Im Juli 2020 nährte eine militärische Auseinandersetzung zwischen armenischen und aserbaidschanischen Streitkräften die Sorge vor einem Rückfall in regelrechten Krieg, wie ihn die beiden Seiten von 1992 bis 1994 geführt hatten. Der neuerliche Vorfall war der schwerste militärische Zusammenstoß in einer Grenzzone außerhalb Berg-Karabachs seit 1994. Doch im Mittelpunkt der prekären zwischenstaatlichen Beziehungen steht nach wie vor der ungelöste Konflikt um diesen De-facto-Staat und sieben aserbaidschanische Provinzen in seiner Umgebung, die unter der Kontrolle armenischer Truppen stehen. Der jüngsten Eskalation war von 2018 bis zum Frühjahr 2019 eine Phase der Entspannung vorausgegangen. Während dieser Zeit hatten die Kontakte zwischen Armeniens und Aserbaidschans Staatsführern zugenommen und diese ihre Bereitschaft bekundet, sich verstärkt auf eine friedliche Konfliktregelung einzulassen und die Bevölkerungen in diesen Prozess einzubeziehen. Bald darauf aber wurde der Ton wieder schärfer.
Vom 12. bis zum 16. Juli 2020 war an einem Abschnitt der Staatsgrenze zwischen Aserbaidschan und Armenien gegenseitiger Artilleriebeschuss zu verzeichnen. Laut offiziellen Angaben kamen dabei mindestens 17 Menschen ums Leben – auf armenischer Seite vier Militärangehörige, auf aserbaidschanischer ein Zivilist und 12 Militärs, darunter der ranghöchste im Schusswechsel mit armenischen Streitkräften gefallene Offizier seit dem Ende des Karabach-Krieges 1994. Der umkämpfte Grenzabschnitt verläuft zwischen der aserbaidschanischen Provinz Tovuz und der armenischen Provinz Tavush unweit Georgiens. Er befindet sich in der Nähe wichtiger Transitprojekte, die den kaspischen Raum mit Europa verbinden und zwischen Aserbaidschan, Georgien und der Türkei verlaufen.
Wie bei Gewaltzwischenfällen zuvor bezichtigten beide Seiten den jeweiligen Gegner, die militärische Auseinandersetzung provoziert zu haben. Nach dem 16. Juli ließen die Kämpfe nach, doch die Kontrahenten beschuldigten sich auch weiterhin militärischer Übergriffe. Diese Entwicklung hatte besorgniserregende Auswirkungen. In Aserbaidschans Hauptstadt Baku versammelten sich am 14. Juli Zigtausende Demonstranten vor dem Parlament und riefen zum Kampf auf. Die militärische Eskalation an der Grenze strahlte weltweit in die armenischen und aserbaidschanischen Diasporagruppen aus. Laut Mitteilung der aserbaidschanischen Botschaften griffen Armenier aserbaidschanische Demonstranten in London, Los Angeles und Brüssel an. Dagegen beklagte zum Beispiel der Zentralrat der Armenier in Deutschland einen Brandanschlag auf die armenische Botschaft in Berlin und Attacken auf Geschäfte in Köln und Hamburg, die von Armeniern betrieben werden.
Jede Konfliktpartei warf der anderen vor, mit militärischen Aktionen von akuten internen Problemen ablenken zu wollen. Aserbaidschan steckt in einer Wirtschaftskrise, weil die Weltmarktpreise für Energierohstoffe sinken. Armenien wiederum leidet schwer unter der Corona-Krise – dort stieg die Zahl der Neuinfektionen im Juni und Juli dramatisch an. Gerade diese Herausforderungen aber deuten darauf hin, dass sich weder Armenien noch Aserbaidschan die Eskalation eines Gewaltzwischenfalls bis zum offenen Krieg leisten können.
