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Nord Stream 2 und das Energie-Sicherheitsdilemma

Chancen und Grenzen eines »Grand Bargain«

SWP-Aktuell 2021/A 52, 27.07.2021, 8 Seiten

doi:10.18449/2021A52

Forschungsgebiete

Washington und Berlin haben ihre Differenzen über Nord Stream 2 beigelegt. Damit ist zunächst einmal die Negativspirale eines Energie-Sicherheitsdilemmas angehalten, in die das Projekt geraten war. Während die Biden-Administration ein klares Signal setzt, dass ihr konstruktive Beziehungen zu Deutschland wichtig sind, ist die Bundes­regierung nun gefragt, die vereinbarten Punkte umzusetzen. Die Gaspipeline durch die Ostsee bleibt jedenfalls ein Politikum. Kiew und Warschau haben bereits deutlich gemacht, dass sie die deutsch-amerikanische Übereinkunft ablehnen. Ein »Grand Bargain« über Nord Stream 2, der nicht nur bilateral abgestimmt ist, sondern auch die Ukraine einbindet und Russland verpflichtet, ist noch nicht erreicht.

Die Biden-Administration und die Bundesregierung haben eine Vereinbarung über Nord Stream 2 getroffen. Sie ermöglicht die Fertigstellung der umstrittenen Gaspipeline. Bis Ende August sollen die Bauarbeiten abgeschlossen sein. Der erste Strang ist be­reits komplett verlegt, beim zweiten fehlen weniger als 40 Kilometer. Nach den Bau- und Schweißarbeiten folgen Drucktests an beiden Strängen, die noch zwei bis drei Monate dauern werden. Das bedeutet, dass technisch gesehen schon Ende dieses Jahres Gas fließen könnte. Die letzten offenen Fra­gen betreffen die Anwendung der geänderten EU-Gasrichtlinie, die Genehmigung eines Betriebsregimes und die technische Zertifizierung. In den Augen vieler Beob­achter hat die finale Entscheidungsphase im Konflikt um Nord Stream 2 begonnen.

Mit der bilateralen Vereinbarung werden die deutsch-amerikanischen Beziehungen revitalisiert, während den USA extraterritoriale Sanktionen als letzte Option bleiben. Die gemeinsame Erklärung macht deutlich, dass Washington und Berlin konstruktiv zusammenarbeiten wollen. Beide Seiten versichern zunächst, dass sie bereit sind, neue Sanktionen gegen Moskau zu verhän­gen, »sollte Russland versuchen, Energie als Waffe zu nutzen oder weitere aggressive Handlungen gegen die Ukraine zu bege­hen«. Deutschland würde in einem solchen Fall, so die Zusage, entsprechend auf die EU einwirken. Die Erklärung betont anschließend die Energiesicherheit der Ukraine und Mitteleuropas sowie die Prinzipien der EU-Gasmarktregulierung. Zu deren Umsetzung verpflichtet sich Berlin auch in Bezug auf Nord Stream 2. Ferner erklärt die Bundes­regierung, sie werde alle verfügbaren Ein­flussmöglichkeiten nutzen, um den Gas­transit durch die Ukraine um bis zu zehn Jahre zu verlängern. Deutschland wird min­destens 175 Millionen US-Dollar in einen Grünen Fonds einzahlen, um die Energietransformation und -sicherheit der Ukraine zu fördern; dieser Fonds soll auf mindestens eine Milliarde US-Dollar anwachsen, auch durch Kapital aus der Privatwirtschaft. Weitere Sondermittel von 70 Millionen US-Dollar wird Deutschland unter anderem für den Kohleausstieg der Ukraine bereitstellen. Darüber hinaus werden Deutschland und die USA im Rahmen ihrer Klima- und Ener­giepartnerschaft die Energietransformation, den Infrastrukturausbau und die Resilienz in der Ukraine sowie Mittel- und Ost­europa auch über die Drei-Meere-Initiative unter­stützen. Helfen will man dem Land über­dies mit technologischem Know-how, bei der Marktregulierung und bei seiner Inte­gration ins europäische Stromnetz. Dafür sollen auch EU-Mittel bereitgestellt werden.

Die Position Deutschlands und die Entwicklungen auf dem Gasmarkt

In Deutschland gilt seit langem das Paradig­ma einer »Kompartmentalisierung« der Gas­beziehungen mit Russland. Dahinter stehen ein marktwirtschaftlicher Ansatz und der Wunsch nach einer »Entpolitisierung« der Ostsee-Pipeline. Diese wurde von der Bun­desregierung seit Beginn des Projekts 2015 durch die ökonomische und regulatorische Brille betrachtet. Maßgeblich ist dabei die Einschätzung, dass Nord Stream die Flexibi­lität und Liquidität auf dem Gasmarkt ver­bessern werde. In sicherheits- und außenpolitischen Kreisen, auch solchen der Koali­tionsparteien, gibt es jedoch große Be­den­ken gegen das Projekt.

