Der Regierungswechsel in Italien bietet die Chance, die Krise der EU im Umgang mit irregulärer Migration gemeinsam mit Rom zu entschärfen. Doch die Zeit drängt, meint Raphael Bossong.
Kurz gesagt, 30.08.2019 ForschungsgebieteRaphael Bossong
Der Regierungswechsel in Italien bietet die Chance, die Krise der EU im Umgang mit irregulärer Migration gemeinsam mit Rom zu entschärfen. Doch die Zeit drängt, meint Raphael Bossong.
Die neue italienische Regierung steht, und es gibt Anlass zu der Hoffnung, dass die Koalition von Partito Democratico und Fünf-Sterne-Bewegung auch arbeitsfähig sein wird: Zum einen bleibt der parteilose Giuseppe Conte, der sich als besonnen und pragmatisch agierender Staatsmann profiliert hat, Premierminister. Zum anderen konnten sich die Koalitionspartner auf zentrale Vorhaben verständigen, bei denen es um mehr geht als nur darum, eine Machtübernahme durch die Lega zu verhindern.
Zeitgleich bleibt die Situation bei der irregulären Migration angespannt: Mit der Einigung auf die neue Koalition verweigerte die scheidende italienische Regierung die Einfahrt eines weiteren privaten Rettungsschiffes – dieses Mal die Eleonore aus Deutschland. Wie in den vergangenen Monaten wird sich tagelanges Ringen um das Schicksal der Geflüchteten anschließen.
Derweil drängen die Türkei und weitere Anrainerstaaten darauf, dass syrische Flüchtlinge in ihre Heimat zurückkehren, ungeachtet der sich zuspitzenden Lage in Idlib. Die Kämpfe in Libyen halten an, Algerien wie Tunesien befinden sich in einer politischen Umbruchphase. Niemand kann vorhersagen, wann und wo erneute Flucht- und Migrationsbewegungen nach Europa ausgelöst werden könnten.
Moralische Appelle, dass Europa seine Flüchtlingspolitik ändern müsse, führen in der aktuellen Lage nicht weiter. Ebenso wenig werden Konzepte zur legalen Migration oder Fluchtursachenbekämpfung schnell mit Leben gefüllt werden. Vielmehr gilt es, die politische Krise im Umgang mit der irregulären Migration zu entschärfen. Drei Gründe sprechen dafür, hierfür das Zeitfenster bis zum Herbst zu nutzen.
Erstens bietet der Regierungswechsel in Italien die Chance, Rom mit an den Tisch zu bekommen. Die Partito Democratico hat einen radikalen Kurswechsel in der Migrationspolitik in Aussicht gestellt. Damit ist die Kuh allerdings noch nicht vom Eis: Die 5-Sterne-Bewegung bleibt größte Fraktion und wird nicht ohne Weiteres alle Maßnahmen Salvinis revidieren, die sie noch vor kurzem mitgetragen hat. Andere EU-Staaten müssen deshalb zügig klare Angebote machen, wie die Öffnung der italienischen Häfen mit einer verlässlichen Verteilung von Bootsflüchtlingen einhergehen kann. In diesem Sinne sollte alles darangesetzt werden, das für den 19. September angesetzte informelle Treffen einiger europäischer Innenminister zur freiwilligen Lastenteilung zu einem Ergebnis zu führen. Dabei darf die Zahl der Mitgliedstaaten, die sich beteiligen wollen, nicht zur Voraussetzung einer Einigung werden. Vielmehr gilt es, durch eine Verständigung zwischen Deutschland, Frankreich und Italien ein Signal zu setzen, dem sich andere anschließen können.