Eine kurze Phase der Entspannung
Nach dem Machtwechsel in Armenien durch die »Samtene Revolution« vom Frühjahr 2018 keimte die Hoffnung, dass die konfliktbeladene Beziehung zu Aserbaidschan sich entspannen könnte. Hochrangige Treffen zwischen den Außenministern und den Staatsführern der beiden Länder nahmen zu. Ein Abkommen vom September 2018 eröffnete einen direkten Kommunikationskanal zwischen ihren Regierungen. An der Waffenstillstandslinie um Berg-Karabach traten so wenig Gewaltzwischenfälle auf wie seit 2013 nicht mehr. Bei einem Außenministertreffen in Paris am 16. Januar 2019 teilten beide Seiten mit, dass sie ihre Gesellschaften auf ein Friedensabkommen vorbereiten wollten. Die Bevölkerung in Armenien, Berg-Karabach und Aserbaidschan solle besser über die offizielle Mediation in dem Konflikt informiert, zivilgesellschaftliche Gruppen sollten stärker einbezogen werden. Allerdings wies Baku die Forderung des neuen armenischen Premiers Nikol Paschinjan zurück, Berg-Karabach an den Verhandlungstisch der Minsker OSZE-Gruppe zurückzuholen.
Gegen Ende 2018 verkündete der aserbaidschanische Präsident Ilham Alijew, 2019 könne das »Jahr des Durchbruchs« werden. Das war umso erstaunlicher, als er zuvor wiederholt beklagt hatte, die Verhandlungen im Rahmen der OSZE zur Konfliktbearbeitung seien erfolglos, und eine »militärische Konfliktlösung« als Alternative zur vergeblichen Diplomatie erwähnt hatte. Nun jedoch verlautete aus Baku, Kontakte zwischen den bislang völlig voneinander getrennten Gesellschaften Berg-Karabachs und des übrigen Aserbaidschan sowie die Rückkehr von Binnenvertriebenen in ihre Heimatorte könnten die humanitäre Lage im Umfeld des ungelösten Konflikts verbessern und einer Einigung den Weg bereiten. Zugleich zog Alijew indes eine rote Linie: Die maximale Konzession an Berg-Karabach sei ein Autonomiestatus innerhalb Aserbaidschans. Auf der Gegenseite lehnte der armenische Regierungschef Paschinjan die Formel »territories for peace« ab. Sie besagt, dass eine friedliche Konfliktlösung nur dann möglich ist, wenn zuvor die von armenischen Truppen kontrollierten Provinzen in der Umgebung Berg-Karabachs an Aserbaidschan zurückgegeben werden.
Schon im Frühjahr 2019 neigte sich die Entspannung ihrem Ende zu. Bei seinem Aufenthalt in den USA im März verkündete der armenische Verteidigungsminister Dawid Tonojan, sein Land müsse sich auf eine aktive Verteidigungsstrategie vorbereiten, und sprach von »new war for new territories«. Als Premier Paschinjan im August 2019 Stepanakert besuchte, die Hauptstadt Berg-Karabachs, bekräftigte er: »Karabach ist Armenien – Punkt!« Präsident Alijew konterte in Sotschi auf der Konferenz des Valdai-Klubs im Oktober mit »Karabach ist Aserbaidschan – Ausrufezeichen!«. In einem Kommentar zu dieser Auseinandersetzung war die Rede von einem »war of punctuations«. Während der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2020 präsentierten Alijew und Paschinjan die bekannten historischen Narrative, die das umstrittene Gebiet als uralten Bestandteil der eigenen Nationalgeschichte ausweisen. Ein Beobachter meinte dazu: »Die Münchner Konferenz hat gezeigt, dass die Führer beider Länder eher bereit sind, in das 2. Jahrhundert v. Chr. zurückzugehen, als über die Zukunft zu diskutieren.«
Streitpunkte im Konflikt um Berg‑Karabach