Das Marktregime hat die EU-Verbraucher in den letzten zehn Jahren begünstigt, aber es hat die physische Versorgungssituation nicht verändert. Die drei großen Pipeline-Lieferanten Russland, Norwegen und Alge­rien dominieren. Europa ist für Flüssigerdgas (LNG) ein Aus­weichmarkt. Gegenwärtig scheint die russische Gazprom ihre Markt­position aus­zuloten, nicht nur um von den hohen Preisen zu profitieren, sondern auch um langfristig ihren Anteil in der EU zu halten. Dazu setzt sie auf die »Nordroute« vom Gas­feld Bovanenkovo durch die Ostsee nach Nordwesteuropa. Es ist die kürzeste Route mit den günstigsten Transportbedingungen.

Allerdings schien sich im Sommer 2021 eine negative Abwärtsspirale selbsterfül­lender Prophezeiungen zu entfalten. Nord Stream 2 geriet in ein klassisches Energie-Sicherheitsdilemma, bei dem alle Seiten ihre Sicherheitsinteressen verfolgen und sich auf das Schlimmste vorbereiten. Für Deutschland zeichnete sich eine schwie­rige Situation ab (siehe SWP-Aktuell 33/2021), denn alles schien auf einen Machtkampf zwischen Washington und Moskau zu­zulaufen.

Im Verlauf des ersten Halbjahrs 2021 hat sich der lange überversorgte Gasmarkt, der den Wettbewerb und die EU-Regulierungs­macht begünstigte, wieder verengt. In den letzten zehn Jahren gab es einen Käufermarkt mit relativ niedrigen Preisen, der 2020 zusätzlich einen Preiseinbruch als Folge der Covid-19-Pandemie erlebte und von dem erwartet wurde, dass er bis über das Jahr 2025 hinaus bestehen würde. Doch mittlerweile schwingt das Pendel der Markt­macht in Richtung der Anbieter.

Ein strenger Februar und März sowie ein ungewöhnlich kalter April und Mai 2021 bewirkten, dass sich die Heizsaison in Deutschland und anderswo verlängerte. LNG wurde aber nach Asien umgelenkt, denn dort lag der Spotpreis Mitte Februar um mehr als 80 Prozent höher als in Euro­pa; oder es gelangte nicht mehr nach Europa, weil die LNG-Exporte aus den USA um zwei Drittel einbrachen. Seit Jahren sinkt die europäische Gasproduktion kon­tinuierlich, und Norwegen lieferte zuletzt wegen Wartungsarbeiten, die während der Pandemie verschoben worden waren, gerin­gere Mengen. Die Day-Ahead-Preise kletter­ten Anfang Juli in Deutschland auf 37,75 Euro pro Megawattstunde. Im Vergleich zum Vorjahr hatten sich damit die Gas­preise mehr als verfünffacht; sie lagen auf einem Niveau, das es zuletzt 2008 gab. Alles in allem bot das zweite Quartal 2021 An­lass, die kommende Winterperiode mit Sorge zu erwarten.

Dies lenkte den Blick auf die Lieferungen von Gazprom. Während Beobachter berich­ten, das Unternehmen habe im ersten Halb­jahr 2021 fast 20 Prozent weniger als im Vergleichszeitraum 2019 (vor Covid) ge­lie­fert, meldet das Unternehmen selbst Rekord­­verkäufe nach Europa. Vor allem die Gas­flüsse durch die Ukraine sind im Fokus, da diese Route Flexibilität gewährleisten könn­te. Insofern reagierte der Markt im Sommer nervös, als Gazprom die Buchung entsprechender Transport­kapazitäten unterließ.

