Der Austritt des Vereinigten Königreichs (VK) und die Aussicht, dass ein unabhängiges Schottland in die EU strebt, werfen für die EU grundsätzliche Fragen zu ihrer künftigen Größe und Geographie sowie ihrer inneren Verfasstheit auf. Traditionell hängt die deutsche Europapolitik der Auffassung an, dass Erweiterung und Vertiefung zwei Seiten einer Medaille sind. In der Brüsseler Wirklichkeit jedoch konnten die Integrationsfortschritte mit dem Tempo der Erweiterung nach Osten nicht Schritt halten. Seit dem mit Ach und Krach zustande gekommenen Vertrag von Lissabon 2009 schwebt über jeder tiefgreifenden Reform und besonders einer Vertragsrevision das Damoklesschwert der Einstimmigkeit und damit des Scheiterns. Die Schottlandfrage kann die Erweiterungspolitik aus ihrem Halbschlaf wecken und die EU anspornen, sich durch innere Reformen nicht nur für ein neues 28. Mitglied, sondern eine EU-34 zu rüsten.
Die EU definiert sich als offene Gemeinschaft europäischer Staaten und ist auf Erweiterung qua Vertrag (Art. 49 EUV), Entwicklungsgeschichte (sieben Erweiterungsrunden) und politische Ambition (Globale Strategie) programmiert. Allerdings bröckelt der Erweiterungskonsens, vor allem bei den Regierungen mancher Mitgliedstaaten. In Finnland, Frankreich, den Niederlanden oder auch Deutschland spricht sich eine Mehrheit der Bevölkerung regelmäßig dagegen aus, die Erweiterung fortzusetzen.
Der »erneuerte Konsens über die Erweiterung« von 2006 steht im Kontext der frühzeitigen Aufnahme Bulgariens und Rumäniens 2007. In diesem Dokument akzentuiert die EU drei Prinzipien (»drei K«) ihrer Erweiterungspolitik. Erstens strebt die EU eine geographische Konsolidierung an, weil sie ihrerseits keine neuen politischen Verpflichtungen gegenüber europäischen Staaten eingehen will. Das war vor allem ein Signal an die Länder der Östlichen Partnerschaft. Zweitens betont sie die strikte Konditionalität zur Erfüllung der Kopenhagener Beitrittskriterien, um keine Abstriche an der Beitrittsreife der Kandidaten mehr zu machen. Drittens will sie die Kommunikation verstärken, weil die Unterstützung durch die Bevölkerung verlorengeht. Die drei K haben seitdem nichts an Relevanz verloren. 2020 hat die EU auf französischen Druck hin noch einmal an der Methodologie der Beitrittsverhandlungen gefeilt. Gegensätzliche Positionen und Prioritäten unter den 27 Mitgliedstaaten bestehen jedoch fort. Die Kontraste gründen weniger in Aspekten der Erweiterungspolitik als der Frage nach Integrationskraft und strategischer Ausrichtung der EU.
Aktuelle und potentielle Bewerber
Alle sechs Bewerberländer aus dem Westlichen Balkan sind von einem Beitritt weit entfernt. Im Lichte geöffneter Beitrittskapitel liegt Montenegro vorne, gefolgt von Serbien. Mit Nordmazedonien und Albanien sollen Verhandlungen bald beginnen. Bosnien-Herzegowina und das von fünf Ländern der EU nicht anerkannte Kosovo verharren im Status potentieller Kandidaten. Anders als im Fall der Türkei wird für alle das Ziel der Mitgliedschaft nicht in Frage gestellt. Die sechs Länder stecken in einem Teufelskreis von schlechter Regierungsführung und wirtschaftlich-sozialer Dauermisere. Wie bei anderen Heranführungsprozessen sind sie zwar faktisch durch Personenmobilität und Handel stark in die EU integriert. Als Drittstaaten bleiben ihnen jedoch Sitz und Stimme in den EU-Institutionen verwehrt. Zwischenlösungen oder Alternativen zur Mitgliedschaft der Westbalkanländer hat die EU nie verfolgt und so ihre eigene Abhängigkeit vom Erweiterungspfad zementiert. Es ist nicht damit zu rechnen, dass vor 2030 ein oder mehrere Beitritte möglich sein werden. Vor allem sicherheits- und geopolitische Gründe führt die EU für eine Aufnahme der Westbalkanstaaten an. Die Beitrittsperspektive ist ein Pazifizierungsinstrument, um die inner- und zwischenstaatlichen Konflikte abzubauen oder gar zu lösen. Die Doppelbindung des Balkans an EU und Nato soll den Einfluss des Westens gegenüber Russland, aber auch China und der Türkei sichern. Für die EU-Bevölkerung werden diese Argumente allenfalls greifbar, wenn sich viele Flüchtlinge über die Balkanroute Richtung EU auf den Weg machen.
