Während in Chicago Harmonie demonstriert wurde, türmen sich hinter den Kulissen der Nato die Konflikte, meinen Marco Overhaus und Michael Paul.
Kurz gesagt, 24.05.2012 ForschungsgebieteMarco Overhaus
Michael Paul
Während in Chicago Harmonie demonstriert wurde, türmen sich hinter den Kulissen der Nato die Konflikte über das weitere Vorgehen in Afghanistan auf, meinen Marco Overhaus und Michael Paul.
In Chicago haben die versammelten Staats- und Regierungschefs den Fahrplan für die Übergabe der Sicherheitsverantwortung an die afghanische Polizei und Armee bekräftigt. Wie bereits 2010 in Kabul und Lissabon beschlossen, soll die "Transition" bis Ende 2014 abgeschlossen sein. Dann soll die ISAF-Mission in ihrer jetzigen Form beendet und in eine Ausbildungsmission für die Nationalen Afghanischen Sicherheitskräfte (ANSF) überführt werden. Darüber hinaus bekräftigten die Nato und ihre Partner den Willen, sich nach 2014 auch längerfristig für die Sicherheit Afghanistans zu engagieren. Hierbei geht es nicht zuletzt um die heikle Frage der mittel- und langfristigen Finanzierung der ANSF. Denn in absehbarer Zukunft wird Afghanistan nicht in der Lage sein, seine Polizei und Armee aus dem eigenen Staatshaushalt zu bezahlen.
Die finanziellen Realitäten werden eine signifikante Reduzierung des Umfangs der ANSF erzwingen. Nachdem diese mit viel Mühe aufgebaut worden sind und bald 352.000 Personen umfassen, gehen afghanische Regierung und Nato für die Zeit nach 2014 von einer Zielgröße von nur noch 228.500 Personen aus. Die USA und andere internationale Geber bekräftigten in Chicago ihren Willen, für die kommenden Jahre einen Großteil der Kosten für den Unterhalt dieser Truppe zu tragen. Dabei werden die Kosten auf jährlich 4,1 Mrd. US-Dollar geschätzt. Die neue Zielgröße für die ANSF soll regelmäßig überprüft und den sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen in Afghanistan angepasst werden.
Ermüdung und Frust in den Hauptstädten
Jenseits der in Chicago zelebrierten Einigkeit knarrt es im Bündnis an allen Ecken und Enden. Innenpolitisch lässt sich der Afghanistan-Einsatz in den ISAF-Ländern immer weniger vermitteln, denn Afghanistan ist schon längst kein Gewinner-Thema mehr. Der Frust über ein kostspieliges Dauer-Engagement, das, so die allgemeine Wahrnehmung, nur bescheidene Ergebnisse zeitigt, trifft dabei auf einen generellen Bedeutungsverlust sicherheits- und verteidigungspolitischer Fragen. Die Finanz- und Staatsschuldenkrise hat die politische Aufmerksamkeit auf wirtschaftliche und innenpolitische Herausforderungen gelenkt.
Bemerkenswerterweise haben die USA Anfang 2012 selbst den Stein eines frühzeitigen Rückzugs ins Rollen gebracht, als Verteidigungsminister Leon Panetta das Jahr 2013 für das Ende des amerikanischen Kampfeinsatzes in die Debatte einführte, ohne Rücksicht auf die vorherigen Absprachen im Bündnis zu nehmen. Der französische Präsidentschaftskandidat François Hollande überbot sogar den damals noch amtierenden Präsidenten Nicolas Sarkozy mit seinen Forderungen nach einer Beschleunigung des Abzugsplans für die französischen Kampftruppen aus Afghanistan. Von der im Wahlkampf genannten Zielmarke - Ende 2012 - wollte Hollande nun auch als amtierender Präsident in Chicago nicht abweichen, um den Preis eines Konflikts mit den Bündnispartnern.
Einen zu offensichtlichen Wettlauf in Richtung Ausgang - rush to the exit - konnte die Nato in Chicago zwar vermeiden. Dennoch ist offensichtlich, dass der Fahrplan zur Übergabe der Sicherheitsverantwortung mittlerweile ausschließlich von innenpolitischen Erwägungen bestimmt wird, nicht, wie eigentlich vorgesehen, von den tatsächlichen Entwicklungen in Afghanistan. Vor diesem Hintergrund ist es fraglich, ob der geplante Abbau der ANSF auf 228.500 Personen tatsächlich, wie in der in Chicago verabschiedeten Erklärung zu Afghanistan festgehalten, verantwortlich und in Abhängigkeit vom sicherheitspolitischen Umfeld in dem Land vonstattengehen wird.
Das Erreichte steht auf der Kippe
Betrachtet man Afghanistan etwas zynisch aus einer reinen Kosten-Nutzen-Perspektive, dann geht es um eine klassische Investitionsentscheidung. Ein übereilter und ausschließlich von innenpolitischen Faktoren determinierter Abzug würde das bisher Erreichte gefährden. Gleichzeitig aber macht es keinen Sinn, noch mehr Menschenleben, Geld und politisches Kapital in ein "gescheitertes Projekt" zu investieren. Abgesehen davon, dass dies in der Tat eine zynische Sicht der Dinge ist, gilt es, zwei wesentliche Aspekte im Blick zu behalten.
Erstens sind die Entwicklungen in Afghanistan nicht mehr so düster, wie es noch vor kurzem schien. So hat sich die Sicherheitslage in der jüngsten Vergangenheit verbessert, die Anzahl der Anschläge geht in der Tendenz zurück. Den afghanischen Sicherheitskräften wird selbst von kritischen Beobachtern ein Zugewinn an Professionalität attestiert. Ob damit bereits eine "Trendwende" bei der Sicherheitslage erreicht ist, wie führende Nato-Militärs immer wieder betonen, ist indes nicht sicher.
Zweitens verfolgen die "internationale Gemeinschaft" im Allgemeinen und die Nato-Partner im Besonderen erst seit relativ kurzer Zeit den seit langem propagierten "umfassenden Ansatz" in Afghanistan. So wird die so wichtige Schnittstelle zwischen Polizei und afghanischer Justiz erst seit knapp zwei Jahren wieder stärker in den Blick genommen. Während Amerikaner und Europäer jahrelang jeweils inkompatible Ansätze zum Aufbau der afghanischen Polizei - paramilitärische versus zivile Ausrichtung - verfolgt haben, haben sie sich mit der afghanischen Seite erst in jüngster Zeit auf einen vielversprechenderen "Mittelweg" verständigt.
Erfolge dieser und andere Ansätze zeichnen sich ab, sind angesichts des kurzen Zeitraums jedoch keineswegs gefestigt. Aus diesem Grund sollten die Transition bis 2014, die internationale Unterstützung danach sowie schließlich die langfristige Personalstärke der ANSF in verantwortlicher Weise gestaltet werden, also mit Blick auf die tatsächlichen Entwicklungen in Afghanistan. Dieses Ziel haben die Staats- und Regierungschefs in Chicago zumindest deklaratorisch festgehalten.
Der Text ist auch bei Tagesspiegel.de erschienen.
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