Teil des trilateralen politischen Abkommens zwischen Russland, Ukraine und EU vom 30. Dezember 2019, mit dem ein Gas­konflikt in letzter Minute verhindert wurde, ist auch ein Abkommen zwischen Gazprom und dem staatlichen ukrainischen Energiekonzern Naftogaz zur Organisation des Gastransits. Darin verpflichtet sich Naftogaz, als Intermediär Transportkapazitäten für Gazprom von 65 Milliarden Kubik­metern pro Jahr (bcm/a) für 2020 und 40 bcm/a für den Zeitraum 2021–2024 zu buchen. Das entspricht Transitgebühren von 7,2 Milliarden US-Dollar. Die Kapazität wurde für die Jahre ab 2021 reduziert, weil man davon ausging, dass Nord Stream 2 bis 2020 fertiggestellt sein würde. Dies wurde jedoch durch US-Sanktionen verhindert. Die Ship-or-Pay-Vereinbarung bietet keine saisonale Flexibilität, da sie auf einer tägli­chen Basis von 178 Millionen Kubikmetern pro Tag (mcm/d) für 2020 und 110 mcm/d für den Zeitraum 2021–2024 berechnet wird. Darüber hinaus bietet der ukrainische Gastransportnetzbetreiber (GTSOU) seit Februar 2021 monatlich 15 mcm/d an fester Kapazität an, die von Gazprom auch immer gebucht wurden. In den Fokus aber rückten die seit Mai 2021 zusätzlich angebotenen 63,7 mcm/d an unterbrechbarer Kapazität. Obwohl angesichts der Preissteigerungen erwartet wurde, dass Gazprom Letztere ebenso buchen würde, war das nicht der Fall. Laut GTSOU entsprechen die Mengen dem Interkonnektionsabkommen mit Gaz­prom für die Übergangspunkte Sudzha und Sokhranivka. Warum die festen Mengen seit 2020 dermaßen begrenzt sind und die unterbrechbaren Kapazitäten nicht wie üblich mit einem Rabatt angeboten werden, ist unklar. Zwischen Moskau und Kiew gibt es in diesen Fragen gegenseitige Schuld­zuweisungen. Jedenfalls werden im Juli 2021 zwei Milliarden Kubikmeter weniger aus Russland ankommen, da vom 6. bis 10. Juli Wartungsarbeiten an der polnischen Jamal-Pipeline und vom 13. bis 23. Juli an Nord Stream 1 durchgeführt wurden.

Außerdem hat Gazprom keine Jahres­kapazitäten für Jamal gebucht, was darauf hindeutet, dass das Unternehmen auf eine baldige Inbetriebnahme von Nord Stream 2 setzt. Hinzu kommt, dass die Gasspeicher in Deutschland nur mit 50 Prozent der Menge gefüllt sind, die dort Mitte Juli 2020 und Mitte Juli 2019 vorhanden war. Im Ver­gleich zu den Vorjahren stark geleert sind vor allem die von der Gazprom-Tochter Astora betriebenen Speicher.

Das fehlende Teil des Puzzles sind die Gaspreise in Europa, die sich auf einem 13-Jahres-Hoch befinden, wobei sie im kom­menden Winter entweder auf dem gleichen Niveau oder leicht niedriger als die Spot- und Sommerpreise (Backwardation) an den EU-Handelsplätzen sein werden. Die gerin­gen Speicherstände könnten sich unter anderem damit erklären, dass es an bedeu­tenden Preisdifferenzen (Spreads) zwischen Sommer und Winter fehlt. Denn Händler, die nur auf die Optimierung der Einnahmen – nach einem Verlustjahr 2020 – schielen, haben wenig Anreize, auf eigene Kosten vorzusorgen. Es gibt zwar keine Anzeichen, dass Gaz­prom seinen vertrag­lichen Verpflichtungen nicht nachkommt. Doch scheint das Unter­nehmen auch nicht bereit zu sein, Swing-Lieferungen bereit­zustellen. Angesichts der hohen Preise wird geschätzt, dass der Ge­winn von Gazprom 2021 im Vergleich zum Vorjahr ohnehin um 43 Prozent steigen wird.

Versorgungssicherheit könnte nach jetzi­gem Stand in diesem Herbst und Winter zum Thema werden. LNG-Lieferungen sor­gen für Abhilfe, doch zu einem hohen Preis und nur mit zeitlicher Verzögerung. Erwar­tet wird, dass die starke LNG-Nachfrage in Asien bis ins nächste Jahr andauern wird. So ist im Winter mit extremen Preisspitzen zu rechnen, da die europäischen Speicher normalerweise eine wichtige Funktion für das Gleichgewicht des globalen Marktes haben. Asien verfügt über keine nennenswerten Speicher. Insgesamt scheinen viele der Händler darauf zu setzen, dass Nord Stream 2 zum Ende des Jahres in Betrieb sein wird. Sie gehen davon aus, dass die Pipeline Nordwesteuropa in eine komfortablere Versorgungslage bringen und preis­dämpfend wirken wird.