Die Eskalation vom Juli 2020, während der es in Berg-Karabach und seiner Umgebung relativ ruhig blieb, lenkte den Blick auf eine Grenzregion weit außerhalb dieser Konfliktzone. Dort leben etwa 150 000 Menschen in 26 armenischen und 84 aserbaidschanischen Dörfern an einem nicht demarkierten Grenzabschnitt mit militärischen Anlagen auf beiden Seiten. Gleichwohl stehen nach wie vor Berg-Karabach und die von armenischen Truppen ganz oder teilweise kontrollierten sieben aserbaidschanischen Provinzen in seiner Umgegend im Mittelpunkt der prekären zwischenstaatlichen Beziehungen. Seit dem Ende des Karabach-Krieges werden diese durch ein Waffenstillstandsabkommen von 1994, das Russland vermittelte, mit der Formel »Weder Krieg noch Frieden« umschrieben. Dem Waffenstillstand folgte kein Friedensvertrag, und an der »line of contact«, an der sich Scharfschützen gegenüberstehen, traten immer wieder Gewaltzwischenfälle auf. Bei den Schusswechseln kamen jedes Jahr Dutzende Menschen ums Leben. Besonders zwischen 2014 und 2016 eskalierte hier die Gewalt. Waren es 72 Todesopfer (darunter acht Zivilisten) im Jahre 2014 und 80 (darunter fünf Zivilisten) 2015, folgte im April 2016 die schlimmste Eskalation seit 1994. Sie kostete 200 Kombattanten und 25 Zivilisten das Leben. Gelegentlich griffen die Gewaltzwischenfälle auf Abschnitte der Staatsgrenze außerhalb der Konfliktzone über, wo aber zwischen 2016 und 2018 nur sieben Prozent aller Todesopfer zu verzeichnen waren. In den letzten zwei Jahren hat sich dieser Anteil verdoppelt, während die Gesamtzahl der Gewaltzwischenfälle sank.
Noch im März 2019, als sich das Ende der Entspannungsphase abzeichnete, plädierte Paschinjan für eine Lösung in der Karabach-Frage, »die gleichermaßen akzeptabel für das Volk Armeniens, das Volk von Artsach (Berg-Karabach) und das Volk Aserbaidschans sein sollte«. Eine solche Lösung ist in fast drei Jahrzehnte währenden internationalen Mediationsbemühungen bisher nicht gelungen. Die Minsker OSZE-Gruppe unter Leitung der drei Co-Vorsitzenden Russland, USA und Frankreich vermittelte seit 2007 »Basisprinzipien« für eine friedliche Konfliktlösung. Sie umfassen einen Interim-Status für Berg-Karabach bis zur Regelung seines endgültigen Rechtsstatus »durch rechtlich verbindliche Willensäußerung«, die Rückgabe der Territorien in seiner Umgebung an Aserbaidschan, einen Korridor zwischen Armenien und Berg-Karabach, das Recht aller Flüchtlinge und Binnenvertriebenen auf Rückkehr in ihre Heimatorte sowie Sicherheitsgarantien einschließlich einer internationalen Peacekeeping-Operation. Doch die Ansichten der Konfliktparteien über die Umsetzung dieser Prinzipien und deren Reihenfolge gingen auseinander.
Der Status Berg-Karabachs
Im Streit um Berg-Karabach prallen zwei völkerrechtliche Prinzipien aufeinander: Auf der einen Seite steht das Prinzip der territorialen Integrität, auf das sich Baku mit Bezug auf das Territorium der einstigen sowjetischen Unionsrepublik Aserbaidschan beruft und das von der internationalen Gemeinschaft insofern bestätigt wird, als kein Staat bislang die Unabhängigkeit Berg-Karabachs diplomatisch anerkannt hat. Auf der anderen Seite begründet Armenien mit dem Recht auf nationale Selbstbestimmung die Lostrennung des mehrheitlich von Armeniern bewohnten ehemaligen autonomen Gebiets von der Republik Aserbaidschan. Präsident Alijew hat wiederholt betont, dass Volk und Staat seines Landes niemals einen zweiten armenischen Staat auf dem »historischen Territorium Aserbaidschans« dulden werden. Auch die Opposition und weite Teile der von staatlichen Behörden schikanierten Zivilgesellschaft teilen diese Einstellung. Als einzig zulässigen Kompromiss bietet Aserbaidschan Berg-Karabach einen »autonomen Status« innerhalb seines Staatsgebiets an, der allerdings kaum konkretisiert wurde. Im Oktober 2016 sprach Präsident Alijew erstmals von einer »autonomen Republik«. Zuvor war stets die Rede von einem »autonomen Gebiet«. Darin sah der US-amerikanische Co-Vorsitzende der Minsker OSZE-Gruppe ein Signal für den Start ernsthafter Diskussionen über den Status.
