung schwäche die Glaubwürdigkeit des militärischen Abschreckungspotentials der Nato gegenüber Russland und sei ein Risiko für die Sicherheitsinteressen Polens. So sei die in europäischen Fachkreisen vielfach geführte Debatte über einen Rückzug der USA (disengagement) aus Europa und den Nato-Strukturen, die sich vor allem an der Rhetorik von US-Präsident Trump orientiere, in Wahrheit irreführend. Erst das Gerede über einen US-Rückzug, der eine intensivere europäische Verteidigungspolitik der westlichen EU-Mitgliedstaaten nötig mache, werde möglicherweise einen tatsächlichen Rückzug der USA aus Europa auslösen. Deshalb stoße dieser Diskurs nicht nur in Polen, sondern auch in den Staaten entlang der Nato-Ostflanke und in den übrigen Visegrád-Staaten (V4) – der Tschechischen Republik, Ungarn und der Slowakei – auf große Skepsis.
Marcin Terlikowski vom Polish Institute of International Affairs (PISM) blickt positiver auf die europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Er betont die politische Bedeutung von PESCO, kritisiert jedoch im selben Zuge die Ausgrenzung rüstungsindustriell schwächerer Staaten Zentral- und Osteuropas. Dadurch laufe die europäische Verteidigungs- und Rüstungspolitik Gefahr, zu einem elitären, westeuropäischen Projekt zu werden. Er empfiehlt Warschau, stattdessen seinen Fokus auf die transatlantischen Beziehungen und die Nato zu legen und mit einer Teilnahme an PESCO die militärischen Kapazitätslücken Europas zu schließen. Für Polen sei es von elementarer strategischer Bedeutung, dass Doppelstrukturen zwischen der EU und der Nato vermieden werden, PESCO gleichzeitig inklusiv ausgerichtet bleibe und bindenden Charakter habe. Warschau solle deshalb auf eine enge Abstimmung von PESCO-Projekten mit Nato-Planungsprozessen drängen und die Möglichkeiten, die mit diesen Projekten verbunden seien, wie beispielsweise im Bereich der militärischen Mobilität, nutzen. Denn diese Planungen deckten sich mit dem Ziel der Nato, die Landes- und Bündnisverteidigung Polens im Dienste der polnischen Sicherheitsinteressen in Europa in komplementärer Weise auszubauen.
In einer Publikation für den European Council on Foreign Relations (ECFR) beleuchtet Marcin Zaborowski die polnischen Interessen in Rüstungs- und Verteidigungsfragen. Zaborowski identifiziert eine Reihe von Problemen, mit denen Warschau konfrontiert sei und die einer Vertiefung der europäischen Integration in diesem Bereich entgegenwirkten: Die früheren polnischen Regierungen und auch die aktuelle hätten sich bei der Ausstattung der Streitkräfte des Landes seit Ende des Kalten Krieges beinahe ausschließlich auf die USA und auf US-amerikanische Rüstungsanbieter gestützt. Dies erkläre die im europäischen Vergleich nur schwache Integration der polnischen Rüstungsindustrie. Dies sei jedoch in einem Umfeld zunehmend als problematisch anzusehen, in dem die europäische Sicherheitsarchitektur durch eine aggressive russische Außenpolitik, durch einen unstet wirkenden US-Bündnispartner und den nahenden Brexit vor große Herausforderungen gestellt werde. Zaborowski sieht die polnische Rüstungsindustrie zudem als zunehmend strukturell reformbedürftig an, da sie zu überwiegenden Teilen in staatlicher Hand sei und große Effizienz- und Kostenprobleme aufweise. Diese Defizite