Russland kürzte seine Lieferungen schon im Winter 2014/2015, um Gasrückflüsse in die Ukraine zu verhindern, und es könnte gut sein, dass Moskau in diesem Herbst seine Trümpfe im Konflikt um die Pipeline auch direkt gegenüber Westeuropa aus­spielt. Lauter denn je wurden zuletzt Stim­men, die ein Moratorium für das Projekt verlangten, um zunächst dessen Auswirkungen auf die Sicherheitslage der Ukraine sowie auf das transatlantische Verhältnis prüfen und einen Konsens in der EU herbei­führen zu können. Von dieser Seite kommt nun Kritik an der erzielten bilateralen Ver­einbarung. Ein Moratorium bzw. ein Bau­stopp wird in den Wahlprogrammen der FDP und der Grünen gefordert; in den Pro­grammen von SPD und CDU/CSU bleibt die Pipeline dagegen unerwähnt. Die künftige Bundesregierung könnte jedenfalls eine andere Position einnehmen als die jetzige, die allerdings geschäftsführend im Amt bleibt, bis die – möglicherweise langwie­rigen – Koalitionsverhandlungen abgeschlossen sind. Allerdings sind die adminis­trativen Verfahren in Gang.

Die Änderung der EU-Gasrichtlinie im Februar 2019 war ein Schritt, um das Thema zu »entpolitisieren« und von der Verwaltung behandeln zu lassen. Dies schafft je­doch eine eigene Pfadabhängigkeit ohne erkennbaren Ansatzpunkt für ein Moratorium oder einen Stopp. Am 11. Juni 2021 beantragte die Nord Stream 2 AG – der Projektentwickler – bei der zuständigen Bundesnetzagentur (BNetzA) die Zertifizierung als unabhängiger Übertragungsnetzbetreiber. Dies geschah auf Grundlage von § 4b des deutschen Energiewirtschaftsgesetzes (EnWG). Das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie muss innerhalb einer Frist von drei Monaten eine Einschätzung abgeben, ob es die Energiesicherheit Deutschlands und der EU gefährdet, die Zertifizierung zu erteilen. Nach § 4a EnWG hat die Netzagentur vier Monate Zeit, in diesem Fall also bis zum 11. Oktober 2021, um eine Entscheidung zu erarbeiten und sie der EU-Kommission zur Stellungnahme zu übermitteln. Diese wiederum hat zwei Monate Zeit, eine Stellungnahme mit Emp­fehlungen zu verfassen. Der BNetzA bleiben dann wiederum zwei Monate, um ihre Ent­scheidung und alle dazugehörigen Stellung­nahmen und Dokumente zu veröffentlichen. Angesichts dieses Zeitrahmens könn­te es bis Februar 2022 dauern, bis eine Ent­scheidung vorliegt. Zuvor muss die Energie­aufsichtsbehörde des Landes Mecklenburg-Vorpommern die Inbetriebnahme genehmigen. Außerdem muss die technische Zertifizierung der gebauten Pipeline abge­schlossen werden. Ursprünglich war dafür das norwegische Unternehmen DNV GL zu­ständig, doch zog es sich unter dem Druck der US-Sanktionen im Januar 2021 zurück. Unklar ist, welche Firma jetzt die Zertifizierung nach internationalen Standards sowie denen des Deutschen Vereins des Gas- und Wasserfaches (DVGW) durchführen wird.

Die Nord Stream 2 AG hat vor Gerichten noch drei Klagen gegen die Novellierung der Gasrichtlinie anhängig. Warschau und Kiew könnten ihrerseits rechtliche Mittel gegen die Entscheidung der BNetzA ein­legen, wie das Beispiel der OPAL, einer An­bindungsleitung von Nord Stream 1, zeigt. Nach einem Urteil des Europäischen Ge­richtshofs vom 15. Juli 2021 bleiben die Transitflüsse durch die OPAL auf 50 Prozent beschränkt, das sind rund 12 bcm/a. Die rechtlichen Auseinandersetzungen um die Ostsee-Pipeline werden also noch einige Zeit andauern. Die wichtigste offene Frage betrifft die Gasflüsse auf dem Abschnitt von Nord Stream 2, der durch deutsche Küsten­gewässer führt und auf den die geänderte EU-Gasrichtlinie mit Entflechtung und Zu­gang Dritter anzuwenden ist. Es ist schwer vorhersagbar, wann und wie viel Gas unter welchen (vorläufigen) Bedingungen fließen wird. Hier könnte sich die angespannte Marktsituation zugunsten einer schnellen technischen Zertifizierung und eines bal­di­gen (vorläufigen) Betriebs von Nord Stream 2 auswirken.