Gemäß den Basisprinzipien unterliegt das Gebiet einem Interim-Status, bis der Rechtsstatus geklärt ist. In der Auseinandersetzung darüber bot Baku während der Entspannungsphase einen Kompromiss an, der dem weltweit isolierten und nur mit der Republik Armenien eng verbundenen De-facto-Staat eine »begrenzte Außenpolitik« ermöglichen soll. Im Gegenzug erwartet Aserbaidschan von Eriwan und Stepanakert, dass die armenischen Truppen aus den Provinzen in der Umgebung Berg-Karabachs abziehen. Das ist allerdings nicht zu erwarten, solange Baku wiederholt auf eine »militärische Konfliktlösung« hinweist und keine internationale Sicherheitsgarantie für Berg-Karabach besteht.
Im Streit um den endgültigen Rechtsstatus geht es darum, welche Bevölkerungsgruppen zur Abstimmung berechtigt sind und wie und wo abgestimmt werden soll. Aserbaidschan hat zwei getrennte Abstimmungen in Erwägung gezogen: Ihre Voten separat abgeben sollen demnach die armenische Bevölkerungsmehrheit in Berg-Karabach und die Gemeinschaft der aus diesem Gebiet vertriebenen Aserbaidschaner, die in verschiedenen Regionen Aserbaidschans lebt und heute etwa 60 000 Mitglieder umfasst. Armenien würde sich allenfalls auf eine einheitliche Abstimmung mit Beteiligung der aserbaidschanischen Binnenvertriebenen einlassen. Diese könnten eine Mehrheit für ein Unabhängigkeitsvotum in Berg-Karabach nicht verhindern.
Die Territorien in der Umgebung Berg-Karabachs
Seit 1994 stehen im Grenzgebiet zu Berg-Karabach fünf aserbaidschanische Provinzen ganz, zwei weitere teilweise unter der Kontrolle armenischer Truppen. Sie waren zuvor überwiegend von Aserbaidschanern bewohnt, die aus diesen Gebieten vertrieben wurden. Aus ihnen kamen weit mehr aserbaidschanische Flüchtlinge und Vertriebene als aus Berg-Karabach selbst. Besonders in jenen Territorien, die zwischen der Republik Armenien und Berg-Karabach liegen, förderten die Regierungen Armeniens und Berg-Karabachs den Ausbau von Verkehrsverbindungen und neuer Siedlungen. Zwar verfolgte die Regierung in Eriwan keine offizielle Politik der Ansiedlung von Armeniern in diesen Gebieten, um nicht internationale Kritik zu erregen. Dennoch ließen sich nach und nach Armenier in diesen Territorien nieder. Heute leben dort etwa 17 000 von ihnen.