würden durch das Fehlen einer langfristigen Strategie Warschaus in Rüstungsfragen noch verstärkt. So gereiche die unhinterfragte Bevorzugung von US-Rüstungsanbietern den polnischen Interessen allzu oft zum Nachteil, da es keinen Wissenstransfer gegeben habe, von dem die polnische Industrie nachhaltig hätte profitieren können. Auch habe die polnische Regierung ihre Rüstungsaufträge bislang in der Regel ohne Rücksicht auf Fragen der Kompatibilität mit anderen EU-Partnern vergeben. Dies isoliere Polen auch innerhalb des von ihm präferierten regionalen Rahmens, der V4-Gruppe. Denn die anderen V4-Staaten hätten bereits durchaus von einem diversifizierten europäischen Rüstungsmarkt in vielfältiger Weise profitieren können. Eine stärkere Öffnung Warschaus gegenüber dem europäischen Rüstungsmarkt bedeute aber gleichzeitig ein Risiko für die staatlich dominierte heimische Rüstungsindustrie. Nichtsdestotrotz müsse die polnische Regierung die Chancen einer vertieften europäischen Verteidigungsintegration erkennen und nutzen. Ein größeres Engagement in Fragen der europäischen Verteidigungspolitik könnte für Polen laut Zaborowski auch gerade unter dem Aspekt von Vorteil sein, dass die EU Warschau derzeit in anderen Politikbereichen, vor allem in Fragen der Rechtstaatlichkeit und der innereuropäischen Solidarität, deutlich kritisiere.
Auch Karolina Muti vom italienischen Istituto Affari Internazionali (IAI) identifiziert Polen als das fehlende Glied in einer europäischen Verteidigungs- und Rüstungsstruktur. Muti konstatiert, dass Warschau sich vor allem als ein treuer transatlantischer Partner betrachte, der der Beziehung zur US-amerikanischen Schutzmacht und zur US-Rüstungsindustrie uneingeschränkte Priorität einräume. Für problematisch erachtet Muti vor allem die wachsende Unzuverlässigkeit der US-Seite, auf die Warschau ihrer Ansicht nach mit einer entschiedenen Annäherung an die EU und deren Mitgliedstaaten reagieren sollte. Polen werde von einer effektiven substantiellen Beteiligung an den verschiedenen PESCO-Projekten nicht nur materiell und finanziell profitieren, sondern auch auf EU-Ebene einen Zuwachs an politischer Glaubwürdigkeit verbuchen können. Warschau werde dann eine aussichtsreiche Brückenfunktion einnehmen können zwischen den unterschiedlichen strategischen Interessen West- und Osteuropas. Eine Neuausrichtung auf seine EU-Partner biete Polen darüber hinaus die Chance, seine militärischen Ressourcen (Industrie und Rüstung) zu modernisieren. Die in Polen von vielen Seiten artikulierte Befürchtung, Initiativen wie PESCO könnten unerwünschte Doppelungen von Strukturen hervorbringen, die schon im Rahmen der Nato bestehen, lässt Muti zwar gelten; die Autorin glaubt aber, dass diese Gefahr gerade durch eine breite und aktive Partizipation Warschaus gebannt werden könnte.
Frankreich: Reformambitionen innerhalb und außerhalb des EU‑Rahmens
Die Analysen von Think-Tanks, die sich mit den verteidigungs- und rüstungspolitischen Präferenzen und Wahrnehmungen Frankreichs befassen, setzen sich zunächst mit den hochgesteckten europapolitischen Reformambitionen des seit 2017 regierenden Staatspräsidenten Emmanuel Macron auseinander. Schon dabei treten jedoch auch Widersprüche zutage, die in wissenschaftlichen Publikationen benannt werden.