Nachdem die Trump-Administration mit Blick auf amerikanisches LNG von »Molekülen der Freiheit« gesprochen hat, könnte Moskau demonstrieren wollen, dass »Ener­giesicherheit nur in enger Partnerschaft mit Russland erreicht werden kann«. Weder kann Berlin sich mit seinem Ansatz der Kompartmentalisierung in Gas­fragen auf Moskau verlassen, noch wird es leicht sein, den ukrainischen Interessen so weit entge­genzukommen, wie es die USA zur Bedin­gung für einen Kompromiss ge­macht haben.

Die Position der Ukraine

Von Anfang an war Kiew ein Gegner von Nord Stream 2. Die Ukraine hielt das 2015 gestartete Projekt für unvereinbar mit den EU-Sanktionen, die nach Annexion der Krim durch Russland im Vorjahr verhängt worden waren. Aber erst 2019 begann Kiew, in Washington und Brüssel aktiv gegen die neue Pipeline zu lobbyieren. Ob­wohl sich das amerikanisch-ukrainische Verhältnis unter Trump schwierig gestaltete, trug Kiew dazu bei, dass der US-Kongress im Dezember 2019 im Rahmen des Protec­t­ing Europe’s Energy Security Act (PEESA) Sanktionen gegen den Bau von Nord Stream 2 beschloss. Die ukrainische Füh­rung feier­te einen vorläufigen Sieg, da der Bau der Pipe­line nun de facto für anderthalb Jahre aus­gesetzt wurde. Die US-Sank­tionen waren auch ausschlaggebend dafür, dass Naftogaz das Gastransitabkommen mit Gazprom für den Zeitraum 2020–2024 unterzeichnete.

Mit Antritt der Biden-Administration hatte die Ukraine große Hoffnungen, dass die USA alle Sanktionsmöglichkeiten nut­zen würden, um den Bau der Pipeline zu stoppen. Von Biden wurde er­wartet, in der Frage konsequenter vor­zugehen als Trump. Durch Äußerungen seiner Admini­stration, Nord Stream 2 sei »ein schlechtes Geschäft für Europa«, sah sich Kiew darin bestätigt, dass Washington dem Bau der Rohrleitung nicht tatenlos zusehen würde. Tatsächlich aber gab Biden diploma­tischen Schritten den Vorzug vor wirtschaft­lichem Zwang, was Kiew erst ver­spä­tet er­kannte. Im Feb­ruar 2021 war be­reits klar, dass die USA vor extraterrito­ria­len Sank­tionen gegen ihre Verbündeten zurückschreckten und der Wiederbelebung der transatlantischen Be­ziehungen Priorität einräumten. Im Rah­men des PEESA-Sank­tionspakets nahm Washington russische Rohrverlegungsschiffe ins Visier, verschonte aber europäische Unternehmen, die an dem Projekt beteiligt waren. Später wurde be­kannt, dass die USA sich mit der Ukraine über diese Entscheidung beraten hatten. In Kiew glaubte man fest, die amerikanischen Sanktionen wür­den ausreichen, um die Pipeline zu stop­pen; jegliche ernsthafte Aus­arbeitung von Alternativ­plänen wurde so zurückgestellt.

War die Ukraine zunächst übermäßig optimistisch, so zeigte sie sich enttäuscht, als die Biden-Administration im Mai be­schloss, die Sanktionen gegen die Nord Stream 2 AG und Vorstandschef Matthias Warning aufzuheben. Die Ukraine wurde davon überrascht, nicht zuletzt deshalb, weil Washington diesmal keine Konsulta­tionen mit Kiew geführt hatte. In einem Interview äußerte sich Präsident Wolody­myr Zelensky verärgert und desillusioniert. Die amerikanische Entscheidung sei defini­tiv nicht darauf ausgerichtet, die Ukraine zu unterstützen. »Ich dachte wirklich, die Vereinigten Staaten blieben sozusagen der letzte Verteidigungsposten, wenn es um Nord Stream 2 geht.« Zelensky behauptete, Biden habe ihm »direkte Signale« gegeben, dass die Pipeline blockiert werden würde. Trotz des für die Ukraine bitteren Schritts der USA zählte sie weiterhin auf amerikanische Hilfe, nunmehr auf eine starke par­tei­übergreifende Unterstützung im Kongress.