Nach einer ersten Erkundungsmission forderte die Minsker OSZE-Gruppe 2005, diese Siedlungspolitik zu beenden. Ein Jahr später verabschiedete die De-facto-Regierung in Berg-Karabach eine Verfassung, die ihre Jurisdiktion über die angrenzenden Territorien und die Siedlungen dort postulierte. In den Siedlungen wurde die Landwirtschaft ausgebaut. Aserbaidschan beschwerte sich auf internationaler Ebene über diese Entwicklung, die es als grobe Verletzung der Verhandlungsprinzipien ansieht. Je mehr neue Siedlungen entstehen, desto stärker wächst auf armenischer Seite die Abneigung gegen die international geforderte Rückgabe dieser Territorien an Aserbaidschan, gegen die Rückkehr von Aserbaidschanern, die aus ihnen vertrieben wurden, und gegen den Abzug armenischer Truppen. Militärische Gewaltzwischenfälle wie im April 2016 und im Juli 2020 verfestigen diese Haltung noch. Im März 2019 wandte sich der Leiter des Nationalen Sicherheitsdienstes Armeniens gegen Spekulationen über territoriale Konzessionen an Aserbaidschan und sprach von einem Programm, Armenier auf den Gebieten anzusiedeln, die unter Kontrolle der armenischen Armee stehen.
Jeder Versuch der neuen armenischen Führung, hier Kompromisse auf den Weg zu bringen, könnte auf Opposition in Berg-Karabach, in der weltweiten armenischen Diaspora und in Armenien selbst stoßen. Damit hat sich eine emotionale und politische Barriere gegen eins der Basisprinzipien für friedliche Konfliktlösung aufgebaut. Die externen Vermittler in dem Konflikt sehen sich mit der Herausforderung konfrontiert, die Situation in den sieben Provinzen umfassend und unabhängig zu überprüfen. Erkundungsmissionen der OSZE in den Jahren 2005 und 2010 waren begrenzt und wurden dieser Aufgabe noch nicht gerecht.
Rückkehr Berg-Karabachs an den Verhandlungstisch
Ein weiterer Streitpunkt ist die Forderung der neuen Führung in Eriwan nach der Rückkehr Berg-Karabachs in das Verhandlungsformat der Minsker OSZE-Gruppe. Vor 1998 saßen dessen Repräsentanten mit am Verhandlungstisch. Dann aber verlor der De-facto-Staat seine Position als eigene Verhandlungspartei, nachdem sein erster »Präsident« Robert Kotscharjan in das Präsidentenamt der Republik Armenien aufgestiegen war. Im Umfeld der Republikanischen Partei Armeniens stammten nun viele Vertreter der Staatsführung aus Berg-Karabach oder aus der Karabach-Bewegung, die sich seit 1987 in Armenien entfaltet hatte. Dazu gehörte auch der 2018 entmachtete Sersch Sargsjan, der in den 1990er Jahren hohe Staatsämter in Stepanakert wie das des Verteidigungsministers bekleidet und 2008 die Nachfolge Kotscharjans als Präsident Armeniens angetreten hatte. Aus Sicht Aserbaidschans herrschte in Armenien von 1998 bis 2018 ein »Karabach-Clan«. Mit der Samtenen Revolution vom Frühjahr 2018 verlor diese Machtelite ihre Führungsposition.
Der neue Regierungschef Nikol Paschinjan beteuerte anfangs, er könne nicht für Berg-Karabach sprechen, sondern sei nur für die Republik Armenien zuständig, und forderte, den De-facto-Staat wieder an den Verhandlungen zu beteiligen. Allerdings lief Paschinjan damit Gefahr, dass die Opposition aus der alten Machtelite der neuen Führung Nachlässigkeit in puncto Karabach vorwerfen könnte. Dem trat Paschinjan entgegen, indem er seine Rhetorik zum Karabach-Problem stärker patriotisch und panarmenisch ausrichtete. So brachte er eine mögliche Vereinigung Berg-Karabachs mit der Republik Armenien ins Spiel und rief damit in Aserbaidschan scharfe Reaktionen hervor. Schon zuvor, als Paschinjan sich eher moderat zu Berg-Karabach geäußert hatte, war Aserbaidschan nicht bereit gewesen, eine Rückkehr des De-facto-Staats an den Verhandlungstisch zu akzeptieren. Auch die Co-Vorsitzenden der Minsker OSZE-Gruppe zeigten sich zurückhaltend gegenüber einer Änderung des bestehenden Verhandlungsformats.