Pierre Haroche vom Pariser Institut de Recherche Stratégique et de l’École Militaire (IRSEM) arbeitet in einem Beitrag für einen Sammelband seines Instituts das »geostrategische Dilemma« heraus, dem die EU-Mitgliedstaaten seiner Meinung nach gegenüberstehen. Polen und Frankreich seien von unvereinbaren Bedrohungswahrnehmungen beherrscht: Polen sei gebannt von den Ängsten vor Russland an der europäischen Ostflanke, Frankreich richte seinen Blick dagegen ganz auf die Südflanke Europas, weil es einen zunehmenden Migrationsdruck aus Afrika fürchte. Beide europäische Staaten definierten nicht nur ihre nationalen Sicherheitsinteressen unterschiedlich, sondern hätten daraus auch vollkommen diverse Verteidigungspolitiken abgeleitet. Weitere Faktoren, die die Unterschiede in den Sicherheitsinteressen von Polen und Frankreich verstärken und den europäischen Verteidigungsdiskurs nachhaltig beeinflussen, sind laut Haroche die Wahl Donald Trumps, eine striktere Fiskaldisziplin in der EU seit Beginn der Finanz- und Staatsschuldenkrise, die Gefahr durch den Terrorismus, die Migrationskrise, die aggressive Selbstbehauptung Russlands im internationalen System und der bevorstehende Brexit. Doch genau in diesem Komplex von aktuellen Sicherheitsrisiken sieht Haroche eine Gelegenheit für Fortschritte in der europäischen Verteidigungspolitik und eine gute Voraussetzung insbesondere für PESCO, als integratives Element zu wirken. Wenn die divergenten Interessen ausbalanciert und die damit einhergehenden unterschiedlichen Prioritäten wechselseitig anerkannt würden, die EU-Staaten also zu einer »transaktionalen Solidarität« fänden, könne das europäische geostrategische Dilemma überwunden werden. Die Bedingungen dafür seien auch dadurch gegeben, dass auf militärischer Ebene unterschiedliche Fähigkeiten für Kriseneinsätze im Süden auf der einen und für die militärische Präsenz der Nato im Osten auf der anderen Seite gefordert seien. So könnten Frankreich und Polen als Antipoden des verteidigungspolitischen Gegensatzes ausgleichend auf die europäischen Interessenkonflikte wirken und Führungsrollen einnehmen, um den Balanceakt zwischen Nato-Bündnistreue, den nationalen und den teils gegenläufigen Prioritäten auf europäischer Ebene erfolgreich zu bewältigen.
Jean-Dominique Giuliani, Vorsitzender der Fondation Robert Schuman, kommentiert in einem Policy-Paper des Forschungsinstituts im Mai 2018 die großen Erwartungen der verteidigungs- und sicherheitspolitischen Kreise in Paris an ein »powerful Europe«. Wer ein solches anstrebe, solle aber nicht nur die EU-Strukturen, sondern auch dezidiert militärische Formate außerhalb der EU-Institutionen in den Blick nehmen. Giuliani sieht in dem Beschluss zu PESCO vor allem ein, wenn auch spätes »Erwachen« (awakening) Europas. Die deutsch-französischen Beziehungen, denen Giuliani in seinen Ausführungen einen großen Stellenwert zumisst, seien von entscheidender Bedeutung für die anstehenden Entwicklungen im Bereich der europäischen Verteidigungspolitik. Wie der Autor ferner darlegt, haben jedoch Kompromisse, die Deutschland wegen seiner Präferenz für einen möglichst inklusiven und integrativen Charakter von PESCO erzwungen hat, die französische Seite dazu bewegt, nach verteidigungspolitischen Kooperationsprojekten auch außerhalb der EU-Strukturen zu suchen: Die Europäische Interventionsinitiative (EI2), die Macron in seiner Sorbonne-Rede im September 2017 ankündigte, sei unter diesem Blickwinkel zu sehen. Durch die EI2 könne Frankreich seine Sicherheitsinteressen in der südlichen Nachbarschaft besser vertreten. Das EI2-Format eignet sich laut Giuliani darüber hinaus dazu, Großbritannien auch nach dem Brexit weiter in eine europäische Sicherheitsarchitektur einzubinden. Die unterschiedlichen Wahrnehmungen der Sicherheitslage und die disparate strategische Ausrichtung der Außen- und Sicherheitspolitik in den EU-Mitgliedstaaten seien jedoch nach wie vor ein zentrales Problem. Das Zustandekommen einer im Sinne Frankreichs unerlässlichen gemeinsamen »strategischen Kultur« in Europa werde dadurch weiter erschwert.