Seitdem ist die Strategie der Ukraine zu Nord Stream 2 weitgehend unverändert ge­blieben. Sie lehnt die Pipeline nach wie vor ab und setzt sich für weitere US-Sank­tionen ein, während sie im Hintergrund an einem Notfallplan arbeitet. Svitlana Zalishchuk, neu ernannte Beraterin für internationale Angelegenheiten bei Naftogaz, hat bekräf­tigt, dass Kiews letzte Hoffnung auf einen Stopp des Projekts in Washington und nicht in Berlin liege. Im Juni reiste das neue Naftogaz-Team in die amerikanische Haupt­stadt, um für verschärfte Sanktionen zu werben. Kiew hofft, dass der US-Kongress den Druck auf die Biden-Administration erhöht, effektivere Sanktionen zu verhängen, auch gegen eine Zertifizierung der Pipeline, und die Verzichtserklärung für Sanktionen (Waiver) aufzuheben. Darüber hinaus sieht Kiew im amerikanischen Glo­bal Magnitsky Act von 2016 eine neue Chance für den Kampf gegen Nord Stream 2. Der Ausschuss für auswärtige Beziehungen des US-Senats unterstützte einstimmig eine Gesetzesvorlage, die es ermöglichen soll, das Pipeline-Projekt auf Korruption zu untersuchen. Der Entwurf, der noch der vollen Zustimmung des Kongresses bedarf, sieht gemäß dem Global Magnitsky Act die Einführung von Sanktionen gegen Unter­nehmen vor, die in Korruptionsaktivitäten im Rahmen des Projekts verwickelt sind. Naftogaz-Vorstandschef Jurij Vitrenko deu­tete an, dass etwaige Sanktionen auf russi­sche Oligarchen wie Arkadij Rotenberg und Gennadij Timtschenko abzielen könnten, die zu den maßgeblichen Subunternehmern von Nord Stream 2 gehören, allerdings schon heute unter Sanktionen stehen.

Es überrascht nicht, dass Kiew für die Idee eines »Grand Bargain« mit Deutschland und den USA völlig unempfänglich ist. Die Ukraine sieht Nord Stream 2 als eine exis­tenzielle Bedrohung und fürchtet damit mehr als nur wirtschaftliche Verluste beim Gastransit in Höhe von 1,5 bis 3 Milliarden US-Dollar pro Jahr. Darüber hinaus treibt Kiew die Sorge um, dass Russland nach Fer­tigstellung der Pipeline ungehindert eine großangelegte militärische Invasion in der Ukraine starten könnte.

Während sich der Bau von Nord Stream 2 dem Ende zuneigt, hat Kiew verspätet da­mit begonnen, einen Plan B auszuarbeiten. Die öffentlichen Diskussionen zu die­sem Thema haben die Uneinigkeit zwi­schen ukrainischen Diplomaten, Politikern und Experten offenbart. Einige argumentieren, es sei im Interesse der Ukraine, eine aktive Position in den Verhandlungen ein­zuneh­men, um bessere Bedingungen zu sichern. Andere lehnen einen »Grand Bar­gain« vehe­ment ab und machen geltend, es würde als Zugeständnis an Russland wahr­genommen, sollte Kiew einem Entschädigungspaket zustimmen. Unabhängig von ihren Stand­punkten sind sich beide Grup­pen einig, dass die Ukraine ihre Handlungsfähigkeit stärken sollte. Es gibt Befürchtungen, das Land könnte seine Stimme in der Debatte um Nord Stream 2 verlieren – mit der Folge, dass über das Schicksal der Pipe­line unabhängig von ukrainischen Inter­essen entschieden wird.

Der Widerstand gegen die Pipeline geht einher mit Vorbereitungen auf den Fall, dass sie fertiggestellt wird. Indem sich die Ukraine weiter gegen das Projekt und für mehr Sanktionen einsetzt, sucht sie den Druck auf Russland zu erhöhen und so einen größeren Handlungsspielraum für sich zu schaffen. Die Optionen, die in die­sem Kontext diskutiert werden, betreffen marktwirtschaftliche, rechtliche und geo­ökonomische Instrumente. Erstens will Kiew die EU-Energiemarkt­regeln dahin­gehend ausnutzen, dass sich Russlands Monopolisierung der Gasflüsse aus Zen­tral­asien anfechten lässt. Naftogaz ist bereit, rechtliche Schritte gegen Gaz­prom durch ein internationales Schiedsverfahren ein­zuleiten. Damit soll das Transportmonopol des russischen Konzerns an­gegriffen und eine Durchleitung von Gas aus Zentralasien durch Russland bis in die Ukraine erstritten werden. Ferner soll die Umsetzung der Gas­richtlinie die Transport­mengen auf Nord Stream 2 durch Markt­instrumente begren­zen. Die zweite Option, die in Kiew an Zug­kraft gewinnt, besteht in der alten Idee, dass europäische Unternehmen Gas direkt an der russisch-ukraini­schen Grenze abneh­men und selbst Kapazi­täten von GTSOU buchen. Nach An­sicht von Naftogaz-Chef Vitrenko wäre dies die beste Garantie für die Ukraine, dass der Gas­transit gewährleistet bleibt. Die dritte Option für die Ukraine ist die Nutzung ihrer riesi­gen Gasspeicher. Schließlich könnte ein Beitritt zur Drei-Meere-Initiative der Ukraine hel­fen, ihre Energiekonnektivität mit Mittel­europa zu verbessern und die historische Abhängigkeit von der »Ost-West-Achse« zu verringern.