Die 2005 begonnenen Beitrittsverhandlungen mit der Türkei sind zwar auf Eis gelegt, aber nicht offiziell beendet. Angesichts der innenpolitischen Entwicklung der Türkei zum autoritären Präsidialregime und der Militarisierung ihrer Außenpolitik werden für die EU Alternativen zum Erweiterungspfad immer wichtiger. Auch wenn Erdoğan mitunter auf den Beitrittsanspruch der Türkei pocht, enthält die positive Agenda der EU vom Dezember 2020 Hinweise darauf, dass ein Alternativangebot als Rahmen für die Beziehungen ins Zentrum rückt: der Ausbau der Zollunion (und die ja weiterhin bestehende Assoziierung). Auf dieser Basis könnte eine umfassende Partnerschaft entwickelt werden. Damit wäre die Türkei der erste Fall, in dem Beitrittsverhandlungen nicht zu Ende geführt würden, weil die EU nicht mehr davon überzeugt ist, dass der Kandidat in die EU passt. Island hatte seinerseits 2013 die Verhandlungen und seinen Antrag auf Mitgliedschaft ruhen lassen. Norwegen hat den Beitrittsvertrag von 1994 nicht ratifiziert. Beide könnten es sich aber wieder anders überlegen.
Schottland auf der Überholspur
Die erklärte Absicht der schottischen Regierung, einen Beitrittsantrag nach Brüssel zu schicken, sobald das Land ein unabhängiger Staat geworden ist, verlängert die Liste der Aspiranten. Für die EU, die kein Interesse an einer Fragmentierung des Vereinigten Königreichs hat, ist entscheidend, dass Schottlands Austritt aus dem Königreich verfassungsgemäß mit Zustimmung Westminsters verläuft. Dann könnte ein unabhängiges Schottland das neue 28. Mitglied werden, wäre also auf der Überholspur.
Schottland wäre gewiss ein Lichtblick für die Erweiterungspolitik, denn zum einen erfüllt es prima facie die Kopenhagener Kriterien, ähnlich wie Finnland, Schweden und Österreich bei der sogenannten EFTA-Erweiterung 1995. Zum anderen dürfte es in der EU eine Grundsympathie für die Aufnahme Schottlands geben, schon weil dort eine Mehrheit gegen den Brexit gestimmt hat. Die schottische Regierungschefin Sturgeon pflegt das Narrativ des Wiederbeitritts (rejoining the EU) und der Heimkehr (coming home). Sie kann aber nicht erwarten, dass sich die EU politisch-moralisch verpflichtet fühlt, Schottland als Sonderfall zu behandeln.