Barbara Kunz vom Pariser Institut Français des Relations Internationales (ifri) blickt in einem Beitrag für den German Marshall Fund (GMF) mit gemischten Erwartungen auf die europäische Verteidigungspolitik. Auch sie malt – wie Haroche und Giuliani – das Bild einer Krisenlandschaft, die mit den USA unter Trump, dem Brexit und der Migrationsdebatte den Hintergrund darstellt, vor dem die europäische Verteidigungspolitik nun Fortschritte erzielen muss. Kunz benennt zunächst jedoch drei Faktoren, die den dafür benötigten deutsch-französischen Motor gegenwärtig »zum Stottern« brächten: die Ost-Süd-Debatte, die Diskussion über die strategische Autonomie Europas und der Zustand der transatlantischen Beziehungen. Deutschland und Frankreich verfolgten in allen Bereichen – trotz ähnlicher Bewertung – unterschiedliche Prioritäten. So scheue Frankreich nicht vor unilateralem Agieren zurück, falls keine europäische Handlungsoption zur Verfügung steht. Jedoch bemühe sich Paris meist, dieses Vorgehen im Nachhinein in multilaterale, europäische Formate einzubetten. Die deutsche Herangehensweise sei dagegen weniger zielgerichtet und strategisch unambitioniert. Dies wiederum stoße auf französischer Seite in der Regel auf Unverständnis und Irritation. Schlussendlich aber, so Kunz, müssten sich die beiden treibenden Kräfte in der EU auf bilateraler Ebene einigen, um ein weiteres Auseinanderdriften innerhalb der Gemeinschaft zu vermeiden. Gleichzeitig bedürfe es indes auch einer intensiveren und erweiterten strategischen Diskussion darüber, wie mit der Nato und anderen Formaten außerhalb der EU-Strukturen (u.a. die EI2) umgegangen werden soll und wie die jeweiligen nationalen Interessen und Prioritäten anerkannt werden könnten, um zu gewährleisten, dass das PESCO-Projekt gemeinsam und langfristig erfolgreich umgesetzt wird.
In einem ebenfalls vom GMF veröffentlichten Policy-Brief spricht Alice Pannier Frankreich eine wichtige Position als Mittler zu. Es sei an Frankreich, einerseits seine starken sicherheits- und verteidigungspolitischen Verbindungen mit Großbritannien verstärkt in die zukünftige europäische Sicherheitsarchitektur nach dem Brexit einzubringen; und andererseits müsse Paris EU-Initiativen in diesem Bereich gegenüber anderen uni- und bilateralen Projekten priorisieren, da die EU nur so einen kohärenten und konsistenten Ansatz entwickeln und verfolgen könne. Das sicherheitspolitische Spannungsfeld, in dem sich Frankreich bewegt, wird nach Pannier also nicht nur durch die Beziehungen zur Nato, durch Ad‑hoc-Interventionsformate und PESCO bestimmt, sondern auch durch die engen bilateralen und somit potentiell risikobehafteten Rüstungskooperationen mit Großbritannien. Auf strategischer Ebene möge die Konvergenz mit London zwar größer sein als mit den (meisten) übrigen europäischen Partnern; die Integration und Institutionalisierung der europäischen Verteidigung (inklusive der Rüstungspolitik) seien für Paris jedoch die attraktivere Option, wenn es sein politisches Gewicht in seinem Sinne vergrößern und künftig eine Führungsrolle in europäischen Verteidigungsfragen zugesprochen bekommen wolle. Dafür müsse Frankreich aber auf unilaterale (Ad-hoc-)Entscheidungen in Verteidigungsfragen verzichten.