Die Haltung externer Akteure
Von anderen Streitfällen im Raum der ehemaligen Sowjetunion wie den Sezessionskonflikten Georgiens oder den Kämpfen in der Ostukraine hat sich der Konflikt um Berg-Karabach bislang dadurch unterschieden, dass er nicht in einen Kontext mit geopolitischer Rivalität oder einem neuen Ost-West-Konflikt gesetzt wurde. Russland stellte sich hier nicht gegen die westlichen Akteure. Neben den USA und Frankreich hat es die Position eines Co-Vorsitzenden der Minsker OSZE-Gruppe inne. Zwischen Washington, Paris und Moskau traten keine grundsätzlichen Meinungsverschiedenheiten über die Konfliktvermittlung zutage, auch wenn Russland bemüht ist, die führende Rolle in der Konfliktmediation zu spielen. In der neuerlichen Eskalationsphase riefen mahnende Stimmen aus Moskau, Washington und Brüssel sowohl Armenien als auch Aserbaidschan dazu auf, keinen Krieg heraufzubeschwören. Eine einseitige Erklärung kam lediglich aus der Türkei, die sich ganz auf die Seite Aserbaidschans stellte. Einige Kommentatoren deuteten die Gefahr eines Stellvertreterkriegs an – mit Blick auf Russland und die Türkei, die in Konfliktregionen wie in Libyen jeweils gegnerische Kräfte militärisch unterstützen.
Russland ermahnte jedoch Armenien und Aserbaidschan, eine weitere Eskalation zu verhindern. Kommentatoren aus hohen Sicherheitskreisen in Moskau zeigten sich besorgt, dass die Gewalt an der armenisch-aserbaidschanischen Grenze Zusammenstöße zwischen Armeniern und Aserbaidschanern in russischen Städten provozieren könnte, leben in Russland doch große Diasporagruppen und Arbeitsmigranten aus beiden Völkern. Aus Sicht eines russischen Militärexperten lautet die Botschaft des Kreml: »Wir sind neutral. Wir respektieren beide Völker und werden nicht die eine Seite gegen die andere unterstützen.« Das steht im Kontrast zur Konfliktpolitik, die Russland gegenüber Georgien und seinen abtrünnigen Landesteilen praktiziert. Dort unterstützt es Abchasien und Südossetien politisch und militärisch gegen Georgien und nutzt dies als Hebel gegen die Ausrichtung des Landes nach Westen.
Dabei steht Russland in einem Vertragsverhältnis strategischer Partnerschaft mit Armenien und unterhält dort eine Militärbasis. Russische Kommentatoren äußerten aber schon vor der neuerlichen Eskalation Kritik an der Konfliktrhetorik des strategischen Partners Armenien. So tadelte Außenminister Lawrow auf dem Treffen des Valdai-Klubs in Sotschi im Oktober 2019 Aussagen wie »Karabach ist Armenien« und verglich dies mit der Äußerung des albanischen Premierministers, Kosovo sei Albanien. Diese Rhetorik trage nicht dazu bei, eine Atmosphäre für die Wiederaufnahme des politischen Prozesses zu schaffen.
In Armenien dagegen wuchs die Skepsis, dass man sich in einer militärischen Auseinandersetzung mit Aserbaidschan auf seine »Verbündeten« verlassen könne, also auf Russland und die von ihm geleitete Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS), der Armenien als einziger Staat im Südkaukasus angehört. Zudem hat sich nach dem Machtwechsel von 2018 das politische Verhältnis zwischen Armenien und Russland abgekühlt, auch wenn sich beide weiterhin zu ihrer strategischen Partnerschaft bekennen. Diese Bekundung bedeutet aber nicht, dass sich Russland von Aserbaidschan distanziert. Gerade in den letzten zwei Jahren war Moskau bemüht, Baku für eine Annäherung an die Eurasische Wirtschaftsgemeinschaft zu gewinnen.
