Die Partei der Piraten ist auf dem Weg, die bevorstehende Abstimmung zu kapern. Dies könnte der Beginn nachhaltiger Veränderungen im politischen System des Inselstaates sein, meinen Tobias Etzold und Christian Opitz.
Kurz gesagt, 28.10.2016 ForschungsgebieteDie Partei der Piraten ist auf dem Weg, die bevorstehende Abstimmung zu kapern. Dies könnte der Beginn nachhaltiger Veränderungen im politischen System des Inselstaates sein, meinen Tobias Etzold und Christian Opitz.
Bei den vorgezogenen Wahlen am 29. Oktober macht sich mit den Piraten unter ihrer Mitgründerin Birgitta Jonsdottir eine Anti-Establishmentpartei daran, aus dem Nichts eine wichtige Größe in der politischen Landschaft Islands zu werden. Sollte sie tatsächlich ihre Umfragewerte von zwischen 20 und 25 Prozent in ein gutes Wahlergebnis ummünzen und sich an der Regierung beteiligen, will sie vieles anders machen. Beabsichtigt ist vor allem die Zurückdrängung der Macht der in Island fest verankerten Clans, die Politik und Wirtschaft traditionell dominieren. Sie fordern daher mehr direkte Demokratie und Transparenz sowie einen konsequenten Kampf gegen Korruption und Betrug. Sinnbildlich für die traditionellen Eliten steht für viele Isländer die bislang mit der liberalen Fortschrittspartei regierende konservative Unabhängigkeitspartei unter Finanzminister Bjarni Benediktsson. In den Meinungsumfragen der letzten Wochen liefert sich seine Partei ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit den Piraten. Island scheint somit wieder einmal hin- und hergerissen zwischen dem Versprechen nach Stabilität und der Verheißung eines Neuanfangs. Ein Blick in die jüngere Geschichte legt diesen Widerstreit als Grundmerkmal in der gegenwärtigen isländischen Gesellschaft offen.
Zwischen Tradition und Erneuerung
Nachdem im Frühjahr dieses Jahres die sogenannten Panamapapiere enthüllten, dass Ministerpräsident David Gunnlaugsson und andere Politiker der Regierungsparteien an zwielichtigen Finanzgeschäften beteiligt waren, forderten zehntausende Isländer seinen Rücktritt und Neuwahlen. Ein Großteil der Bevölkerung drückte damit deutlich seinen Unmut über die sich selbst bedienende politische Elite aus. Dieser wurde verdeutlicht durch die erstmalige Wahl eines Nichtpolitikers, des Geschichtsprofessors Gudni Johannesson, zum Staatspräsidenten im Juni. Er folgte dem ebenfalls über die Panamapapiere gestolperten langjährigen Amtsinhaber Olafur Grimsson.
Auf dem Höhepunkt der Bankenkrise Anfang 2009 – ungehemmte Finanzspekulationen hatten innerhalb weniger Tage zum Konkurs der drei größten Banken geführt, deren Vermögen zehn Mal größer als das Bruttosozialprodukt Islands war – stürzten auf allerlei Hausrat lärmende Isländer die Regierung unter Führung der konservativen Unabhängigkeitspartei (daher »Kochtopfrevolution«). Letztere hatte jahrzehntelang die politischen und wirtschaftlichen Geschicke des Landes bestimmt und somit maßgeblichen Anteil am drohenden Staatsbankrott. Erstmals kam daraufhin eine Koalition aus Sozialdemokraten und Links-Grünen an die Macht. In der wirtschaftlichen Zwangslage sah diese eine einschneidende Sparpolitik als einzigen Ausweg. Die Bevölkerung lehnte sich jedoch mehrmals gegen die Wirtschafts- und Bankenreformen auf und wählte die Regierung schließlich 2013 ab. Daraufhin kehrten die alten konservativ-liberalen Kräfte an die Macht zurück und rückten von einigen Maßnahmen der Vorgängerregierung ab. Unter anderem legten sie den Entwurf für eine neue Verfassung auf Eis. Dessen außergewöhnlich basisdemokratischer Entstehungsprozess, an dem auch zufällig aus dem Volk ausgewählte Personen beteiligt waren, hatte weltweit für Aufmerksamkeit gesorgt.
Ebenfalls für Schlagzeilen sorgte die Wahl des Komikers Jon Gnarr (»Beste Partei«/»Strahlende Zukunft«) zum Bürgermeister von Reykjavik im Jahre 2010. Als Nichtpolitiker betrieb er eine überraschend kompetente und erfolgreiche Kommunalpolitik. Kurzum, in Island wechseln sich Experimente und die Rückkehr zur traditionellen Politik ab. Das Pendel zwischen Erneuerung und Tradition schwingt hin und her.
Kein Traumland für Freunde idealistischer Experimente
Auch eine mögliche Beteiligung der Piratenpartei an einer linken Regierung könnte in der Kategorie »politisches Experiment« verbucht werden. Doch unter welchen Voraussetzungen sind nachhaltige politische Veränderungen in Island möglich, für die die Piraten vorrangig stehen? Zunächst wird viel davon abhängen, ob es überhaupt gelingt eine stabile Regierung zu bilden. Dies allein wird eine enorme Herausforderung angesichts der zerklüfteten und unbeständigen Parteienlandschaft. Selbst ein bereits geplantes Bündnis aus Piraten, Links-Grünen von Katrin Jakobsdottir sowie den kleineren Sozialdemokraten und »Strahlende Zukunft« würde allen Seiten schmerzhafte Kompromisse abverlangen.
In jedem Fall müsste eine neue Regierung fähig sein, die überwiegend positive wirtschaftliche Entwicklung der letzten Jahre fortzuführen. Allerdings müsste sie dabei in bestimmten Bereichen aktiver eingreifen: Das marode Gesundheitssystem bedarf dringender Reformen und der anhaltende, kaum regulierte Boom an Touristen – deren Zahl hat sich innerhalb von drei Jahren verdoppelt und liegt mittlerweile bei 1,3 Millionen pro Jahr – überlastet bereits jetzt Infrastruktur und Natur. Es gilt die alten Fehler eines ungezügelten Wirtschaftstreibens zu vermeiden, die 2008 zum Kollaps führten. Vor allem aber verlangt die Bevölkerung nach mehr direkter Beteiligung an politischen Entscheidungen. Bei einer Einwohnerzahl von 330.000 sind viele Optionen der Mitbestimmung neben Ja-Nein-Referenden denkbar. So sieht der Verfassungsentwurf etwa vor, dass zehn Prozent der Wahlbevölkerung (etwa 24.000 Isländer) eine Gesetzesvorlage einbringen können.
Ungeachtet des Wahlausgangs werden die etablierten Kräfte des »alten« Islands nicht verschwinden. Zwar löst der traditionelle soziale Konservatismus die Pendelschwünge aus, weil er immer wieder besonders unter der jungen Bevölkerung den Wunsch nach einem »neuen« Island schürt. Andererseits bleibt er ein integraler Bestandteil des politischen Systems, da er für die notwendige Stabilität sorgt, um überhaupt politische Experimente zu wagen. Eines ist somit klar: Entgegen einem auch hier in Deutschland vorhandenen Bild war und wird Island in naher Zukunft kein Traumland für Freunde idealistischer Experimente in der Politik.
Der Text ist auch bei Zeit.de erschienen.
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