Fazit
Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass die Betrachtungen zur Zukunft der europäischen Verteidigungspolitik in den besprochenen Think-Tank-Publikationen, die ihr Augenmerk auf Polen und Frankreich richten, differenziert ausfallen. Dies gilt auch allgemein für jene Reflexionen, die sich mit den Herausforderungen und potentiellen strukturellen Veränderungen der EU-Verteidigungspolitik befassen. Die Tatsache, dass der europäische Verteidigungsdiskurs gleichzeitig von innen-, integrations- und sicherheitspolitischen Fragestellungen geprägt wird, erschwert es den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die vielschichtigen Motivationen und Handlungsoptionen für die Beteiligung von EU-Mitgliedstaaten an PESCO zu analysieren. Doch zeigt die Durchsicht der besprochenen Publikationen auch, dass sich insbesondere die Beschreibungen der aktuell drängendsten Probleme und Krisen größtenteils decken.
Die Auswertung des in Polen vorherrschenden Diskurses macht deutlich, dass sich die Debatten in den ost- und zentraleuropäischen EU-Mitgliedstaaten von denen in Westeuropa, hier am Beispiel Frankreichs, doch stark unterscheiden. Die polnische Bewertung der gemeinsamen verteidigungspolitischen Anstrengungen fällt kritischer und distanzierter aus – eine Beobachtung, die für alle besprochenen Beiträge gilt. Diese Skepsis besteht, obwohl Warschau sowohl auf nationaler als auch auf europäischer Ebene von den neuen Initiativen in vielerlei Hinsicht politisch profitieren könnte. Ungeachtet dieser Vorbehalte hat die polnische Regierung Ende 2018 angekündigt, sich auch an der zweiten Runde der PESCO-Projekte wieder – wenn auch nur in begrenzten Umfang – beteiligen zu wollen. Vor allem Terlikowski und Muti haben darauf hingewiesen, dass sich im Rahmen der PESCO-Umsetzung für Polen die Chance eröffnen könnte, in die Rolle eines gewichtigen Maklers zu schlüpfen, der einerseits zwischen den westlichen und östlichen EU-Mitgliedstaaten vermittelt und andererseits auf eine sinnvolle Komplementarität zwischen EU- und Nato-Erfordernissen hinwirkt – wobei Warschau gewiss für den Primat der letzteren einträte.
Alle hier zitierten Autorinnen und Autoren, die sich mit den verteidigungspolitischen Interessen Frankreichs befasst haben, sind sich darin einig, dass Paris gut beraten wäre, weniger isoliert zu handeln und sich stattdessen mit Deutschland und Polen um einen gemeinsamen Ansatz zu bemühen, damit PESCO zu einem erfolgreichen Projekt wird. Dies setzt indes eine EU-weite gemeinsame Strategie voraus, die einen Ausgleich widerspiegeln müsste zwischen allen (gesamt-)europäischen und geostrategischen Interessen. Die französische Regierung hat, wie in den Beiträgen deutlich geworden ist, für die Gestaltung ihrer Verteidigungspolitik einige Optionen zur Hand. Sie kann zwischen bilateralen Abkommen über Rüstungsprojekte und politischen sowie militärischen Kooperationsformaten wählen. Paris hat seine Vorliebe für bilaterale und Ad-hoc-Formate offenbart, die nicht zwangsläufig im EU-Rahmen verortet sein müssen. Damit könnten sich neue Chancen ergeben, Großbritannien nach dem Brexit in eine künftige europäische Sicherheits- und Verteidigungsarchitektur einzubinden, ein Aspekt, den die meisten Autorinnen und Autoren kurz vor dem nahenden Brexit-Termin im Frühjahr 2019 in ihre Überlegungen mit einbezogen.