Die Türkei hingegen unterstützt Aserbaidschan im Konflikt mit Armenien. Ihre Beziehung zu Aserbaidschan folgt der Parole »Eine Nation, zwei Staaten«, steht das Land ihr doch unter den postsowjetischen Staaten mit turkstämmiger Titularnation am nächsten. Dagegen ist das Verhältnis Armeniens zur Türkei historisch zutiefst gestört – vor allem wegen des Genozids, der 1915 im ausgehenden Osmanischen Reich an der armenischen Volksgruppe begangen wurde. 2010 schlossen Ankara und Baku ein Abkommen über strategische Kooperation und gegenseitige Unterstützung. Es gab gemeinsame Militärmanöver, zudem Solidaritätsbekundungen für Aserbaidschan aus Ankara bei Gewaltzwischenfällen im Umfeld des Karabach-Konflikts, wie im April 2016.
Allerdings kam Zweifel daran auf, dass sich die Türkei an einem regelrechten Krieg auf der Seite ihres »Bruderlandes« beteiligen würde. Im Kontext der Konflikteskalation vom Juli 2020 waren aus Ankara gleichwohl Aussagen zu vernehmen, die in diese Richtung deuteten. Am 29. Juli wurden im Rahmen des Abkommens über militärische Zusammenarbeit die bislang größten gemeinsamen Militärübungen in aserbaidschanischen Landesteilen eingeleitet, so in Baku, Nachitschewan, Ganja und Kurdamir. An den dreizehntägigen Manövern von Artillerie und Luftverteidigung beteiligten sich laut aserbaidschanischen Medien bis zu 11 000 Soldaten aus der Türkei. Diese Zahl wurde offiziell jedoch nicht bestätigt. Aus dem armenischen Verteidigungsministerium hieß es, gemeinsam mit Russland werde man die türkisch-aserbaidschanischen Militäraktivitäten mit allen zur Verfügung stehenden Aufklärungsmitteln überwachen und analysieren. Baku beschwerte sich darüber, dass Armenien und Russland gemeinsame Luftverteidigungsübungen abgehalten hätten. Laut der russischen Nachrichtenagentur Interfax führte das in Armenien stationierte russische Militär während der Eskalationsphase gemeinsame Übungen mit dem armenischen Militär durch, an denen 1 500 russische Soldaten, MiG-29-Kampfflugzeuge, Hubschrauber und Kampfdrohnen beteiligt waren.
Drohte also doch ein Stellvertreterkrieg? Am 27. Juli führten Putin und Erdoğan ein Telefongespräch, bei dem der russische Präsident betonte, »wie wichtig es ist, Schritte zu verhindern, die zu einer Eskalation der Spannungen führen könnten«. In den folgenden Wochen blieben die russischen Kommentare in staatlichen Medien zur Türkei eher zurückhaltend, auch bei international höchst umstrittenen Themen wie Ankaras Erdgaspolitik im östlichen Mittelmeer. Russland ist derzeit mit anderen Problemen beschäftigt. Dazu gehört die Protestwelle im eigenen Fernen Osten und im Nachbarland Belarus.
Die angeblich neutrale Politik Moskaus gegenüber den Konfliktparteien Armenien und Aserbaidschan hat in den letzten Jahren allerdings zu erheblicher Aufrüstung in beiden Ländern beigetragen. Russland spielt die äußerst fragwürdige Doppelrolle eines Hauptmediators in dem Konflikt und zugleich des größten Waffenlieferanten beider Konfliktparteien und begründet dies mit »Balancewahrung«. Der strategische Partner Armenien bezieht russische Waffen zum Vorzugspreis, Aserbaidschan zum Marktpreis. Auch andere Drittstaaten hatten ihren Anteil an der Aufrüstung in dem Konfliktfeld. Israel wurde nach Russland zum zweitgrößten Waffenlieferanten für Aserbaidschan, wofür das Empfängerland Kritik aus dem islamischen Ausland erntete. 2016 hatte Baku langfristige Verträge mit Israel zum Kauf militärischer Güter im Wert von 5 Milliarden US-Dollar geschlossen. Aserbaidschan seinerseits beklagte sich über eine Waffenlieferung Serbiens an Armenien kurz vor dem Ausbruch der neuerlichen Eskalation. Aus Belgrad kam die Antwort, Serbien habe in den letzten Jahren Waffen an beide Staaten verkauft, dabei an Aserbaidschan zehnmal mehr als an Armenien.