Ein zweiter Grund, schnell Nägel mit Köpfen zu machen, ist die Situation in Griechenland und Spanien. In diesen Staaten kommen schon seit 2018 die meisten irregulär Schutzsuchenden an, daher müssen sie bei allen Reformen in der europäischen Flüchtlingspolitik soweit wie möglich eingebunden werden. Deutschland hat seinen Dialog mit der neuen konservativen Regierung in Griechenland bereits intensiviert, um Veränderungen auf den Inseln und eine Beschleunigung der Asylverfahren zu erreichen. Die wachsende Unsicherheit von Flüchtlingen in der Türkei droht die Lage in Griechenland weiter zu verschlechtern. Parallel dazu befindet sich Spanien in anhaltenden politischen Turbulenzen. Die sozialdemokratische Regierung schwenkte zwar in den vergangenen Monaten auf einen deutlich härteren Kurs bei der Aufnahme von Schutzsuchenden um. Sie stand dennoch wiederholt für humanitäre Lösungen und europäische Politikansätze zur Verfügung. Wenn es Pedro Sanchez allerdings bis zum 23. September nicht gelingen sollte, eine stabile Regierungskoalition zu formen, stehen bereits im November Neuwahlen an. Damit würde ein weiterer zentraler Partner Deutschlands für Monate ausfallen.
Drittens gilt es, die neue Europäische Kommission nicht unmittelbar ins Leere laufen zu lassen. Ursula von der Leyens Versprechen, einen »Neustart« in der Europäischen Asylpolitik zu ermöglichen, wird ohne weitere Unterstützung nicht verfangen. Viktor Orban wird seine Fundamentalopposition gegen eine europäische Verteilung von Flüchtlingen im Rahmen der Dublin-Verordnung nicht aufgeben. Erst Ende Juli sprach er sich vielmehr dafür aus, der EU-Kommission alle Kompetenzen über die Migrationspolitik zu entziehen. Alle EU-Institutionen werden ihre Kräfte darauf konzentrieren müssen, das bestehende Flüchtlingsrecht und die Rechtsstaatlichkeit in Europa zu verteidigen. In den kommenden Wochen sollten Deutschland und Frankreich deshalb Impulse setzen, die über die freiwillige Lastenteilung hinausgehen; Ziel sollte es sein, aus langjährigen Blockade und den gegenseitigen Schuldzuweisungen in der Flüchtlingspolitik auszubrechen. So könnten sie sich für den Erhalt der staatlichen Seenotrettung einsetzen und ein baldiges Ende der Binnengrenzkontrollen in Aussicht stellen.
Schon am 30. September läuft das Mandat der EU-Mission Sophia aus. Die Mission ist schon seit Frühjahr nicht mehr mit Schiffen auf dem Mittelmeer unterwegs, sondern beobachtet nur noch aus der Luft. Dieser Zustand ist nicht haltbar. Die EU sollte Klarheit schaffen und sich entweder offen dazu bekennen, dass sie die Seenotrettung nicht staatlich organisieren will – oder sich über einen neuen politischen Rahmen verständigen. Das könnte eine reformierte EU-Mission zur Seenotrettung mit einem geschärften Mandat oder eine systematische europäische Unterstützung für die Arbeit der Küstenwachen sein.
Im November sollten dann die verbleibenden Binnengrenzkontrollen in der Schengenzone eingestellt werden. Sie liefern keinen realen sicherheitspolitischen Nutzen, belasten aber die Beziehungen zwischen Frankreich und Italien sowie mit weiteren südeuropäischen Ländern. In Österreich ist die rechtspopulistische FPÖ aus der Regierung ausgetreten und wird bei den vorgezogenen Neuwahlen Ende September voraussichtlich weiter geschwächt werden. Das sollte eine Aufhebung der Binnengrenzkontrollen erleichtern. Ob Schweden, Dänemark und Norwegen diesem Schritt unmittelbar folgen könnten, ist aus gesamteuropäischer Sicht nicht entscheidend. Wünschenswert wäre es.
Rechtsstaatliche Defizite überwinden
doi:10.18449/2019S19
In der Migrationspolitik agiert die EU im Krisenmodus und setzt vor allem auf Abschottung – zu Unrecht, wie David Kipp und Melanie Müller darlegen. Sie nennen vier Umstände, die in einer sachlichen Debatte über eine nachhaltige Migrationspolitik eine Rolle spielen sollten.
Binnengrenzkontrollen als Herausforderung für die EU und die nordischen Staaten
Der deutsche »Asylkompromiss« kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass es kein »abgestimmtes« europäisches Vorgehen gibt. Raphael Bossong nennt vier Handlungsfelder, in denen die EU auf dem Weg zu einer sachlichen Asylpolitik Fortschritte machen muss.