Die Ukraine setzt große Hoffnungen in die anstehende Bundestagswahl und ein gutes Ergebnis der Grünen. Diese lehnen Nord Stream 2 vehement ab – aus ökolo­gischen Motiven ebenso wie wegen sicher­heitspolitischer Negativfolgen für die Ukraine. Die Perspektive, dass die Partei der künftigen Koalition in Berlin angehören könnte, lässt Kiew zögern, sich auf einen Kompromiss mit der jetzigen Bundesregierung einzulassen. Dabei hat die jetzt erziel­te amerikanisch-deutsche Vereinbarung die Sorge in Kiew vertieft, dass über das Schick­sal der Pipeline abseits ukrainischer Inter­essen entschieden werden könnte.

Was nun?

Die bilaterale Vereinbarung zwischen Wa­shington und Berlin ist ein erster Schritt, schafft aber noch keine Einigung mit der Ukraine. Sie ist ohne einen EU-Konsens erfolgt und setzt ein konziliantes Verhal­ten Moskaus voraus. In der Übereinkunft wird ein breites Spektrum an wichtigen lang­fristigen Maßnahmen skizziert, mit denen die negativen Auswirkungen von Nord Stream 2 für die Ukraine ausgeglichen werden sollen. Kiew jedoch ist auf kurz­fristige und konkrete Sicherheitsgarantien fokussiert. Wer sich im traditionellen Energie-Sicherheitsdilemma gefangen sieht, lässt sich daraus kaum mit der Aussicht auf eine langwierige Energietransformation befreien, zumal sicherheits- und energie­politische Sorgen und Interessen zusammenspielen. Kiew und Warschau haben die Vereinbarung scharf kritisiert. Ihrer An­sicht nach sind die Sicherheitsgarantien unzureichend, mit denen sich die Bedrohungen durch Nord Stream 2 begrenzen ließen. Auch wenn Sanktionen für den Fall zugesagt werden, dass Moskau aggressives Verhalten an den Tag legt, fehlt aus ukrai­nischer und polnischer Sicht ein konkreter »Shutdown«-Mechanismus für die Ostsee-Pipeline. Der freilich ist und bleibt rechtlich und wirtschaftlich kaum umsetzbar.

Kiew hatte im Vorfeld erfolgslos versucht, die Diskussion auf harte Sicherheitsfragen zu verlagern. Dies betraf Punkte wie etwa die Räumung ukrainischer Territorien durch Russland, eine Diskussion über Ener­gie im Normandie-Format oder die Liefe­rung von Waffen. Eine Zustimmung zu finanziellen Entschädigungen betrachtet Kiew als inakzeptabel und als Zugeständnis an Moskau. Stattdessen hat die Ukraine mittlerweile die Strategie eingeschlagen, sich direkt mit der Europäischen Kommission auseinanderzusetzen. Sie beruft sich dabei auf Artikel 274 ihres Assoziierungsabkommens mit der EU, der besagt, dass die Parteien sich bei Infrastrukturentwicklungen gegenseitig konsultieren oder abstimmen sollen.