Zieht man ein Resümee der besprochenen Analysen und Kommentare, so sieht sich Frankreich als treibende Kraft in der Entwicklung einer europäischen Verteidigungspolitik, scheut sich aber bislang nicht, andere Mitgliedstaaten mit seinem Diskurs über eine strategische Autonomie der EU und dem von ihm vorangetriebenen EI2-Vorstoß zu irritieren.
Diese wissenschaftlichen Erklärungen der Motive Frankreichs wie auch des kritischen und ambivalenten Verhaltens Polens in Fragen der europäischen Verteidigungspolitik sollten in Berlin aufmerksam zur Kenntnis genommen werden. Deutschland sollte für sich daraus die Aufgabe ableiten, die auseinanderdriftenden geostrategischen Interessen zwischen dem Osten und dem Westen der EU auszutarieren, und dabei eigene Interessen mit in die Debatte einbringen. Mit anderen Worten, Berlin sollte verstärkt die Rolle eines Vermittlers einnehmen. Deutschland wird in dieser Funktion allerdings mit Kritik aus Frankreich und Polen rechnen müssen (hier sei auf Gotkowskas und Kunz’ Analysen verwiesen), denn beide Nachbarn haben sich wiederholt über die ihrer Ansicht nach zu geringe Ressourcenausstattung der Bundeswehr und die Zurückhaltung Deutschlands bei der Bewältigung von internationalen Krisen beklagt und die Glaubwürdigkeit deutscher Versprechen in Zweifel gezogen. Dass sich Berlin in Zukunft stärker in Verteidigungsfragen engagieren und damit mehr Verantwortung übernehmen sollte, ziehen nicht nur die Autoren und Autorinnen der hier besprochenen Literatur in Betracht. Auch deutsche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wie Major und Mölling (2017, siehe weiterführende Literatur) kommen zu ähnlichen Schlussfolgerungen. Im Hinblick auf PESCO kann dies bedeuten, dass Deutschland Gefahr läuft, seine eigenen Interessen hinsichtlich der Entwicklung einer europäischen »strategischen Kultur« zu vernachlässigen, wenn es keine proaktiven Beiträge zur Ausgestaltung dieser verteidigungspolitischen Initiative formuliert. Das Fehlen eines gemeinsamen strategischen Ansatzes wird in den meisten Beiträgen als problematisch für die weitere Entwicklung einer gesamteuropäischen Verteidigungspolitik verstanden. Diese Auffassung teilen in ähnlicher Form auch andere europäische »Think-Tanker«, die zu PESCO forschen. So sieht beispielsweise Blockmans (2018, siehe weiterführende Literatur) neben der Strategiefrage auch noch weitere Herausforderungen auf PESCO in naher Zukunft zukommen, die von der Politik gelöst werden müssen. Dazu gehören überzeugende und verbindliche Regeln für die Implementierung des PESCO-Rahmens in und gegenüber den beteiligten Staaten, die Vereinbarung ambitionierter Ziele bei gleichzeitigem Festhalten am inklusiven und integrativen Ansatz und die Vereinbarkeit von PESCO mit anderen Verteidigungsstrukturen in Europa. Wenn diese Punkte unerledigt blieben, könnte dies den Erfolg von PESCO gefährden, zumal wenn sich die aktuellen Tendenzen in Warschau (starker US-Fokus) und in Paris (Neigung zu Ad-hoc-Formaten) noch verstärken. Die in dieser Zeitschriftenschau referierte Literatur zeigt hinsichtlich des europäischen Verteidigungsdiskurses somit nicht nur Handlungsempfehlungen auf, die direkt Warschau und Paris betreffen. Es wurden auch implizit oder explizit konkrete Erwartungen an Berlin formuliert. Vor dem Hintergrund der laufenden politischen und wissenschaftlichen Debatten muss sich die Bundesregierungen schließlich selbst die Frage stellen, welchen Charakter die deutsche – aber auch die europäische – Verteidigungspolitik haben soll und wie sich die Vision einer gemeinsamen Verteidigungsunion und einer »europäischen Armee« – beides Begriffe, die einer rechtlichen und politischen Untermauerung noch bedürfen (vgl. Wolfstädter 2018, siehe weiterführende Literatur) – angesichts der vorhandenen Unterschiede in der EU trotzdem realisieren lassen könnte.
