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IWF-Proteste in Ostafrika: Lehren für Äthiopiens Wirtschaftsreformen

Megatrends Spotlight 39, 24.09.2024

Äthiopien, das mit Unterstützung des Internationalen Währungsfonds (IWF) ehrgeizige Wirtschaftsreformen in Angriff nimmt, steht vor der heiklen Aufgabe, ein Gleichgewicht zwischen Reformen und Stabilität herzustellen. Das Land sollte dabei Lehren aus den jüngsten Unruhen in den Nachbarländern Kenia und Sudan ziehen, wo vom IWF unterstützte Maßnahmen breite Proteste ausgelöst haben, schreibt Dawit Ayele Haylemariam.

Der IWF hat jüngst sein Engagement in Ostafrika intensiviert, einer Region, die mit erheblichen wirtschaftlichen Herausforderungen und politischer Fragilität zu kämpfen hat. Der IWF stellt Ländern, die sich in einer wirtschaftlichen Notlage befinden, häufig finanzielle Unterstützung zur Verfügung, wobei dies in der Regel mit Strukturanpassungsprogrammen verbunden ist. Diese Reformen sind jedoch mit hohen sozialen Kosten verbunden und stoßen daher oft auf öffentlichen Widerstand.  Äthiopiens jüngst vereinbarte Zusammenarbeit mit dem IWF dient als kritische Fallstudie zur Bewertung dieser Risiken. Äthiopien sollte dabei Lehren aus den Ereignissen in Nachbarländern wie Kenia und Sudan ziehen, wo vom IWF unterstützte Reformen zu sozialen Unruhen und politischen Umwälzungen geführt haben.

IWF-Programme haben eine kontroverse Geschichte, insbesondere in Entwicklungsländern, wo sie häufig soziale Unruhen auslösen, die gemeinhin als "IWF-Proteste" bekannt sind. Untersuchungen zeigen vier häufige Auslöser auf: die Streichung von Subventionen für lebenswichtige Güter, Währungsabwertungen, die zu Inflation führen, Sparmaßnahmen und die Privatisierung von Staatsunternehmen. Währungsabwertungen treiben die Inflation in die Höhe und lassen Löhne und Kaufkraft schwinden, während Sparmaßnahmen zu geringeren Sozialleistungen führen und damit die Armut verschärfen. Die Streichung von Subventionen trifft die Armen unverhältnismäßig stark und führt zu Protesten. Andererseits führt die Privatisierung zum Verlust von Arbeitsplätzen, insbesondere in Ländern, in denen der öffentliche Sektor ein wichtiger Arbeitgeber ist, was die soziale Unzufriedenheit weiter anheizt.

Jüngste IWF-Proteste in Ostafrika

Die jüngsten Erfahrungen von Äthiopiens Nachbarn in der Region, nämlich Kenia und Sudan, sind eine warnende Lektion, die es zu beachten gilt. In Kenia wurden mit der Umsetzung des Finanzgesetzes 2024 gemäß einer IWF-Vereinbarung im Januar 2024 neue Steuern auf grundlegende Güter und Dienstleistungen eingeführt. Die öffentliche Empörung und die Wahrnehmung der vom IWF auferlegten Sparmaßnahmen löste Demonstrationen aus, die zahlreiche Opfer forderten und die Wirtschaft erheblich beeinträchtigten. Auslöser der Proteste war die Sorge über die Auswirkungen der neuen Steuern auf die Lebenshaltungskosten, insbesondere für die Armen und andere vulnerable Bevölkerungsgruppen. Nach erheblichem öffentlichem Druck wurde das Gesetz schließlich zurückgezogen, jedoch erst, nachdem 50 Todesopfer und Hunderte von Verletzten zu beklagen waren.

Der Sudan bietet ein weiteres abschreckendes Beispiel. Im Jahr 2021 versammelten sich Hunderte von Demonstrant*innen in der sudanesischen Hauptstadt Khartum und forderten aufgrund umstrittener Wirtschaftsreformen den Rücktritt der Übergangsregierung. Die Regierung setzte die vom IWF empfohlenen Reformen um, darunter die Abschaffung von Subventionen für wichtige Lebensmittel und die Abwertung des sudanesischen Pfunds. Diese Maßnahmen zielten zwar auf eine Stabilisierung der Wirtschaft ab, führten jedoch zu einem starken Anstieg der Lebenshaltungskosten. Sowohl die kenianischen als auch die sudanesischen Erfahrungen verdeutlichen die Gefahren, die mit der Umsetzung von IWF-Reformen ohne angemessene soziale Sicherung und politische Stabilität verbunden sind.

Äthiopiens wirtschaftliche Reformagenda

Die jüngst beschlossenen Wirtschaftsreformen in Äthiopien stellen einen grundlegenden Wandel im Wachstums- und Entwicklungskonzept des Landes dar. Sie markieren eine bedeutende Abkehr von einem historisch restriktiven Wirtschaftsmodell hin zu einem offeneren, marktorientierten Modell. Die Wirtschaftsreformagenda „Homegrown Economic Reform Agenda“ (HGER) und ihre Nachfolgephase, HGER 2.0, zielen darauf ab, lange bestehende Ineffizienzen zu beseitigen, einschließlich des chronischen Devisenmangels, der das Wachstum bremste. Die zweite Phase der Wirtschaftsreform baut auf früheren Bemühungen auf und konzentriert sich auf die Stabilisierung der öffentlichen Finanzen, die Bekämpfung der Verschuldung, die Kontrolle der Inflation und die Steuerung des Geldangebots, um die Grundlage für ein nachhaltiges Wachstum zu schaffen. In der jüngsten geldpolitischen Erklärung der äthiopischen Nationalbank wurden wichtige Maßnahmen zur Förderung von Investitionen des Privatsektors, zur Verbesserung der Handelsleistung und zur Unterstützung kleiner und mittlerer Unternehmen als Motor des Wirtschaftswachstums dargelegt. Schlüsselsektoren wie die Landwirtschaft, die verarbeitende Industrie, der Bergbau, der Tourismus und die digitale Wirtschaft erhalten Priorität. Die Reform zielt darauf ab, den Privatsektor als zentralen Akteur bei der Gestaltung der Wirtschaftslandschaft zu positionieren, während der Staat als Katalysator für Innovation und Wachstum fungieren soll. Darüber hinaus betont HGER 2.0 die Bedeutung der Inflationskontrolle, der Förderung des Unternehmertums und der Optimierung des internationalen Handels und der Investitionen, um Arbeitsplätze zu schaffen und den Lebensstandard für alle Äthiopier*innen zu verbessern.