Auf die Verlängerung des aktuellen Gas­transitabkommens über 2024 hinaus könn­ten sich Washington, Kiew, Berlin und Brüssel einigen, doch würde dies Moskaus Zutun voraussetzen. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat nach Verkündung der deutsch-amerikanischen Übereinkunft mit Präsident Wladimir Putin telefoniert, Außenminister Sergei Lawrow aber hat die von Berlin gemachten Zusagen bereits kritisiert. Der Teufel steckt in den Details – sie betreffen die Transitmengen, die Tarife nach 2024 und die künftige Laufzeit, aber auch Gasimporte. Obwohl eine Verlängerung des Gastransits der gemeinsame Nen­ner ist, wird sie unterschiedlich interpretiert. Aus deutscher Sicht ist mehr Transparenz rund um das ukrainisch-russische Interkonnektionsabkommen nötig. Auch muss sich die Ukraine als attraktiver Trans­portkorridor, Speicherort und Handelsplatz beweisen und etablieren. Aus ukrainischer Sicht wäre eine akzeptable Option, den Gas­transit um 15 Jahre für eine Kapazität von 45 bis 50 bcm/a zu ver­längern, mit finan­ziellen Garantien von europäischen Banken und Unternehmen, nicht von Russland. Eine geringere Kapazi­tät würde es technisch schwierig und teuer machen, das Gastransportsystem und die Speicher zu betreiben sowie die Rückflüsse aus Europa zu realisie­ren. Legt man aller­dings bestehende Lang­fristverträge nach Südosteuropa jenseits der Ukraine zugrunde, so ergeben sich weit niedrigere Trans­portmengen von 20 bcm/a. Nur für die Ukraine ist es eine attraktive Option, ein internationales Konsortium zu schaffen, mit dem sich europäische und amerikanische Unternehmen am Betrieb des ukraini­schen Gastransportsystems be­teiligen wür­den. Dieser Punkt fehlt in der Vereinbarung zwischen Deutschland und den USA. Die jüngsten Skandale um die Unternehmensführung von Naftogaz ver­stärken die Skep­sis, ob die Ukraine willens ist, Reformen durchzuführen.

Aus deutscher Sicht sind die Kernelemen­te des Kompromisspakets offensichtlich: die Integration der Ukraine in den europäi­schen Energiemarkt sowie die Einbindung des Landes in die Energiewende, etwa bei Wasserstoff. Die Ukraine wird Partner im europäischen Green Deal. Kiew wiederum ist zwar daran interessiert, an den De­karbo­nisierungsplänen der EU zu partizipieren, sieht aber europäische Investitionen in grüne Projekte der Ukraine nicht als Ent­schärfung der Bedrohung durch Nord Stream 2.

US-Kongressabgeordnete haben die Biden-Administration aufgefordert, die Sicherheitsbedenken der Ukraine gegenüber Nord Stream 2 zu berücksichtigen und den für den 30. August geplanten Besuch von Präsident Zelensky in Washington zu verschieben. Zu diesem Termin wäre es Zelensky aufgrund der Parlamentsferien nicht möglich, im Kongress direkt für Unterstützung zu werben. Anfang Juni 2021 hat ein Ausschuss des Repräsentantenhauses bereits eine Gesetzesänderung bestätigt, die – sollte der Antrag so ange­nommen werden – die Biden-Administra­tion daran hindern würde, die vom Kon­gress verordneten Sanktionen mittels Wai­vern aufzuheben. Parallel dazu will der republikanische Senator Ted Cruz im Senat seine Bestätigung aller 13 Nominierungen Bidens für das State Department zurück­halten, bis die Waiver aufgehoben werden. Der nächste PEESA-Sanktionsbericht ist am 17. August fällig. Es wird erwartet, dass die Biden-Administration die bestehenden Waiver verlängert und die neuen mit ein­be­zieht, um die verbleibende Zertifizierungsfrage zu lösen. Da sich der Bau der Pipeline dem Ende zuneigt, sind die Sanktionen zur Zertifizierung eine von nur noch wenigen Möglichkeiten für die Gegner der Pipeline, um sie zu stoppen. Sollte die parteiübergreifende Opposition im Kongress bestehen bleiben oder gar wachsen, hätte Biden kaum eine andere Wahl, als extraterrito­riale Sanktionen zu verhängen.

In Deutschland werden die Bundestagswahlen im September wahrscheinlich zu einer neuen Regierungskoalition führen. Unabhängig von deren Zusammensetzung wird Russland eine Herausforderung für die nächste deutsche Regierung bleiben. Im Umgang mit Moskau könnte es dann weni­ger um eine explizite »Kompartmentalisierung der Energiebeziehungen« gehen als vielmehr darum, das wech­selseitige Ver­hältnis in bestimmten Para­metern zu halten und eine Balance zwi­schen Kooperation, Konfrontation und Wettbewerb mit Russ­land in der Nachbarschaft zu finden. Dies erfordert eine lang­fristige Stra­tegie und eine Zusammenarbeit in den Bereichen, in denen ein Engagement mit Russland im Interesse Deutschlands und der EU liegt (siehe SWP-Aktuell 48/2021). Vor allem aber müssen die Energiebeziehungen zu Mittel- und Osteuropa sowie der Ukraine zur Kohä­sion Europas beim Green Deal beitragen. Hier könnte die gemein­same Erklärung Washingtons und Berlins durchaus rich­tungsweisend sein.

Dr. Maria Shagina ist Postdoctoral Fellow am Center for Eastern European Studies der Universität Zürich.
Dr. Kirsten Westphal ist Wissenschaftlerin in der Forschungsgruppe Globale Fragen.

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