Tausende Brasilianer haben bei Demonstrationen harte Strafen für die Krawalle am vergangenen Sonntag gefordert, als Anhänger des Ex-Präsidenten Bolsonaro Regierungsgebäude gestürmt hatten. Doch mit der Aufarbeitung allein ist es nicht getan, meint Günther Maihold.
Nach dem Sturm radikaler Anhänger des abgewählten Präsidenten Jair Bolsonaro auf das Regierungsviertel in Brasília sind Unterstützer von Präsident Luiz Inácio »Lula« da Silva auf die Straße gegangen. Die Demonstranten fordern »keine Amnestie und kein Verzeihen«. Doch die Strafverfolgung der Bolsonaro-Anhänger kann nur ein Teil der Strategie zur Aufarbeitung der jüngsten Ereignisse sein. Präsident Lula muss weitere Schritte wagen, um sein Land wieder zusammenzuführen.
Die Frage lautet, ob Brasilien vor einem Prozess der weiteren Erosion seiner demokratischen Ordnung steht, nicht weil – wie unter Bolsonaro – aus dem Präsidentenamt heraus die Legitimität der zentralen Institutionen des Landes unterminiert wurde, sondern weil sich große Teile der Bevölkerung abwenden und aus den demokratischen Prozessen ausgeschlossen fühlen. Entscheidend dafür wird sein, ob Lula eine neue Grundlage für ein friedliches Zusammenleben in Brasilien finden und so die Logik des »Wir gegen sie«, den Dauerzustand politischer Mobilisierung und Gegenmobilisierung auflösen kann. Eine akute Herausforderung ist dabei der Einfluss des »Bolsonarismo« auf die Streitkräfte. Lula muss die Loyalität der Sicherheitsorgane zum Präsidenten sicherstellen. Auch könnten die Ereignisse der vergangenen Tage in Teilen der Bevölkerung auf noch vehementere Ablehnung seiner Person als bisher stoßen.
Die Brücke der Verständigung der beiden Lager ist im Getöse des vergangenen Wahlkampfes vollends eingestürzt. Nun kommt es darauf an, die expansive Tendenz der Polarisierung von der Welt der Politik auf den Bereich der alltäglichen sozialen Beziehungen zu unterbrechen. Mit der bei seiner Amtseinführung verkündeten Versöhnungsinitiative hat Lula sicherlich den richtigen Ton gesetzt. Nach dem Angriff auf den Kongress, den Obersten Gerichtshof und den Regierungssitz ist aber zunächst Aufklärung und Strafverfolgung angesagt, was dem erklärten Ziel der Annäherung zuwiderläuft. Es steht zu befürchten, dass die jüngsten Ereignisse keine einzelne Episode bleiben, wenn die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen keinen Weg finden, um wieder in den Austausch zu treten.
Konkrete Schritte für diesen Weg der Rückführung der Polarisierung sind politische Kompromissbereitschaft und Aufbau des Vertrauens in die öffentlichen Institutionen. Dafür muss Lula die Vorteile der Diversität jener Koalition nutzen, die ihn ins Präsidentenamt getragen hat, indem Dialogbereitschaft und -angebote eben nicht an seine Person gebunden sind, sondern von einer Vielzahl anderer gesellschaftlicher und politischer Akteure vorgetragen werden. Das erfordert vom Präsidenten, seinen Mitstreitern mehr politischen Raum einzuräumen – sei es im Parlament, in dem die Bolsonaro-Anhänger die Mehrheit stellen, oder in der brasilianischen Gesellschaft. Flankiert werden muss dies mit effektiven staatlichen Leistungen im sozialpolitischen Bereich wie auch der Sicherheit, insbesondere in den Großstädten. Allerdings steht Lula hier vor dem Problem, dass die öffentlichen Kassen aufgrund der Wahlkampfgeschenke seines Amtsvorgängers leer sind. Daher muss er mit den Gouverneuren und dem Parlament umgehend Finanzierungsmodelle aufsetzen, um die Bürgerinnen und Bürger zu entlasten und ihr Gefühl von Sicherheit zu stärken – jenseits dem von Bolsonaro propagierten Recht auf Selbstverteidigung und damit Waffenbesitz.
Der Euphorie nach dem von Lulas Anhängern so gefeierten Amtsantritt am 1. Januar 2023 ist nur wenige Tage später jäh gebremst worden. Die Verteidigung der brasilianischen Demokratie ist an die erste Stelle der politischen Tagesordnung gerückt. Der Präsident und seine Regierung müssen die Polarisierung durch konkrete politische Maßnahmen überwinden. Sollten sich Tendenzen gegenseitiger Ausgrenzung in den nachbarschaftlichen Beziehungen oder sozialen Medien weiter verstetigen und konkurrierende Wertevorstellungen in einem Personenkult manifestieren, ist eine Umkehr nur schwer möglich. Lula hat einige Mittel in der Hand, um sein Land mit Unterstützung einer breiten Koalition und internationalen Partner aus der schwierigen Lage zu manövrieren. Das erfordert aber mehr als die umfassende Aufklärung der Hintergründe des Aufruhrs und die Rückgewinnung nationaler Symbole, wie etwa das gelbe Trikot der »Seleção«, mit dem die Bolsonaristas auch bei den Krawallen ihre Unterstützung zeigten. Gefragt sind konkrete Schritte, die das Zusammenleben wieder möglich machen.
Chancen deutscher Außenpolitik mit einem traditionellen Partner
doi:10.18449/2022A81
Bedingungsfaktoren und Implikationen
doi:10.18449/2022S07