Mit diesen Reformen strebt Äthiopien eine stärkere Integration in den Weltmarkt an, um den Wettbewerb zu fördern und die Produktivität in den wichtigsten Sektoren zu steigern. Die Reformen bergen jedoch Risiken, darunter Inflation, Wechselkursschwankungen und neue Herausforderungen für Sektoren, die bisher vor Wettbewerb geschützt waren. Es ist erforderlich, dass die äthiopische Regierung bei der Umsetzung dieser Reformen Vorsicht und Sorgfalt walten lässt und sicherstellt, dass sowohl die Vorteile als auch die Anpassungskosten der Reformen angemessen berücksichtigt und verteilt werden.

Riskante Reformen abfedern: Lehren für Äthiopien

Im Zusammenhang mit dem im Juli 2024 genehmigten Vierjahresprogramms in Höhe von 3,4 Mrd. US-Dollar mit dem IWF in Äthiopien ist das Risiko sozialer Unruhen durch mehrere Faktoren erhöht. Diese stimmen mit den Bedingungen überein, die in der Vergangenheit in anderen Ländern zu “IWF-Protesten” geführt haben. Die politische Instabilität des Landes, die anhaltenden regionalen Spannungen und eine bereits hohe Inflationsrate schaffen ein unbeständiges Umfeld, in dem Wirtschaftsreformen leicht falsch interpretiert und/oder von der Öffentlichkeit abgelehnt werden könnten. Äthiopien hat in den letzten Jahren Subventionen schrittweise abgebaut und neue Erhöhungen der Gebühren für öffentliche Dienstleistungen vorgeschlagen. Beides dürfte die Kosten für lebenswichtige Güter in die Höhe treiben, was die ärmsten Bevölkerungsschichten direkt treffen und möglicherweise soziale Unruhen auslösen könnte, wie sie in Kenia und im Sudan zu beobachten waren. Die fragile politische Landschaft Äthiopiens verschärft diese Risiken noch, da regionale Spannungen und politische Fragmentierung den Widerstand der Bevölkerung gegen Reformen noch verstärken könnten, die als von außen auferlegt wahrgenommen werden können.

In Äthiopien hat der IWF Zugeständnisse gemacht, um der Notwendigkeit einer vorübergehenden Flexibilität zur Abfederung der Auswirkungen der Reformen Rechnung zu tragen. Abweichend von den üblichen IWF-Programmen wurde der äthiopischen Regierung Spielraum eingeräumt, um ihr Haushaltsdefizit zu erhöhen, die wichtigsten Rohstoffpreise zu stabilisieren und die Programme zur sozialen Sicherung zu verbessern. Die Regierung  hat einen Zusatzhaushalt in Höhe von 5 Mrd. US-Dollar angekündigt, um Preisstabilität zu gewährleisten und soziale Sicherungssystem auszubauen. So sind beispielsweise die Kraftstoffpreise trotz der Abwertung des Birr unverändert geblieben. Darüber hinaus kündigte die Regierung Gehaltserhöhungen für Beamte mit niedrigem Einkommen bei gleichzeitiger Ausweitung der Sozialschutzprogramme im Rahmen des „Productive Safety Net Program“ an. Diese Maßnahmen haben zusammen mit der finanziellen Unterstützung durch den IWF und die Weltbank zur Aufrechterhaltung der Währungsreserven dazu beigetragen, einige unmittelbare Risiken zu mindern. 

Es sind jedoch weitere Maßnahmen erforderlich, um Unruhen zu verhindern und sicherzustellen, dass die Vorteile der Reformen allen zugutekommen. Zu diesen Maßnahmen gehören die Gewährleistung von Stabilität und Frieden im ganzen Land, um zusätzliche Investitionen anzuziehen, und die Schaffung von Möglichkeiten für unternehmerische Initiativen, um junge Menschen in die Lage zu versetzen, Unternehmen zu gründen. 

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Äthiopien weiterhin die sozialen Sicherheitsnetze stärken, lokale Unternehmen unterstützen und den Dialog mit den Beteiligten suchen muss, um die komplexen Herausforderungen der wirtschaftlichen Liberalisierung zu bewältigen. Wenn Äthiopien aus den Erfahrungen seiner Nachbarn lernt und die Liberalisierung sorgfältig mit dem Schutz vulnerabler Gruppen in Einklang bringt, kann es diese Herausforderungen meistern und sich für ein nachhaltiges, inklusives Wachstum positionieren, ohne dass es zu sozialen Unruhen kommt, wie sie in Nachbarländern mit ähnlichen Reformen aufgetreten sind.

Dawit Ayele Haylemariam ist geschäftsführender Partner von Growth Capital Analytics in Addis Abeba/Äthiopien und unter dawit.ayele@growthcapitalanalytics.com zu erreichen.