Schottland müsste das normale Beitrittsverfahren nach Artikel 49 EUV absolvieren. Künftige Verhandlungen stellten die EU vor mindestens zwei neue Herausforderungen. Eine davon wäre die Dreierkonstellation zwischen der EU, dem restlichen VK und Schottland. Noch während dieses seine Unabhängigkeit vorbereitet, baut die EU die neue Partnerschaft mit dem VK auf. Sie soll so umfangreich und substantiell wie möglich gestaltet werden. Das bilaterale Freihandelsabkommen von 2020 ist nur der Ausgangspunkt. Die EU wird sicherstellen wollen, dass in allen Phasen, die Schottland durchlaufen wird – vor und nach der Unabhängigkeit und vor und nach dem Beitritt zur EU – keine negativen Auswirkungen für die Beziehungen zwischen Brüssel und London entstehen. Jedoch wird sich die EU nicht in die Trennungsgespräche zwischen London und Edinburgh hineinziehen lassen wollen. Zugleich wird sie signalisieren, dass die Bedingungen, unter denen sich Schottland vom VK löst, mit den künftigen Mitgliedschaftsverpflichtungen kompatibel sein sollten. In der Dreierkonstellation ist Schottland der schwächste Akteur, weil es von London und (später) von Brüssel etwas will. Die EU wird nur dann grünes Licht für die Aufnahme von Verhandlungen geben können, wenn es keine losen Enden oder gravierende Dispute zwischen London und Edinburgh mehr gibt. Die Verhandlungen werden umso kürzer sein, je früher sie beginnen, also je näher Schottland am Acquis der EU bleibt. Drei bis vier Jahre wären wohl bei glattem Verlauf zu veranschlagen, wie es etwa bei Finnland der Fall war.
Zudem sähe sich die EU einer zweiten Herausforderung gegenüber: Auch wenn sie an ihrem Prinzip der vollen Acquis-Übernahme durch Neue festhält und daher keine dauerhaften Ausnahmen (opt-outs) zulassen will, werden wohl Übergangsregelungen in Kernbereichen nötig: für Schengen, weil Schottland der Common Travel Area mit Irland und dem Rest des VK angehören will, für den Warenverkehr mit England und Wales sowie für die Teilnahme an allen Stufen der Währungsunion, wobei ein unabhängiges Schottland (zunächst) keine eigene Währung hätte. Gibt die EU darauf nicht nur Standardantworten, wird sie die politikfeldspezifische Binnendifferenzierung weiter verstärken. Das cherry picking durch Beitrittsländer wird sie aber abwehren.
Die EU sollte damit rechnen, dass ein unabhängiges und international anerkanntes Schottland bis etwa 2025 einen Beitrittsantrag stellt. Schottland könnte das erlahmte politische Interesse an der Erweiterung in der EU wieder beleben. Das mag indirekt auch den Ländern des Westbalkans nützen.
Integrationsdynamik und EU-34
Das vierte Kopenhagener Kriterium besagt, dass die EU durch die Erweiterung nicht an Integrationsdynamik verlieren darf. Der französische Präsident Macron hat 2020 beim Dissens über die Eröffnung von Beitrittsverhandlungen mit Skopje und Tirana klargemacht, dass der nächsten Erweiterung Reformen vorangehen müssen. Gedacht als Weckruf an die EU, zeigte seine Intervention aber keine Wirkung. Gewiss verleitet der offene Zeitplan für die Erweiterung zum Aufschieben. Vor allem aber hat die EU keinen Kompass für Reformen und scheut den Streit über gegensätzliche Positionen, etwa über ein Kerneuropa.
Es liegt auf der Hand, dass jegliche Entscheidungsfindung im Kreis von 34 und mehr Ländern noch schwieriger wird. Die wirtschaftlichen und regionalen Disparitäten und die Zahl der Nettoempfänger nehmen zu. Der Bedarf an Umverteilungsmechanismen wächst, aber die Kapazitäten zur politischen Verständigung wachsen nicht mit. Mit jeder Erweiterung seit 1995 ist die Zahl jener Mitgliedstaaten gestiegen, die eher eine souveränitätsorientierte als eine integrationsfreudige Europastrategie in der EU verfolgen. Zu Hause haben sie es mit einem hohen Anteil an EU-skeptischen und nationalistischen Wahlbürgern und Parteien zu tun. Das begrenzt die Spielräume dieser Regierungen im Rat und Europäischen Rat. Zudem hängt die Kompromissfähigkeit stark von der nationalen politischen Kultur ab.