Besprochene Publikationen
Giuliani, Jean-Dominique, »Defence: Europe’s Awakening«, in: Jean-Dominique Giuliani/Arnaud Danjean/François Grossetête/Thierry Tardy (Hg.), Defence: Europe’s Awakening, Paris: Fondation Robert Schuman, 22.5.2018 (Policy Paper, European Issues, Nr. 474), S. 5–12.
Gotkowska, Justyna, The Trouble with PESCO: The Mirages of European Defence, Warschau: Centre for Eastern Studies (OSW), Februar 2018 (Point of View Nr. 69)
Haroche, Pierre, »France, Poland and the Relaunch of EU Defence Cooperation«, in: Barbara Jankowski/Amélie Zima (Hg.), France and Poland: Facing the Evolution of the Security Environment, Paris: Institut de Recherche Stratégique et de l’École Militaire, IRSEM, Juli 2018 (Issue 59), S. 77–84.
Kunz, Barbara, The Three Dimensions of Europe’s Defense Debate, Washington, D.C.: The German Marshall Fund of the United States (GMF), 2018 (Policy Brief Nr. 024).
Muti, Karolina, Poland: The Missing Link in European Defence, Rom: Istituto Affari Internazionali (IAI), September 2018 (IAI Commentaries Nr. 48).
Pannier, Alice, France’s Defense Partnerships and the Dilemmas of Brexit, Washington, D.C.: GMF, 2018 (Policy Brief Nr. 022).
Terlikowski, Marcin, PESCO and Cohesion of European Defence Policy, Warschau: The Polish Institute of International Affairs (PISM), 17.11.2017 (Bulletin Nr. 112 [1052]).
Terlikowski, Marcin, PESCO: First Projects and the Search for (a Real) Breakthrough, Warschau: PISM, 8.5.2018 (Bulletin Nr. 65 [1136]).
Terlikowski, Marcin, PeSCo: The Polish Perspective, Paris: Armament Industry European Research Group (ARES), Oktober 2018 (ARES Policy Paper Nr. 32).
Zaborowski, Marcin, Poland and European Defence Integration, London: European Council on Foreign Relations, Januar 2018 (Policy Brief).
Weiterführende Publikationen
Bendiek, Annegret/Ronja Kempin/Nicolai von Ondarza, Mehrheitsentscheidungen und Flexibilisierung der GASP, Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, Mai 2018 (SWP-Aktuell 31/2018).
Blockmans, Steven, »The EU’s Modular Approach to Defence Integration: An Inclusive, Ambitious and Legally Binding PESCO?«, in: Common Market Law Review, 55 (2018) 6, S. 1782–1826.
De France, Olivier/Claudia Major/Paola Sartori, How to Make PeSCo a Success, Paris: ARES, September 2017 (ARES Policy Paper Nr. 21).
Fiott, Daniel/Antonio Missiroli/Thierry Tardy, Permanent Structured Cooperation: What’s in a Name?, Paris: European Union Institute for Security Studies, November 2017 (Chaillot Paper Nr. 142).
Major, Claudia/Christian Mölling, »Was genau heißt ›neue Verantwortung‹?«, in: Internationale Politik, 72 (März/April 2017) 2, S. 89–97.
Wolfstädter, Laura Maria, »Europäische Verteidigungsunion«: Versuch einer rechtlichen Einordnung, Berlin: Jacques Delors Institut, 1.8.2018 (Blog Post).
Lena Strauß, M.A. ist Forschungsassistentin in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik.
Nicolas Lux, M.A. ist Programm-Manager im Brüsseler Büro der SWP.
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doi: 10.18449/2019ZS01