So entstand im Umfeld des ungelösten Karabach-Konflikts ein erschreckendes Ausmaß an Militarisierung. Im Globalen Militarisierungsindex des Bonner Internationalen Zentrums für Konversion (BICC), das Militärausgaben in Relation zur Bevölkerungs- und Wirtschaftsgröße eines Landes misst, rangieren Armenien und Aserbaidschan unter den ersten zehn. In absoluten Zahlen hat Aserbaidschan, der südkaukasische Staat mit der höchsten Bevölkerungszahl und der größten Wirtschaft, mehr in die Aufrüstung investieren können als Armenien. Bakus Militäretat übersteigt längst Armeniens gesamten Staatshaushalt. Armenien reagiert auf diese materielle Überlegenheit des Gegners mit verstärkter militärischer Mobilisierung. Ende August 2020 forderte das armenische Verteidigungsministerium in einem Gesetzesentwurf, eine landesweite Miliz aufzustellen, in der Freiwillige – Männer und Frauen unter 70 Jahren – neue Hilfstruppen bilden. Diese könnten auch an »gefährdeten Grenzabschnitten« eingesetzt werden.
Ausblick
Eine weitere Eskalation des militärischen Gewaltzwischenfalls vom Juli 2020 blieb zunächst aus. Im August hatte sich die internationale Aufmerksamkeit bereits weitgehend auf andere Themen gerichtet, wie die Entwicklung in Belarus und die verschärfte politische Krise zwischen Europa und Russland wegen des Giftanschlags auf den Oppositionsführer Nawalny. Doch der Vorfall an der armenisch-aserbaidschanischen Staatsgrenze hat die internationale Gemeinschaft abermals davor gewarnt, sich darauf zu verlassen, dass der über drei Jahrzehnte alte zwischenstaatliche Konflikt im Status eines »frozen conflict« verharrt. Zwar halten die meisten Analysten einen geplanten Krieg (»intentional war«) nicht für wahrscheinlich. Dennoch kann ein »war by accident« durch eine aus dem Ruder laufende Eskalation eines Gewaltzwischenfalls nicht ausgeschlossen werden. Ein solcher Krieg würde heute auf einem weit höheren militärischen Niveau ausgetragen als der Karabach-Krieg von 1992 bis 1994 und würde den gesamten Südkaukasus erschüttern. Deshalb kamen vor allem aus Georgien besorgte Kommentare über die neuen Gewaltzwischenfälle unweit seiner eigenen Staatsgrenze zu den beiden Nachbarländern.
Auch wenn die Aussicht auf eine friedliche Lösung des Karabach-Konflikts erneut in Frage gestellt wurde, sollten sich die Mediationsbemühungen nicht darauf beschränken, die Gefahr einer militärischen Eskalation einzudämmen. Nicht lange vor dem erneuten Schusswechsel wurden auf beiden Konfliktseiten Signale gesetzt, auf welche die internationale Politik zurückgreifen sollte. Das gilt etwa für die Ansage, die eigene Bevölkerung auf Kompromisse vorbereiten zu wollen, humanitäre Kontakte zwischen den strikt voneinander getrennten Gesellschaften Berg-Karabachs und Aserbaidschans zu ermöglichen, die eigene Bevölkerung besser über die Konfliktmediation zu informieren und zivilgesellschaftliche Gruppen stärker in letztere einzubeziehen.
Dr. Uwe Halbach ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien.
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ISSN 1611-6364
doi: 10.18449/2020A71