EU-34 hieße, dass die Union um relativ kleine Länder erweitert wird. Schottland (5,4 Mio.) und die sechs Westbalkanländer haben zusammen 23,2 Millionen Einwohner, mit einem Anteil von nur 4,9% an der Gesamtbevölkerung der EU-34. Die vier größten Länder Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien kämen auf 54,7%, mit Polen auf 62,8%. Ein Beitritt der Türkei mit einer Bevölkerungszahl von 82 Millionen bedeutete eine ganz andere Dimension und wird hier außer Betracht gelassen. Das Europäische Parlament (EP) hat vorsorglich 46 Sitze für neue Mitglieder reserviert. Bei Fortschreibung jetziger Länderkontingente entfielen allein auf Schottland 14 Sitze. Ohne Reform ließe sich die Obergrenze von 751 Sitzen im EP in der EU-34 nicht halten. Trotz des formal geringen Gewichts können die Neuen durch aktive Politik und Koalitionsbildung oder aber, wo es die Regeln erlauben, durch ihr Veto realen Einfluss ausüben. Die Geographie wird sich im Innern und nach außen verändern. Mit dem Beitritt der Westbalkanstaaten erhielte der Südosten der EU einen höheren Stellenwert, was durch Schottland im Norden nur gering ausbalanciert würde. Verstärkung bekäme die Gruppe der Nordics, denn Schottland, die skandinavischen Länder und die Balten (vor allem, wenn Schottland der Nato beitritt) sind natürliche Partner. Die Westbalkanländer, die schon heute von EU-Mitgliedern umringt sind, werden nach ihrem Beitritt die Nähe zu den Visegrád-Ländern, Österreich, Kroatien und Slowenien suchen. Ob sich die südöstliche Flanke der EU so stabil und stark entwickelt wie die baltischen Staaten, wird über den Beitritt der Westbalkanländer hinaus eine Sorge bleiben. Während es im Westen kaum noch Länder außerhalb der EU gibt, fordern auch Georgien, die Ukraine und Moldova eine EU-Perspektive. Die oft unterschätzten geopolitischen Implikationen der Erweiterung drängen in den Vordergrund.
Zukunft der EU
Die Aussichten auf eine Stärkung der supranationalen Bausteine der EU werden in einer erweiterten EU nicht besser. In der Außen- und Sicherheitspolitik ist eine Differenzierung und Hierarchisierung unter den Mitgliedstaaten vorstellbar, etwa durch einen EU-Sicherheitsrat (siehe SWP-Studie 2/2019). In ihren Kernpolitiken könnte die EU den Schritt zu Teil- und Juniormitgliedschaften wagen, vor allem mit Blick auf die nächsten (Süd-) Osterweiterungen. Kein neues EU-Mitglied (außer eventuell Norwegen) wird sofort dem Schengenraum ganz beitreten, keines so bald der Eurozone. Die Vertiefung in kleinen Gruppen mit schwachen Bindungen an den Rest wird so faktisch auch ohne Vertragsreformen fortgeschrieben. Wenn Differenzierung die Zukunft ist, aber zugleich die ganze Union zusammengehalten werden soll, müsste das Zentrum gestärkt werden. Um nur einen Ansatzpunkt zu nennen: Die schon im Vertrag von Lissabon vorgesehene Verkleinerung der Kommission könnte deren Arbeit an den Zukunftspolitiken Green Deal und Digitalisierung sowie den Schutz der EU-Außengrenzen effektiver machen. Abträglich wäre dem Zusammenhalt der EU-34 jedoch eine weitere Politisierung der Kommission, ob per Direktwahl des Präsidenten oder per Spitzenkandidatenmodell. Andere konstitutionelle Fragen betreffen ein einheitliches Wahlrecht zum EP, die Reform des Ratssystems, mehr Mehrheitsentscheidungen im Rat und Europäischen Rat, die gemeinsame Verschuldung und wirtschaftspolitische Koordinierung in der Wirtschafts- und Währungsunion. Ferner sollte sich die EU über ihr Wertefundament verständigen, sonst laufen Notbehelfe wie der neue Rechtsstaatsmechanismus ins Leere. Solche Themen gehören in der Perspektive einer EU-34 auf die Agenda der Konferenz zur Zukunft Europas. Die neue Bundesregierung sollte die Debatte über die strategische Ausrichtung der EU wieder aktiver mitgestalten.
Dr. Barbara Lippert ist die Forschungsdirektorin der SWP / Institutsleitung.
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ISSN 1611-6364
doi: 10.18449/2021A07